Bomben auf die Ukraine sind Granaten auf die Schweizer Wirtschaft

Zuerst die gute Nachricht: Die Schweiz hat nur wenig Handelsvolumen mit Russland, das direkte Risiko bei einem Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist nicht sehr gross. KOF-Konjunkturforscher Heiner Mikosch spricht von einem «geringen negativen Effekt». Lediglich ein knappes Prozent aller Schweizer Exporte von insgesamt 260 Milliarden Franken geht nach Russland, oder genauer: Der Wert lag 2021 bei 3,21 Milliarden Franken. Grössere Posten waren dabei Medikamente, Maschinen und Uhren. Auf der Gegenseite importiert die Schweiz aus Russland noch weniger: Für nur 270 Millionen Franken (von insgesamt 201 Milliarden Franken) kommen russische Güter ins Land; es sind vorwiegend Edelsteine und Edelmetalle zur Weiterverarbeitung. Und jetzt die schlechte Nachricht: Kommt es zu einem bewaffneten Konflikt, dann spüren Finanzinstitute, Anleger und das verarbeitende Gewerbe – also Banker, Börsianer und Maschinenbauer – die indirekten Auswirkungen sehr wohl. Da hilft es nicht viel, wenn die Volkswirtschaft insgesamt das wegstecken kann. Szenario 1: Die Flucht in den Franken Die meisten Investoren scheuen das Risiko wie der Teufel das Weihwasser, sowohl an der Börse als auch in der Unternehmenswelt. Bei einem Krieg in der Ukraine käme es zu gröberen Umschichtungen in den Investitionsportfolios – das wiederum schafft Volatilität am Kapitalmarkt. Auch die Landeswährung wäre betroffen – und damit die Nationalbank. «Die SNB müsste sich überlegen, wie sie die Flucht in den Franken abwehrt», sagt KOF-Ökonom Heiner Mikosch. Der Klassiker: Wenn die Weltwirtschaft leidet oder zumindest die Gefahr besteht, dann sind Investoren bereits geneigt, ihr Geld nach Hause zu holen – die Nachfrage nach Franken würde steigen und damit auch der Aufwertungsdruck. Ganz zu schweigen von ausländischen Investoren, die sich in den sicheren Hafen des Franken retten wollten, wenn andere Währungen – sogar der Euro – in einem Konfliktfall weniger beliebt werden. Szenario 2: Der Gaspreis. Was im Fall eines bewaffneten Konflikts zwischen Russland und der Ukraine passieren kann: Die Durchleitung von russischem Gas durch die Ukraine über Deutschland bis in die Schweiz und weite Teile Europas würde unterbrochen. Das wäre in erster Linie für Europas Wirtschaftslokomotive Deutschland ein Problem – und in der Folge auch für die Schweiz, deren wichtigster Handelspartner Deutschland ist. In der Gefährdungsanalyse des Wirtschaftsdepartements steht, knapp 60 Prozent der Schweizer Nachfrage werden von Produzenten und Lieferanten in Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden und Norwegen gesichert. Das Gros des Erdgases kommt aus Russland. Es gibt zwar Massnahmen, Energiereserven anzuzapfen. Auch die USA haben Pläne in petto, zum Beispiel könnten sie die Gasreserven mit Flüssiggas per Schiffstanker aufstocken, um wegen eines allfälligen Energiemangels nicht erpressbar zu werden. Und zwar nicht nur durch Russland, sondern auch durch die Ukraine: Das Land könnte aus der Not heraus versuchen, Druck aufzubauen, um Hilfe gegen Russland zu erhalten. Wenn die Unterbrüche nur kurz dauern, kann das durch Energiereserven abgedeckt werden. Dauert das länger, dann würde das die Unternehmen in Europa und der Schweiz einschränken, weil es zu einer Gasknappheit kommt. Das würde die Inflation beflügeln und dadurch Produktion und Investitionen verteuern. Das macht Patrons und Gewerbler nervös. «Warum sollte ein Unternehmer eine neue Anlage bauen, wenn die Inputfaktoren für seine Produktion zu teuer sind?», fragt Mikosch. Die Folge: Investitionen von Schweizer Unternehmen würden wegen höherer