Die Meldung, die am Freitag, 12. März, Punkt 7 Uhr 55 aus dem Fax kam, war nur drei Zeilen lang. Doch sie hatte zur Folge, dass kurz darauf an den Börsen zwei Pharmakonzerne um Milliarden neu bewertet wurden.

Novartis aus Basel verlor innert Stunden über hundert Millionen Franken an Wert. Aventis aus Strassburg hingegen hatte am Ende des hektischen Börsentages über zwei Milliarden Euro zugelegt.

Daniel Vasella, der Mann, der mit seiner Meldung den Börsensturm ausgelöst hat, sitzt just an diesem Morgen an einem runden Konferenztisch mit Blick auf den nebelverhangenen Zugersee. Von Nervosität ist bei ihm nichts zu spüren. «Da haben wir doch überhaupt nichts Neues gesagt», sagt er ruhig und rührt in seinem Milchkaffee.

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Novartis hat in zwei Sätzen eine Anfrage der französischen Börsenaufsicht AMF beantwortet und bestätigt, dass Novartis «die Machbarkeit einer Verbindung mit Aventis» prüfe. Eine Entscheidung sei aber noch nicht gefallen. Dasselbe hat Vasella schon in Interviews mit der französischen und der schweizerischen Presse gesagt. Aber der offizielle Anstrich der Verlautbarung gab dem Ganzen eine andere Dimension: Die Börsen schätzen die Wahrscheinlichkeit eines Zusammengehens von Novartis und Aventis seither noch höher ein.

Aventis-Übernahme
Kampf der Alphatiere


Ins Gerangel um die Übernahme von Aventis sind mächtige Figuren der Schweizer Wirtschaft involviert. Die Fronten verlaufen entlang bekannter Gräben.


Zwei Kontrahenten rangeln sich


um die gleiche Beute. Novartis aus Basel und Sanofi aus Paris sind beide hinter Aventis aus Strassburg her. Nicht gleichgültig kann der Ausgang des Rennens um Aventis aber auch zwei mächtigen Herren in Vevey sein: Rainer E. Gut und Peter Brabeck.


Gut ist Präsident, Brabeck CEO des Nahrungsmittelmultis Nestlé. Und Nestlé ist mittels ihres Schwesterunternehmens L’Oréal massgeblich an Sanofi beteiligt.


Den Schweizern gehören 26,4 Prozent des französischen Kosmetikkonzerns L’Oréal. Sowohl Rainer E. Gut wie Peter Brabeck sitzen seit Jahren im Verwaltungsrat von L’Oréal. Die beiden Firmen sind durch eine Aktionärsbindungsvertrag, der jüngst modifiziert wurde, eng miteinander verbunden. L’Oréal wiederum ist mit 27 Prozent der Stimmrechte Grossaktionär von Sanofi und zusammen mit dem zweiten Grossaktionär, Total-Elf, die bestimmende Kraft beim Pariser Pharmakonzern. Gut und Brabeck müssen als Verwaltungsräte von L’Oréal persönlich über die Fusion mitentscheiden. Nestlé will sich offiziell zur Fusionsfrage nicht äussern.


Novartis-Chef Daniel Vasella stehen damit zum Teil jene Gegenspieler gegenüber, mit denen er es schon beim Gerangel um den Lokalrivalen Roche zu tun bekommen hat.


Novartis ist mit 33 Prozent an Roche beteiligt und will eine Fusion. Die vor drei Jahren gestarteten Annäherungsversuche wurden vom Roche-Verwaltungsrat unisono abgelehnt. Im Verwaltungsrat von Roche hat Nestlé-CEO Peter Brabeck Einsitz und gilt dort als der starke Mann.


Zwischen Vasella und Brabeck, deren Firmen die Gewinnkönige in der Schweiz sind, soll es eine subtile persönliche Rivalität geben. Brabeck versteht sich sehr gut mit dem Roche-Präsidenten und Vasella-Erzfeind Franz Humer, der wie er Österreicher ist. Brabeck und Humer kennen sich schon seit jenen Tagen, als sie zusammen im Beirat für die früheren österreichischen Bundeskanzler Franz Vranitzky und Viktor Klima Einsitz hatten.


