Die Querelen spielten sich vor beeindruckender Gebirgskulisse ab. Wie jedes Jahr kamen auf Einladung der Federal Reserve Bank Koryphäen aus 40 Ländern in Jackson Hole, Wyoming, am Fusse des Grand Teton zusammen, um der Weltwirtschaft den Puls zu fühlen. Doch in diesem August war alles anders. Streit herrschte in den Reihen der Nationalbanker und Spitzenökonomen. Es ging um die Frage, wie schnell die US-Wirtschaft gesunden würde. Harvard-Professor Martin Feldstein etwa stellte eine düstere Prognose. «Die Chancen stehen eins zu drei, dass die US-Wirtschaft erneut in eine Rezession abgleitet», sagte er. Support erhielt Feldstein von Ken Thomas, Dozent an der Wharton Business School: «Bernanke schafft es nicht mehr, einen Rückfall zu verhindern.»

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Feldstein und Thomas sprachen nur aus, was viele Akteure rund um den Globus befürchten: dass die US-Wirtschaft ein zweites Mal abstürzt und die Welt mit ins Verderben reisst. Entsprechend gross ist die Hektik in den Märkten. Die Börsen spielen schon seit Monaten verrückt. Das Auf und Ab der Kurse hat zum Teil schwindelerregende Ausmasse angenommen. Immer mehr Investoren setzen sich ratlos an die Seitenlinie und werden zu Beobachtern eines Geschehens, das sie kaum mehr begreifen.

Die Stimmung ist schlecht. Sogar Ben Bernanke, Chef der US-Notenbank Federal Reserve, bezeichnete die Aussichten für die US-Konjunktur im Juli als «ungewöhnlich unsicher». Die Konjunktur ziehe zwar an, meinte er, aber die hohe Arbeitslosigkeit und der schlechte Zustand des Immobilienmarktes lasteten noch immer auf den Konsumenten. Es sei noch ein beachtlicher Weg bis zur vollständigen Erholung. In der Tat ist die Arbeitslosigkeit in den USA mit 9,5 Prozent anhaltend hoch, neue Jobs sind in letzter Zeit praktisch keine geschaffen worden. Kredite sind auch nur schwer zu haben. Der Immobilienmarkt hat sich gemäss neusten Zahlen nochmals verschlechtert. Im Juli wurden weniger Häuser verkauft denn je. Die Konsumenten befinden sich zwar nicht mehr im Käuferstreik, die Zahlen sind jedoch nicht berauschend. Auch die Exporte und Investitionen sind bloss ein schwacher Lichtblick.

Bernanke signalisiert indessen, dass er nicht untätig bleiben werde und neue Liquiditäts-Infusionen in petto habe. Er bekräftigte dies auch am letzten Augustwochenende in Jackson Hole vor den aus 40 Ländern angereisten Notenbankchefs und Spitzenökonomen. Dennoch gewinnen die Pessimisten der Finanzmärkte zunehmend die Oberhand. Für sie ist die Double-Dip-Rezession bereits ausgemachte Sache. Und der Bondmarkt scheint ihnen recht zu geben. «Die generell tiefen Renditen für Staatsanleihen weltweit signalisieren eine Rezession», sagen Experten. Die Frage sei nur: Wie schlimm wird der Abschwung? «Der Kapitalmarkt», sagt auch ZKB-Ökonom David Marmet, «hat den W-Verlauf der Konjunktur schon eingepreist.» Historische Zeitreihen zeigten, dass die Renditen noch nie so tief gewesen seien. Am 25.  August stand die Rendite der zehnjährigen Bundesobligation bei gerade noch 1,11 Prozent (siehe Grafik «Immer tiefer» im Anhang).

US-Finanzminister Timothy Geithner lässt sich von den derzeit hyperventilierenden Märkten nicht beirren. Für ihn ist die Sachlage klar: «Die Rezession in Amerika ist vorbei.» Die Wirtschaft lege wieder mit soliden Raten zu. Verhalten optimistisch sind auch die Analysten der US-Investmentbank Morgan Stanley. Man werde keinen Double Dip sehen, eine Abschwächung im zweiten Semester sei in ihrem Szenario indessen eingebaut. Morgan Stanley geht von einer Triple-B-Erholung aus, was Folgendes heisst: bumpy, below par, brittle – holprig, unterdurchschnittlich, brüchig.

Solides Wachstum. Unterdurchschnittliches Wachstum, brüchige Erholung? Für den Internationalen Währungsfonds (IWF) kann davon keine Rede sein. Anfang Juli, mitten in den grössten Marktturbulenzen und den wildesten Spekulationen um den globalen Konjunkturverlauf, korrigierte er seine Prognose nach oben. Danach dürfte die Weltwirtschaft in diesem Jahr um 4,6 Prozent wachsen. Es war bereits die zweite Korrektur in diesem Jahr. Im kommenden Jahr dürfte die Weltwirtschaft gemäss IWF um 4,3 Prozent wachsen.

