Wenn Neapolitaner von der Camorra sprechen, dann reden sie vom «System». Wer einem Clan angehört, sagt etwa: «Ich gehöre zum System von Secondigliano.» Der Begriff ist in Kampanien jedermann geläufig. Von «Camorra» reden nur Staatsanwälte und Journalisten - darüber können die Beteiligten nur lachen, schildert Roberto Saviano in seinem Buch «Gomorrha».

Am 5. Juli 2004 erliess ein Untersuchungsrichter Neapels gegen 72 Personen des «Systems» einen Haftbefehl, das Dokument war knapp 900 Seiten dick. Zu jenem Zeitpunkt hatte das «System» längst die Grenzen überschritten und streckte seine Fühler auch in die Schweiz aus, in den Kanton Luzern.

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Perfekte Fälschung besser als das Original

Die Clans von Secondigliano beherrschten das gesamte Textilgewerbe in und um Neapel. Die Camorra hatte auch die meisten Zweige der Schuh- und Lederindustrie unter ihren Einfluss gebracht. So konnten die Clans Hemden, Jacken oder Schuhe herstellen, die haargenau so aussahen, wie Modelle der grossen Modemarken Mailands. Und diese kooperierten, sie kauften bei der Mafia ein, denn die Materialien waren exakt die gleichen. Auch die Machart war identisch, denn als Angestellte beschäftigten die Mafiosi Arbeitskräfte, die jahrzehntelang für die Haute Couture tätig gewesen waren.

Italienische Justizbehörden stellten fest: «Der Clan hat ungeheure Geldsummen angesammelt, weil er sich scheinbar respektabler Einzelhändler bediente, die in Wirklichkeit ein ganzes Finanznetz bildeten.» Die Clans von Secondigliano wurden von der Familie der Licciardi angeführt, sie war der Kopf der so genannten «Allianz aus Secondigliano», ihr Capo hiess Vincenzo Licciardi - im Jahr 2008 wurde er verhaftet.

Proteste blieben aus

Die Allianz liess nicht nur für Versace und Co. produzieren, sie verkaufte ihre «echten» Fälschungen gleich selbst. Während einer Razzia am Rande Neapels fanden die Behörden eine Druckvorlage für das Gorgonenhaupt von Versace - so stellten die Clans sicher, dass die Markenetiketten untadelig waren. Den Produkten fehlte damit nur noch der letzte Schliff, die Autorisierung durch das Modehaus. Die Autorisierung gaben sich die Clans gleich selbst - und sie erweiterten den Markt: Die Camorra-Firmen stellten auch Kleidergrössen her, welche die Modelabels aus Image-Gründen offiziell gar nicht erst verkauften.

Die grossen italienischen Modemarken protestierten gegen das Geschäft mit den Fälschungen erst, als die Antimafia-Kommission den Mechanismus aufgedeckt hatte. Vorher gab es keine Anti-Piratierie-Kampagne, keine Anzeigen, keine Klagen in der Presse über diesen parallelen Markt.

Auch in der Schweiz ist die Fälschung von Mode bisher im Gegensatz zu Musik- und Uhren-Piraterie kein grosses Thema - mit Lacoste ist nur ein Kleiderhändler im Verband «Stop Piracy» vertreten, bestätigte ein Sprecher gegenüber handelszeitung.ch. Immerhin: Bei «Stop Piracy» steht eine Fallstudie zu gefälschten Lacoste-Kleidern zum Download bereit.

Das «Direktorium» denkt und lenkt

Die Spitzen der Allianz von Secondigliano kümmerten sich in einem Ausschuss, dem «Direktorium», um die Investitionen und die Rückführung der Profite durch Geldwäscherei - pro Jahr brachte die Modeschiene jeder Clan-Familie etwa 300 Millionen Euro ein.

Am unteren Ende der Vertriebswege standen die kleinen Geschäfte auf der ganzen Welt, die ihre Ware an fliegende Händler, auch «Magliari» genannt, weitergaben. So bauten die Clans von Secondigliano ein weltumspannendes Vertriebsnetz für ihre «echten» Fälschungen auf.

Investitionen rund um den Globus

Die Ermittlungen der Antimafia-Einheit in Neapel brachten das ganze Ausmass des Wirtschaftsimperiums ans Licht: Ein Boss von Secondigliano war in Chemnitz in einem Modegeschäft pro Forma angestellt. Aber nicht nur in Deutschland waren die Mafiosi in diversen Städten aktiv, auch in Spanien, Belgien, den Niederlanden, Portugal, Grossbritannien, Irland, Dänemark, Finnland, Kroatien, Serbien, Tschechien und Österreich schlugen sie ihre Zelte auf. Europa war nicht genug. In Australien, Kanada und den USA wurde ebenfalls kräftig investiert, der Jeans-Markt in Florida war praktisch ganz in den Händen der Secondiglianesen.

Wegen den billigen Preisen der «echten» Fälschungen italienischer Haute Couture wollten die Geschäfteinhaber bevorzugt bei den Mafiosi einkaufen. In Secondigliano wusste man, dass der amerikanische Markt von Produkten des Direktoriums beherrscht war, darum zogen junge Leute in Scharen in die USA, um dort als Handelsvertreter zu arbeiten. Angelockt wurden sie durch den Erfolg der Jeans der Firma «Vip Moda», die in Geschäften von Texas als Valentino-Jeans auslagen.