Mit dem zweiten Nestlé-Topmanager, Rainer E. Gut, soll es Vasella verscherzt haben, als er sich Ende der Neunzigerjahre bei dessen Vorschlag für einen Holocaust-Deal quer legte und unterschiedliche Vorstellungen über den Grad der finanziellen Einbindung der Industrie kundtat. Gut soll ihm dies als Illoyalität ausgelegt haben.


Auch Gut ist persönlich eng mit wichtigen Roche-Repräsentanten verbunden. Der langjährige Roche-Vizepräsident Rolf Hänggi soll an der kommenden Generalversammlung neu in den Verwaltungsrat von Nestlé gewählt werden. Für die Nestlé-Roche-Seilschaft ist Vasella von
Anfang an ein Aussenseiter gewesen.


Auch bei der von beiden Seiten umworbenen Braut gibt es interessante personelle Konstellationen. Verwaltungsratspräsident von Aventis ist nämlich ein Mann, der in der Schweiz ebenfalls gut bekannt ist:


Jürgen Dormann, Präsident des Schweizer Technologiegiganten ABB.


Jürgen Dormann selber hat sich bisher zwar nicht dazu geäussert, ob er persönlich Novartis oder Sanofi vorzieht. Die Präferenz des Konzerns ist aber spätestens klar, seit sich Aventis-Vize Jean-René Fourtou kürzlich in einem Interview mit «Finanz und Wirtschaft» klar für Vasella ausgesprochen hat. Gegen Sanofi hat sich auch Aventis-Grossaktionär Kuwait Petroleum ausgesprochen. Die Scheichs halten 13,5 Prozent an Aventis.

Was die Anleger von einer Fusion zwischen Novartis und Aventis halten, zeigen sie deutlich: gar nichts. Die Novartis-Aktien sind seit dem Auftauchen der Gerüchte um Aventis vor zwei Monaten um rund acht Prozent abgesackt. Vasella hält den Kursrutsch für unberechtigt: «Erstens handelt es sich bisher lediglich um eine Analyse der Durchführbarkeit. Zweitens hat kaum jemand sich anfänglich wirklich die Frage gestellt, wie ein Zusammenschluss der beiden Unternehmen denn aussähe, wie sich das Produkteportfolio und die Pipeline ergänzten und wie stark das Marketing würde. Das sind Fragen, die in der Zwischenzeit immer positiver beantwortet werden», sagt er. Allerdings: «Neben der industriellen Logik bestehen aber Risiken auf politischer Ebene, die wir sehr ernst nehmen.»

Die Erwägungen von Vasella haben mit seiner grossen Vision zu tun: Er will die lange von der Produktion und heute stark vom Marketing geprägte Novartis Schritt für Schritt in eine «knowledge-driven company», einen wissensgetriebenen Konzern, verwandeln. Statt Massenmedikamente auf den Markt zu werfen, sollen vermehrt komplett neue, dem einzelnen Menschen angepasste Medikamente entwickelt werden. In diese generellen Pläne passt Aventis gut.

Ein Zusammengehen mit Aventis hat Novartis offenbar schon vor Jahren ins Auge gefasst. «Aventis ist von jeher auf der Liste von potenziellen Partnern», bestätigt Vasella. Einmal pro Jahr analysiere der Verwaltungsrat systematisch die strategischen Optionen. Aventis ist 1999 aus dem Zusammenschluss der deutschen Hoechst und der französischen Rhône-Poulenc entstanden.

In der Tat macht ein Zusammengehen von Novartis und Aventis in vielerlei Hinsicht Sinn. Kombiniert wäre das Gespann die Nummer zwei in der Branche hinter der amerikanischen Pfizer. In wichtigen Therapiegebieten ergänzen sich die Firmen perfekt. Zusammen hätten sie in den USA rund 11 000 Ärztebesucher: die zweitgrösste Verkaufsmacht der Welt. Synergien in Milliardenhöhe wären durch den Abbau von Doppelspurigkeiten und die Verlegung des Steuersitzes nach Basel zu erwarten.

Nicht nur Vasella, auch seine engsten Mitarbeiter sehen Vorteile eines Zusammengehens mit Aventis. Entwicklungschef Jörg Reinhardt betont, dass die Forschung der beiden Firmen «zum grossen Teil komplementär» sei. «Grösse ist in der Forschung dann attraktiv, wenn es zu Risikostreuung kommt. Mit Aventis ist dies der Fall», so Reinhardt.