Die neusten US-Zahlen sind denn auch nicht so schlecht, wie viele Beobachter insinuieren. Die US-Wirtschaft wächst seit einem Jahr wieder – im zweiten Quartal annualisiert um 1,6 Prozent, nach 3,7 Prozent im Vorquartal. In diesem Jahr dürften die USA laut Fed-Chef Bernankes Einschätzung moderat, im nächsten Jahr beschleunigt wachsen. Der IWF wiederum rechnet mit einem Jahreswachstum von 3,3 Prozent – eine Prognose, die wohl eher im oberen Bereich liegen dürfte. Aber selbst die Ökonomen der Privatbank Sarasin, die seit Monaten eher auf der vorsichtigen Seite taxieren, rechnen damit, dass die USA in diesem und im kommenden Jahr leicht wachsen. «Wir gehen nicht von einem Rückfall in die Rezession aus, auch wenn die Risiken in den letzten Wochen deutlich gestiegen sind», sagt Chefökonom Jan Poser.

Fest steht indes, dass die globale Konjunktur weit auseinanderdriftet. «Es gibt dazu keine Pauschalfeststellungen mehr», sagt Janwillem Acket, Chefökonom der Bank Julius Bär, «wir haben weltweit gleichzeitig alles – Boom, Stagnation und Rezession.» Japan sei in der Deflation gefangen und komme nicht mehr heraus, obwohl die Notenbank das System seit Jahren mit Geld flute. Alle Ankurbelungsmassnahmen sind verpufft. Im zweiten Quartal ist das BIP gegenüber dem Vorquartal noch um 0,1 Prozent gewachsen. Japan droht in der Depression zu versinken.

Europa stottert. «Auch die Erholung in Europa ist nicht nachhaltig», sagt Sarasin-Ökonom Poser. Im Gegensatz zu den USA oder etwa China ist der Lagerzyklus zwar noch nicht abgeschlossen, aber Europa folgt der globalen Abschwächung mit einer Verzögerung von drei bis sechs Monaten. Und die Konjunkturentwicklung in Europa erweist sich als in besonderem Masse disparat. Deutschlands Exporte boomen und treiben die Konjunktur an, das hoch verschuldete Italien stagniert, und Spanien verharrt in der von der Immobilienblase ausgelösten Krise. Immerhin ist der Ifo-Wirtschaftsklima-Indikator für den Euroraum im dritten Quartal erneut gestiegen. «Die konjunkturelle Erholung wird sich in der zweiten Jahreshälfte fortsetzen», schreiben die Ifo-Auguren.

Starke Schwellenländer. Für eine dicke Überraschung sorgte Deutschland, als die Zahlen zum zweiten Quartal publiziert wurden. Das BIP ist um 2,2 Prozent hochgeschossen, übers ganze Jahr gesehen dürfte eine Drei vor dem Komma stehen. «Davon profitiert direkt auch die Schweiz», sagt Bär-Ökonom Acket. Die Exporte, so die neusten Prognosen für das nördliche Nachbarland, dürften in diesem Jahr um 11 Prozent und 2011 um 8 Prozent wachsen. Dazu kommt, dass auch der Konsum angezogen hat. Die Deutschen haben im zweiten Quartal erstmals wieder mehr Geld ausgegeben. Saisonbereinigt ist der Privatkonsum 0,6 Prozent gestiegen. Der Vorwurf, dass Deutschland nur exportiere und nicht konsumiere, dürfte vorerst vom Tisch sein.

China boomt wieder mit Wachstumsraten von 9 bis 11 Prozent. Aber auch andere Schwellenländer legen ein rasantes Tempo vor. Indien wächst mit 8 Prozent ganz schön, Mexiko, Indonesien und Brasilien legen 5 bis 7 Prozent zu. Die Schwellenländer sind definitiv zu den Wachstumsmotoren der Weltwirtschaft geworden. Sie stehen schon jetzt für 50 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. «Bis zum Jahr 2010 dürften es 66 Prozent sein», schätzt Thomas Mayer, Chefökonom der Deutschen Bank. China hat Japan mittlerweile als zweitgrösste Volkswirtschaft abgelöst. Das Reich der Mitte bedroht nun gar die Führungsrolle der USA. Seit 2000 hat China 22 Prozent zum globalen Wachstum beigetragen, die USA dagegen nur 17 Prozent. Die Schwellenländer vorab in Asien kompensieren die Abflachung des Wachstumstrends in den USA.

Inwieweit sich das Wachstum in den aufstrebenden Ländern selbst verflacht, ist umstritten. Gemäss dem vorlaufenden Indikator CLI der OECD befinden sich Indien und China bereits in der Abschwungphase, während Brasilien den Peak eben erreicht hat. «In diesen Ländern», so wenden die Analysten ein, «beginnt jetzt die Binnenkonjunktur zu greifen.» Eine immer grössere Mittelschicht will an den neusten Errungenschaften der Konsumkultur teilhaben. Zudem sind in der jüngsten Vergangenheit gerade in China die Löhne gestiegen. Kein Wunder, verzeichnen die deutschen Luxusmarken wie Audi, BMW oder Mercedes boomende Verkäufe in Peking, Shanghai und in anderen Grossstädten der Volksrepublik. Der Abschwung in Asien dürfte, wenn überhaupt spürbar, sehr moderat ausfallen.