Preise und einer steigenden Unsicherheit zurückgehen. Am geringsten betroffen wäre noch die Pharmanbranche, weil sie am wenigsten am internationalen Konjunkturzyklus hängt. Deshalb sind sich Experten einig: Politik und Diplomatie müssen glaubhaft ankündigen, dass die Energieversorgung gesichert ist. Und zwar selbst dann, wenn das nicht stimmt. «Das ist eines der Kernelemente, welche wir uns als Konjunkturforscher sehr genau anschauen werden: Wie wirksam greifen die Ankündigungseffekte der Politik», sagt Mikosch. Die Signalwirkung sei vergleichbar mit der Policy einer Zentralbank, deren härteste Währung die Erwartungen der Wirtschaftsteilnehmer sind. Betroffen wäre auch die Versorgungssicherheit in der Schweiz bei gewissen Lebensmitteln und landwirtschaftlichen Produktionsmitteln wie Saatgut, Pflanzenschutzmittel, Dünger und Tierarzneimittel für den Agrarbereich. Nordamerika, die EU, Russland und die Ukraine gehören zu den weltgrössten Exporteuren im globalen Agrarhandel. Die importierte Menge an Nahrungsmittelkalorien pro Person ist in der Schweiz eine der höchsten weltweit. Als Reaktion auf die von der EU verhängten Sanktionen hat Russland seit 2014 Gegenmassnahmen ergriffen, insbesondere im Agrarbereich. Aber: «Gemäss unseren Informationen ist die Schweiz derzeit von diesen Massnahmen nicht betroffen», sagt ein Sprecher des Seco.Szenario 3: Sanktionen. Die EU hat seit 2014 ein Sanktionsregime gegen Russland in Kraft, das insbesondere die Bereiche Finanzen, Energie, Verteidigungs- und Dual-Use-Güter umfasst. Letzteres sind jene Güter, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können und daher besonderen Ausfuhrbestimmungen unterliegen. Die Europäische Investitionsbank EIB und die Europäische Entwicklungsbank EBRD vergeben keine Kredite mehr an Russland. Ebenfalls auf Eis sind die Exporte und Importe ausgewählter Güter und Technologien sowie Tourismusgeschäfte mit und auf der Krim, also auf jener Halbinsel, die Russland 2014 annektiert hatte – was der Anlass für die EU-Sanktionen war. Darüber hinaus wurden seither Vermögenswerte einzelner russischer Personen eingefroren und Einreiseverbote in die EU verhängt. Gemeint sind all jene Personen, welche laut EU die Unabhängigkeit und Staatsintegrität der Ukraine unterminieren. Es geht um 185 Personen und Vertreter von insgesamt 48 Unternehmen und Organisationen. Die Schweiz hat im Gegensatz zur EU bisher keine Sanktionen gegen Russland verhängt. «Der Bundesrat entscheidet im Einzelfall nach eingehender Prüfung der rechtlichen Aspekte und der auf dem Spiel stehenden innen- und aussenwirtschaftspolitischen Interessen über die Übernahme von EU-Sanktionen», sagt ein Seco-Sprecher. Eine Entscheidung wurde bisher nicht getroffen. Falls die EU neue Sanktionen gegen Russland beschliesst, wird sich der Bundesrat damit beschäftigen. Etwa, wenn es um den Ausschluss vom Zahlungsabwicklungssystem Swift geht. Darüber denken die USA und die EU derzeit laut nach. Swift hat den Sitz in Belgien und ein Rechenzentrum im thurgauischen Diessenhofen. Gut 11’000 Banken weltweit hängen an dem System in über 200 Ländern. Weil Swift für den internationalen Zahlungsverkehr unverzichtbar geworden ist, würde ein Ausschluss aus ebendiesem für Russland schmerzhaft sein. Wenn Russland Cash sehen will für Öl, Gas, Kohle und Metalle, dann geht das kaum ohne dieses System. Der Rohstoffhandel wird üblicherweise in Dollar abgerechnet. Ein Ausschluss von Swift könnte zu Kapitalflucht und der Abwertung des Rubels führen. Diese Sanktion wäre für sämtliche (Schweizer) Banken unglücklich, welche Geschäfte mit Russland und Rubel meiden würden, um nicht ins Kreuzfeuer der Sanktionen zu geraten.