Bereits hat das Management die Fusion durchgespielt. Reinhardt hat die Pipeline an neuen Medikamenten der beiden Firmen angeschaut, Forschungschef Mark Fishman die Forschung, Pharmachef Thomas Ebeling Produkte, Marketing und Vertrieb, Finanzchef Raymund Breu die finanziellen Aspekte. Das Bild, das die Manager gezeichnet haben, soll laut Insidern in weiten Teilen positiv sein. Noch ist der Beschluss des Verwaltungsrats, ein offizielles Angebot zu unterbreiten, längst nicht gefallen. Ohne formelle Einladung des Aventis-Verwaltungsrats und politische Akzeptanz kann kaum mit einer Novartis-Offerte gerechnet werden. Vasella erwartet einen Entscheid bezüglich Aventis «spätestens bis Ende Mai».
Doch das Werben von Novartis um Aventis wird immer konkreter. Nebenbuhler Sanofi fühlt sich zunehmend in die Ecke gedrängt. Der französische Pharmakonzern warf als Erster ein Auge auf Aventis und machte im Januar ein Übernahmeangebot. Die Braut stufte das Angebot umgehend als feindlich ein und wies es schnöde zurück. Bald machten Gerüchte die Runde, ein weisser Ritter wolle die Braut vor Sanofi retten. Eben die Schweizer Novartis.

Seither erfährt Vasella praktisch nur Anfeindungen. Die Medien prügeln den Novartis-Chef, weil sie das Investment für zu risikoreich halten. Hingewiesen wird vor allem auf das Klumpenrisiko Frankreich. Über 15 000 Leute beschäftigt Aventis dort. Synergieeffekte liessen sich dort nur realisieren, wenn Arbeitsplätze abgebaut würden. Angesichts der starken Stellung der Gewerkschaften ein schwieriges Unterfangen. «Novartis kann auf Aventis verzichten», urteilte die «Basler Zeitung».

Auch viele Investoren misstrauen der Sache: «Wir würden es bevorzugen, wenn diese Übernahme nicht stattfände», sagt Sam Isaly, Chef des Health-Care-Investors OrbiMed aus New York, der Novartis-Aktien im Wert von rund 200 Millionen Dollar besitzt. Vasella räumt ein, dass es einige gewichtige Risiken gebe. «Bei der Fusion zwischen Ciba und Sandoz erwies sich Frankreich als das schwierigste Land. Doch die Risiken, auch in Bezug auf die Patentabläufe, sind im Preis von Aventis vorweggenommen», sagt er.

Wenig ermutigt dürfte sich Vasella von der Haltung der französischen Regierung fühlen. Premierminister Jean-Pierre Raffarin machte jüngst in aller Form deutlich, dass er eine innerfranzösische Lösung bevorzuge. Sein Beweggrund mutet allerdings gesucht an: In Zeiten des Terrorismus müsse Frankreich eine eigenständige Pharmaindustrie haben, um im Notfall Impfstoffe und dergleichen bereitstellen zu können. Kritiker in Frankreich sehen andere Beweggründe: Sanofi-Chef Jean-François Dehecq steht auf gutem Fuss mit der Regierung in Paris und gilt als Freund von Staatspräsident Jacques Chirac.

Die Haltung der französischen Regierung könnte zum Knackpunkt der Sache werden. Wird ein Arbeitsplatzabbau in Frankreich schon mit Rückendeckung der Regierung schwierig, so dürfte es bei einer feindlichen Haltung gegenüber den Schweizern fast unmöglich werden. Aventis-Konzernchef Igor Landau hat gebeten, aus der Fusion doch bitte «kein politisches Dossier zu machen». Aventis hat wenig Freude an der Heiratsvermittlung seitens höchster Instanzen. Sie warnt ihre Aktionäre in Zeitungsinseraten vor einem Zusammengehen mit Sanofi. Die dreiseitige Anzeige aus der «Neuen Zürcher Zeitung» vom Vortag liegt vor Vasella auf dem Tisch.

Mark Fishman, Forschungschef
«Innovationsmotor neu starten»


BILANZ: Novartis baut ein gigantisches Forschungszentrum in Boston. Hat der Forschungsstandort Basel ausgedient?

Mark Fishman: Ich glaube, die Leute in Basel sind etwas zu ängstlich. Es gibt keinen Grund, sich bedroht zu fühlen. Die neue Forschungsstrategie von Novartis ist ein globales, nicht ein US-amerikanisches Unterfangen. Fundamental wichtige Arbeit wird in Basel genauso gemacht werden wie hier in Boston. Wir investieren ja sowohl hier wie dort, wie auch in unseren anderen globalen Zentren in Österreich, Grossbritannien und Japan.