«Die Beruhigung der Weltkonjunktur hat Konsequenzen für die Schweiz», sagt KOF-Chef Jan-Egbert Sturm, «die Abschwächung dürfte sich allerdings in Grenzen halten.» Alle Indikatoren hätten sich erfreulich entwickelt. Die Wirtschaft wächst, von den Exporten getrieben, im Moment eher mit 3 als mit 2 Prozent. Die Gewinnprognosen sind intakt, die Ausrüstungsinvestitionen haben stark angezogen, der Privatkonsum lag im ersten Quartal bei plus 2,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr, und die Arbeitslosenzahlen sinken rapide. Im Gegenzug steigt die Beschäftigung laut KOF seit Dezember wieder an – im zweiten Quartal, von April bis Juni, gar deutlich.

Konjunkturelle Delle. Auch die vorlaufenden Konjunkturdaten zeigen keinen Abschwung. Das KOF-Barometer bildete sich im August zwar leicht zurück, eine konjunkturelle Schwächeneigung ist aber nicht auszumachen. «Das Wachstum der Schweizer Volkswirtschaft», schreibt die KOF, «wird sich daher in den nächsten Monaten fortsetzen.» Der Einkaufsmanager-Index PMI der Credit Suisse ist gar auf ein Allzeithoch gestiegen und liegt bei 66,9 Zählern (siehe Grafik «Auf dem Höchststand» im Anhang). Ein Wert über 50 signalisiert eine Expansion der Industrieproduktion. Ein ebenso positives Bild widerspiegelt der Konsumindikator der UBS. Nach seinem Tiefpunkt im dritten Quartal 2009 ist er permanent gestiegen. Er liegt nun mit einem Wert von 1,86 wieder über dem Stand von Juli 2008 – als der grosse Absturz begann (siehe Grafik «Stetig nach oben» im Anhang).

Die Schweizer Wirtschaft wird auch 2011 solide, aber nicht fulminant wachsen. Diese Aussage entspricht einem Konsens unter den Schweizer Prognostikern – von KOF bis ZKB. «Wir werden im zweiten Semester eine konjunkturelle Delle haben, die sich bis ins Jahr 2011 hinzieht», sagt Daniel Kalt, Leiter volkswirtschaftliche Analyse UBS Wealth Management Research. Die Schweiz sei halt doch von den USA und Europa abhängig. Dass es einen Taucher geben wird, scheint sicher. Wie tief er sein wird, ist weit weniger klar. Die Credit Suisse geht fürs Jahr 2011 davon aus, dass die Wirtschaft 1,2 Prozent zulegt, während Julius Bär und UBS mit 1,8 und 2,1 Prozent recht optimistisch sind. UBS-Ökonom Kalt sagt: «Wir halten an dieser optimistischen Prognose fest.»

Mit einer Rezession muss niemand rechnen. Dazu ist die Schweiz, selbst wenn die USA wider Erwarten abschmieren sollten, zu gut positioniert. Die gedämpften Aussichten für die Schweizer Exporte in Länder mit schwachem Wachstum wie die USA, Italien, Frankreich oder Spanien dürften durch die Exportlokomotiven wie Deutschland, China oder Brasilien kompensiert werden. Der Handel mit den Schwellenländern wächst zum Teil gar in zweistelligen Dimensionen. Die Schweiz hat ihre Exportstrukturen in den letzten Jahren markant optimiert. Weniger USA und Europa, mehr Asien, Lateinamerika und Afrika. Dennoch ist die Abhängigkeit vom Euro offensichtlich. Über 50 Prozent der Schweizer Ausfuhren gehen in den Euroraum – ein Klumpenrisiko, das nicht wegzudiskutieren ist.

«Die Schweiz hat ein kleines Problem», sagt Sarasin-Ökonom Poser, «aber sie hat eines.» Sie ist so eng wie kaum ein anderes Land mit der Weltwirtschaft verbandelt – mit direktem Übertragungsmechanismus bis in die kleinste Firma hinein. Das könnte gefährlich werden. Denn die Folgen der verheerenden Finanzkrise sind bei weitem nicht beseitigt. Die Sanierung des internationalen Bankensystems ist nicht abgeschlossen, auch wenn die Geldinstitute in den USA schon 82 Prozent ihrer Verluste abgeschrieben haben. Zudem lasten die Schulden- und die Eurokrise noch immer auf den Märkten. Die Zentralbanken haben mit einer weltumspannenden Nullzins-Politik ihr Pulver weitgehend verschossen. Da kann selbst ein unbedeutendes Ereignis an den Finanzmärkten wieder einen Sturm auslösen. Mit einer fatalen Rückkoppelung auf die Weltkonjunktur.