Bei Kleidern blieb es jedoch beileibe nicht. Auch Handwerker-Geräte von Bosch und Hilti sowie Haushaltsgeräte vertrieben die Neapolitaner - alles minderwertige Fälschungen aus China zum Schnäppchen-Preis. Vielfach wurden die gleichen Handelsrouten auch für den Drogenhandel benutzt, stellten die italienischen Ermittler fest.

Kleider für die Schweiz direkt vom Boss

Im «Direktorium» sass auch Ciro Bernardi, der Inhaber des erwähnten Kleiderherstellers «Vip Moda», der in der Umgebung Neapels Modelle von Valentino, Ferré, Versace und Armani fälschte und sie dann an die globalen Zweigstellen verschickte. «Vip Moda» hatte auch in die Schweiz Verbindungen. Im Oktober 2001 gründete der Italiener P. die PM Collection GmbH. Firmenzweck: Kleiderhandel, Vermögensverwaltung, Lizenzgeschäfte, Beteiligungen, Vertretungen, Immobiliengeschäfte.

Diese Firma wurde nicht in Bar gegründet sondern durch Sacheinlagen in Form von Rechnungen für Lederkleider, synthetische Kleider und Sportjacken. Wie die Quittungen der in Chiasso verzollten Ware im Wert von 132'855'000 Lire (102'298.35 Franken) zeigen, stammten die Kleider von Firmen wie «Gretapel» von Vincenzo Pernice oder der «Vip Moda» von Ciro Bernardi. Die Akten liegen handelszeitung.ch vor (siehe Bildergalerie).

Vip-Moda-Inhaber Ciro Bernardi ist ein Camorra-Boss der Allianz von Secondigliano. Seine Lederjacken waren nicht nur in Kanada der letzte Schrei - dort gingen sie, verziert mit dem typischen Versace-V, für 500 Dollar über den Ladentisch. Die Herstellungskosten pro Stück betrugen gerade mal 15 Euro.

Auch «Gretapel» gehörte zur Camorra-Allianz. Die Konten der «Vip Moda» wurden von den Justizbehörden ebenso beschlagnahmt, wie jene der «Gretapel», deren Inhaber Vincenzo Pernice ist ein Schwager von «Allianz von Secondigliano»-Boss Vincenzo Licciardi.

«Ein richtiges Durcheinander»

P. besass an gleicher Adresse wie die PM Collection seit 1992 auch noch die Niki Line AG, die ebenfalls durch Sacheinlagen in Form von Damen- und Herrenkleidern sowie Schuhen gegründet wurde. In der Niki Line kündigte der zuständige Revisor auf Ende 2003 «nach reiflicher Überlegung» sein Mandat. Gegenüber handelszeitung.ch meinte er: «Man hat mir immer nur die Hälfte gesagt.» Und weiter: «Das war das erste Mal, dass ich eine Buchhaltung sah, bei der ich nicht wusste, ob ein Gewinn oder ein Verlust resultiert. Ich wollte das nicht mehr machen.»

Zur gleichen Zeit trat auch der Verwaltungsratspräsident zurück. Er meinte: «Wir bekamen jeweils kistenweise Belege, es war ein richtiges Durcheinander, die Buchhaltung stimmte hinten und vorne nicht.»

Der italienische Politiker und Journalist Francesco Forgione, der jahrelang in der Anti-Mafia-Kommission unter der Regierung Prodis sass und ihr von 2006 bis 2008 vorstand, bezeichnet diese Aktivitäten so: In Luzern agierten «Personen, die mit dem Licciardi-Clan aus Secondigliano bei Neapel in Verbindung stehen. Sie treten für den Clan als Geschäftsführer verschiedener Bekleidungsgeschäfte auf, in denen gefälschte Markenprodukte verkauft werden. Zum Beispiel leitet P. die Geschäfte Niki Line AG und PM Collection GmbH.» Forgione brachte seine Erkenntnisse Ende 2011 im 340-Seiten starken Buch «Mafia Export» zu Papier.

«Er lügt! Ich werde ihn verklagen»

P. sieht die Sache ganz anders und meint zu den Vorwürfen Forgiones: «Er lügt! Ich werde ihn verklagen.» Er sei in Italien in allen Punkten freigesprochen worden, sagte P. Er habe wegen Forgione schon oft Probleme gehabt, auch mit Interpol-Beamten, die hätten ihn überwacht, sagte P. handelszeitung.ch. Weiter meinte er: «Erst als mich die Polizei über die Überwachung informierte, habe ich gewusst, dass ich Probleme in Italien habe.» Mit der Mafia habe er nichts zu tun. «Ich kaufe auf der ganzen Welt Kleider ein: Neapel, China.»

Er lebe nun seit über 30 Jahren in der Schweiz und hätte noch nie Probleme gehabt. «Ich bin keinen einzigen Tag im Gefängnis gesessen», beteuerte er. Auch habe sich Forgione auf keine Kontaktaufnahme gemeldet. Und gesprochen habe er vor der Buchveröffentlichung ebenfalls nie mit ihm.