Novartis setzt verstärkt auf genetische Forschung. Wie lange wird es gehen, bis der Weg zu neuen Produkten führt?


Ziel der Forschung von Novartis ist es, verlässlich und berechenbar Medikamente zu produzieren. Wir packen das an, indem wir uns fragen, welche fundamentalen Mechanismen zu welchen Krankheiten führen. Schon in wenigen Jahren werden wir diese Mechanismen besser verstehen.


Seit einem Jahr wird in Boston geforscht. Gibt es schon Resultate?


Ja. Es gibt Erfolge, die sich in jeder Phase der Pipeline anwenden lassen. So haben wir etwa neue Ansatzpunkte im Kampf gegen Alzheimer identifiziert. Unsere Chemiker haben wichtige Komponenten für unser Diabetes-Programm generiert. All dies haben wir geschafft, während wir gleichzeitig jeden Tag im Schnitt zwei neue Forscher eingestellt haben.


Was sind mittelfristig die Erwartungen?

Mit der Zeit wird uns die Aufschlüsselung des menschlichen Genoms helfen zu verstehen, welche genetischen Dispositionen zu welchen Krankheiten führen. Aber wir sind noch in einem frühen Stadium. Für einen dramatischen Paradigmawechsel wird es sieben bis zehn Jahre brauchen.


Eine lange Zeit. Befürchten Sie, dass ein neues Management oder knappe Finanzen die Sache gefährden könnten?


Nein, ganz und gar nicht. Der Marktdruck wird alle Pharmafirmen dazu zwingen, neu darüber nachzudenken, wie Forschung gemacht werden muss. Der Innovationsmotor muss neu gestartet werden. Der andere Weg, sich ausschliesslich auf die Verbesserung bestehender Medikamente zu konzentrieren, ist der riskantere.


Eine profitable Strategie? Immerhin sorgten die klassischen Massenprodukte für hohe Margen.


Ich glaube, dass die Profitabilität dieser neuen Medikamente sehr gut sein wird, weil sie effizient sind und weniger Nebeneffekte haben. Das wird zu einem Spareffekt für das Gesundheitssystem führen.


Wird der Patient die neuen Medikamente begreifen? Er spürt die Krankheit, nicht die in seinen Genen verborgenen Mechanismen, die dazu führen.


Das ist eine sehr wichtige Frage. Wir stehen hier vor einer Herausforderung. Ich glaube, dass wir eine neue Art von Aufklärung und Informationsvermittlung brauchen werden, mit der Öffentlichkeit, aber auch mit den Ärzten.


Wie behält man als Arzt oder Apotheker in der Fülle massgeschneiderter Produkte noch den Überblick?
Ein Element könnte sein, dass man ein diagnostisches Produkt zusammen mit dem therapeutischen Produkt braucht. Ein Diagnose-Instrument, das hilft zu erkennen, ob dieses Medikament das richtige für den betreffenden Patienten ist.


Roche ist stark in Diagnostika. Ein Grund für das Interesse von Novartis?


In der derzeitigen Phase ist das nicht Teil der Diskussion.


Was heisst das?


Die Diagnostika von heute sind nicht die Diagnostika, die wir in Zukunft brauchen werden. Das ganze Konzept muss neu überdacht werden: Was wird ein Diagnose-Instrument in Zukunft sein? Wir wissen das heute nicht. Und es gibt auch kein anderes Unternehmen, das diese Frage derzeit endgültig beantworten kann.

Novartis wäre ihnen lieber, haben die Aventis-Chefs inzwischen kundgetan. Doch Vasella geht mit dem ganzen Deal ein Reputationsrisiko ein. Warum tut er sich das an? Schliesslich schwimmt er derzeit auf einer Welle des Erfolgs. Jahr für Jahr erwirtschaftet er Gewinne in Milliardenhöhe. Für die Medien ist er der Vorzeigemanager, sieht man von der Kritik an seinem Jahreslohn von 19 Millionen Franken ab. «Kritik muss man als Leiter eines Unternehmens ertragen können», sagt Vasella. Ihn stört die gerade in der Schweiz oft prägende Angst vor Veränderungen: «Die Leute reden selten über das Risiko, im Bestehenden zu verharren. Dabei ist das Risiko, etwas nicht zu machen, oft grösser, als etwas zu tun.»

Novartis geht es wirtschaftlich derzeit sehr gut. Doch die Firma rutscht in den Ranglisten der grössten Firmen immer weiter nach hinten. Nach der Fusion von 1996 noch die Nummer zwei der Welt, ist Novartis jetzt noch auf Platz fünf. Überholt wurden die Schweizer, die organisch tüchtig wuchsen, weil Konkurrenten fusionierten.

Vasella ist allerdings überzeugter Anhänger der These, dass Grösse langfristig wesentlich sei im Kampf um den Pharmamarkt. Novartis soll weiter zu den Top-Playern gehören. Und das geht nur durch Fusionen oder Firmenkäufe. «Externes Wachstum muss Teil unserer Überlegungen sein», sagt er.

Wunschpartner Roche, an der Novartis mit 33 Prozent beteiligt ist, ist auf Jahre hinaus blockiert. Die Besitzerfamilien wollen keinen Schulterschluss mit Vasella. Der Aktionärsbindungsvertrag bei Roche dauert bis 2009. Das Werben um den Lokalrivalen wurde von Roche-Chef Franz Humer wiederholt zurückgewiesen. Novartis wird laut Branchenbeobachtern auch ein Interesse an mittelgrossen Branchenplayern wie der deutschen Schering oder der amerikanischen Bristol-Myers Squibb nachgesagt.

Die Gelegenheit, dass eine Firma wie Aventis, die man bereits auf dem Radarschirm hat, plötzlich zum Verkauf steht, kommt nicht alle Tage. Aventis werde es nach dem jetzigen Gerangel nicht mehr geben, ist Vasella überzeugt, sie werde verkauft. Wenn nicht an Novartis, dann an einen anderen. «Jetzt oder nie», müsse man sich fragen. Warum Novartis Grösse und damit Aventis braucht, hat viel mit Vasellas Zukunftsplänen zu tun.

Erstens, findet er, müsse die Firma kontinuierlich neue und bessere Medikamente entdecken. Zweitens habe sie kompetitiv und profitabel zu sein. Das heisst, sie müsse bei der Forschung an vorderster Front mit dabei sein, sämtliche Auflagen aus regulatorischer Sicht erfüllen können, ein genügend grosses Marketingbudget und vor allem gute Leute haben. Die Kosten für die Entwicklung eines Medikaments sind von 300 Millionen Dollar im Jahre 1987 auf heute 1,4 Milliarden Dollar gestiegen. All das bedinge grosse Mittel, und dies wiederum sei an die Grösse gebunden. Sich selber übernehmen lassen, etwa vom Branchengiganten Pfizer, will Vasella nicht: «Wenn wir mit einem Grossen wie Pfizer zusammengingen, würden wir die Kontrolle verlieren. Und Novartis ginge unter.»

Trotz immer höheren Kosten ist die Produktivität der Branche mager. Vor zwei Jahren konstatierte das «Wall Street Journal», dass die Branche «im Rennen um neue Medikamente versagt». Im Jahr 2002 sind nur rund 15 neue Medikamente von der Pharmaaufsicht FDA in den USA anerkannt worden. In der Fünfjahresperiode vorher waren es noch jährlich über 30.

Novartis hat sich in diesem Umfeld zwar noch verhältnismässig gut geschlagen, doch Vasella hat den Warnruf gehört. Und er hat mit einer Umwälzung des Forschungsansatzes reagiert. Eine Umwandlung, die nicht nur tief greifend ist, sondern auch sehr teuer. Und deren Kosten er wohl gerne auf ein grösseres Gebilde, etwa eine zusammengeführte Novartis/Aventis, umlegen würde.

In diesen Tagen wird das zweite Forschungsgebäude in Boston eröffnet. Über 700 Wissenschaftler werden darin arbeiten. Novartis investiert in den nächsten zehn Jahren die gigantische Summe von vier Milliarden Dollar in die Forschungsstätte. Nach Ende des Aufbauprozesses sollen über 1000 Wissenschaftler für Novartis in Boston nach Medikamenten forschen.

Sie werden dies nach einer neuen und noch relativ unerprobten Methode tun: dem genetischen Ansatz.

Erst vor wenigen Jahren wurde das menschliche Genom entschlüsselt, der Bauplan aller menschlichen Gene. Dieses Genom soll zur Grundlage für eine neue Art der Medikamentenentwicklung werden. Bisher war die Forschung in erster Linie nach therapeutischen Feldern organisiert, also um spezifische Krankheitsgruppen wie Krebs, Lungenkrankheiten oder Allergien herum gruppiert.

Mit dem genetischen Ansatz wird versucht, die tief im genetischen Aufbau jedes Einzelnen verborgenen Ursachen der Krankheit zu erkennen. Ziel ist es, so genannte «Leitpfade» zu identifizieren, die für Störungen verantwortlich sind. Man weiss von vielen Krankheiten, dass das gleiche Erscheinungsbild verschiedene Typen von Störungen in der Zelle zu Grunde haben kann. Dass es solche Leitpfade gibt, hat Novartis am Beispiel ihres Krebsmedikaments Glivec erfahren. Ursprünglich gegen Leukämie eingesetzt, fand man heraus, dass es auch gegen Magenkrebs wirkt.

Der Ansatz, der in Boston verfolgt wird, ist zum grossen Teil Grundlagenforschung. Mühsam muss Gen für Gen erforscht werden. Bis zum gewünschten Paradigmawechsel wird es laut Forschungschef Mark Fishman noch sieben bis zehn Jahre dauern (siehe Interview «Innovationsmotor neu starten»).

Sollte der Ansatz aufgehen, käme dies für Novartis einem Quantensprung gleich. Er könnte zu einer Schwemme neuer Medikamente führen und Novartis auf Jahre die Spitzenposition in der Forschung sichern. Da die neuen Medikamente wirksamer sein werden als die alten, werden die Patienten dafür höhere Preise bezahlen. Damit könnte Novartis dem Druck auf die Margen begegnen.

Novartis-Campus
Mehr Uni als Produktionsstätte


Novartis will ihr Firmengelände in Basel umbauen. Das Projekt ist ein wichtiger Bestandteil von Daniel Vasellas Vision eines «wissensgetriebenen Konzerns».


In den letzten Jahren hat sich unsere Industrie von einer produktionsorientierten zu einer wissensorientierten Tätigkeit gewandelt», schreibt Novartis-Präsident Daniel Vasella im Prospekt zum Campusprojekt. Dieser Überzeugung will er auch mit architektonischen Mitteln Rechnung tragen – dort, wo es jedermann sehen kann, am Stammsitz des Pharmagiganten, dem Werkareal St. Johann in Basel.


In mehreren Umbauetappen soll das Gelände am Rhein in den kommenden zwanzig Jahren vollständig umgebaut werden. Kosten des Projekts: 750 Millionen Franken.


Die Produktion von Medikamenten nimmt heute nur noch einen kleinen Teil des Geländes in Beschlag. Im Grossteil der Gebäude in St. Johann befinden sich Forschung oder Verwaltung. Die bauliche Atmosphäre ist aber immer noch stark von der Vergangenheit geprägt, als hier vornehmlich Maschinen stampften.


Am Basler Sitz soll eine neue Atmosphäre geschaffen werden, die vom Geist eines Universitätscampus geprägt ist. «Das Areal soll schrittweise in einen Ort des Wissens und der Begegnung umgewandelt werden», sagt Vittorio Magnago Lampugnani. Der Stararchitekt aus Mailand und Professor für Städtebau an der ETH Zürich wurde von Vasella mit der Gesamtplanung des Projekts betraut.


Vasella hat für das Campusprojekt nur die Besten der Besten engagiert. Neben Lampugnani wirken Stars wie der amerikanische Landschaftsarchitekt Peter Walker für die Umgebungsgestaltung, der Schweizer Ausstellungsmacher Harald Szeemann für die künstlerischen Aspekte oder der britische Designer Alan Fletcher für die grafische Gestaltung.


Der Anspruch ist hoch: Ziel sei es, «mit architektonischen Mitteln die Kommunikation zu fördern», so Lampugnani. Die Art des Arbeitens soll verändert werden. In angenehmer Umgebung, auch mal draussen mit dem Laptop auf den Knien, soll gearbeitet und Wissen ausgetauscht werden. Der Campus soll zu einer veritablen «Stadt in der Stadt» werden, mit grosszügigen Plätzen, weiten, begrünten Alleen und Strassencafés, die zum Verweilen einladen. Auf dem Gelände soll den dereinst 6000 Mitarbeitenden zudem vom Fitnesscenter bis zu Einkaufsläden und Boutiquen auch sonst einiges geboten werden. Ziel ist es, eine Umgebung zu gestalten, welche die Mitarbeitenden ermutigt, sich auch ausserhalb der Büros oder Labors auszutauschen. Man hofft, dass der Informationsfluss verbessert wird und sich dies schliesslich auf die Performance der Konzerns auswirkt.


Der Masterplan, der dem Vorhaben zu Grunde liegt, ist beeindruckend. Doch der Plan, die Leute zur Kommunikation zu bewegen, ist zugleich ein Experiment; ob er dereinst aufgehen wird, ist heute nicht mit Sicherheit abschätzbar. Lampugnani räumt ein, dass es für den Campus «keine erprobten Vorbilder gibt».


Ein anderes schwer abschätzbares Risiko ist die lange Planungszeit. Der Idealzustand werde erst in zwanzig oder dreissig Jahren eintreten, so Lampugnani. Die Gegebenheiten in der Branche können sich bis dann ändern. Gut möglich, dass für die Pharmaindustrie einmal weniger üppige Zeiten kommen und dem Projekt dann der Geldhahn zugedreht wird. Das Projekt ist zudem stark von der Person von Vasella geprägt, der die Sache angestossen hat. Er leitet auch das Steering-Committee des Campusprojekts. Vasella relativiert seine Rolle: «Entweder ist das Projekt es an und für sich wert, und dann werden es die Leute erkennen. Und es dann auch losgelöst von mir weiterführen. Oder das Projekt ist nicht von erkennbarem Wert. Und dann wird es geändert werden.»

Ob der milliardenteure Ansatz aufgehen wird, weiss heute niemand. Auch wenn Konkurrenten wie Merck auf den Zug aufgesprungen sind, so gab es in der Vergangenheit wiederholt Trends, denen viele nachgelaufen sind, die sich dann aber als wenig erfolgreich herausgestellt haben. In den Achtzigerjahren waren es die Interleukinpräparate, deren Wirkung überschätzt wurde. In den Neunzigerjahren die Xenotransplantation, bis das Risiko der Übertragung von Tierkrankheiten auf den Menschen offensichtlich wurde. Rückschläge werde es immer wieder geben, glaubt Vasella. Das gehöre zum Pharmageschäft. Dennoch sei der neue Forschungsansatz mit diesen Beispielen nicht vergleichbar. Erfolge seien bereits sichtbar, sagt er und verweist auf das Präparat Glivec. Das Potenzial der genetischen Forschung ist für ihn unbestritten.

Klar ist, dass sich Novartis mit ihrem Ansatz in einen fundamentalen Wandlungsprozess hineinbegibt. Sollten in Zukunft Medikamente wirklich aufs genetische Make-up jedes Einzelnen zugeschnitten sein, bedeutet dies letztlich eine Atomisierung der Produktepalette. Heute treibt die Massenproduktion von Blockbustern – Präparate mit einem Umsatz von über einer Milliarde Dollar – den Markt und sorgt für die grossen Gewinne.

Doch was wird sein, wenn es personalisierte Medikamente gibt? Wie vermarktet man solche Produkte? Wie vertreibt und verkauft man sie? Welche Apotheke ist gross genug, all die verschiedenen Untersorten anzubieten? Wie erklärt man sie dem Patienten? Was geschieht mit all den auf Massenprodukte eingestellten Fabriken?

Diese Fragen hat die Industrie nicht geklärt. Entwicklungschef Reinhardt glaubt, dass eine derart stark segmentierte Medikamentenentwicklung zwar theoretisch denkbar sei, praktisch aber frühestens in zwanzig bis dreissig Jahren stattfinden werde. Aus ökonomischen Gründen werde man individuelle Medikamente in den nächsten Jahren vor allem dort finden, wo es zähle – etwa bei Krebs. Dennoch ist klar, dass der Ansatz vom Marketing bis zur Produktion für enorme Veränderungen sorgen wird.

In die Vision von Vasella, Novartis zu einem wissensgetriebenen Konzern zu machen, gehört auch der Umbau des Stammsitzes in Basel. Trotz dem Ausbau in Boston soll Basel als Forschungsstandort weiterhin strategische Bedeutung haben. 1500 Forscher und 2000 Entwickler arbeiten am Rheinknie, 250 neue sind im letzten Jahr hinzugestossen. Das Firmengelände in St. Johann soll in einem 750 Millionen Franken teuren Bauprojekt in den nächsten zwanzig Jahren zu einem Campus werden (siehe «Mehr Uni als Produktionsstätte»).

Bei der Entwicklung von Novartis folgt Vasella einem generellen Plan. Dieser ist von zwei Merkmalen geprägt: erstens von der gezielten Adaption langfristiger Branchentrends und zweitens von der Nutzung kurzfristiger Optionen.

Vasella greift zum Kugelschreiber. Er nimmt das vor ihm liegende Aventis-Zeitungsinserat und skizziert mit wenigen Strichen quer über die Anzeige die bisherigen Phasen des Aufbaus des Pharmaunternehmens.

1996 kam er an die Spitze der fusionierten Novartis. Die drei Jahre bis 1999 waren von der Umsetzung der Fusion geprägt. Kostensynergien zu realisieren und die beiden kulturell doch sehr verschiedenen Teile zusammenzuführen, war angesagt.

Von 2000 bis 2003 trieb Vasella dann das Marketing voran. Er setzte im September 2000 mit Thomas Ebeling einen von Pepsi-Cola kommenden Marketingmann an die Spitze des Pharmasegments. Allein in den USA wurden rund 1500 neue Ärztebesucher eingestellt. Die Offensive wurde ein voller Erfolg. Das Blutdruckmedikament Diovan etwa wurde zur Nummer eins im Markt. Durch die Verkaufsoffensive konnte Novartis den Umsatz und den Gewinn auf ihren bereits bestehenden Präparaten enorm steigern.

Der Verkaufseffort brachte jenes Geld in die Kassen, das nun für den Aufbau in Boston und Basel benötigt wird.

Novartis geht davon aus, dass damit in einigen Jahren ein erfolgreiches Kapitel geöffnet und eine Schwemme neuer Medikamente kommen wird. Die Zwischenzeit kann überbrückt werden mit Produkten aus der bestehenden Pipeline, die einige interessante Präparate verspricht. Diese Pipeline wiederum würde durch ein Zusammengehen mit Aventis ergänzt.

So will Novartis im Bereich Diabetes wachsen. Die ungesunden Ernährungsgewohnheiten führen dazu, dass immer mehr Menschen zuckerkrank werden. Das Novartis-Produkt Starlix von 2001 war eine Enttäuschung. Entwicklungschef Reinhardt hat zwar ein viel versprechendes Produkt mit dem Kürzel LAF 237 im Köcher, das aber frühestens 2006 auf den Markt kommen wird.

Aventis wiederum hat mit dem Präparat Lantus und dem in diesem Jahr auf den Markt kommenden Apidra zwei starke Produkte. Gemeinsam wäre in den anstehenden Jahren ein steter Fluss von Medikamenten zu erwarten, was Novartis/Aventis zu einem «Powerhaus im Diabetesbereich machen würde», wie es Pharmaanalystin Denise Anderson von Kepler Equities beschreibt. Ähnliche Überlegungen lassen sich auch für die Bereiche Krebsforschung oder Herz/ Kreislauf anstellen – alles Wachstumsmärkte, in denen sich Novartis und Aventis ergänzen und zusammen starke Einheiten bilden würden. Für mindestens die nächsten fünf Jahre wäre eine führende Marktstellung gesichert. Und bis dann dürfte auch klarer sein, inwieweit der neue Ansatz in Boston greift.

Dies würde Vasella zudem Luft geben, die fünf Jahre bis zum Auslaufen des Aktionärsbindungsvertrags der Roche-Besitzerfamilien zu überbrücken. Dann könnte mit einer Lokalheirat vielleicht der nächste Quantensprung erfolgen. Womit Novartis im Konsolidierungsprozess ganz an der Spitze wäre.

Das Roche-Paket werde Novartis langfristig halten, sagt Vasella. Für einen Kauf von Aventis sind die dort gebundenen Mittel nicht nötig. Eine Übernahme liesse sich problemlos finanzieren, wahrscheinlich sogar ohne Verlust des AAA-Ratings. Novartis hat eine mit 7,3 Milliarden Dollar gefüllte Kriegskasse und rund 30 Milliarden Dollar an eintauschbaren Aktien – ausreichend Munition also für einen Übernahmekampf.