Jenseits der Bilateralen: Die Schweiz als Singapur der Alpen

Als dem Kleinunternehmen ein Bescheid der Eidgenössischen Steuerverwaltung ins Haus flatterte, regte sich der Chef auf. Die Firma sei mehrwertsteuerpflichtig, hiess es in der Verfügung. Das könne nicht sein, schimpfte der Empfänger. Schliesslich produziere man künstlerische Werke. Und die sind von der Steuerpflicht befreit. Der Mann hatte Glück. Der Briefkopf enthielt den Namen und die Telefonnummer des Steuerbeamten. Er rief ihn an und schilderte ihm das Problem. Darauf ermunterte ihn der Beamte, selber einen Rekurs einzulegen. Und siehe da: Die Firma wurde zwei Jahre später von der Mehrwertsteuerpflicht befreit. Dieser direkte Zugang zur Verwaltung – ob beim Bund oder in den Kantonen – ist legendär. Sie wird von ausländischen Wirtschaftsführern, die eingewandert sind oder in die Schweiz eine Firma übernommen haben, immer wieder lobend erwähnt. «Unmöglich!»«Suchen Sie mal einen Beamten in Paris, Berlin, Madrid oder London. Unmöglich!», sagte kürzlich der Chef einer grossen Genfer Rohstoffhandelsfirma im privaten Gespräch, als man ihn fragte, warum er seine Firma nicht in eine Steueroase zügelt: «Der Hauptvorteil der Schweiz liegt im hürdenlosen Kontakt zu den Beamten im Kanton.» Der Mann führt eine sogenannte mobile Firma, die den Sitz jederzeit nach Singapur, Hongkong oder Grossbritannien verlegen könnte. Er hat über den Wunsch der Schweiz, ein Rahmenabkommen abzuschliessen, immer gestaunt. Nach dem Fall des Rahmenabkommens gelangen die Unterschiede der Schweiz zur EU-Regulierung in den Fokus. Wenn man sich schon für mehr Souveränität bei der Gestaltung von Gesetzen und Verordnungen entschieden hat, dann stellt sich nun die Frage: Wie kann man diese wirtschaftspolitisch ausspielen? Kann die Schweiz so etwas wie das Singapur der Alpen werden? «Singapur kann man nicht mit der Schweiz vergleichen», sagt Patrick Dümmler, Forschungsleiter «Offene Schweiz» des Thinktank Avenir Suisse. Die Denkfabrik hat bereits früher zu dieser Frage geforscht. Auch wurde diese Frage beim Brexit in Grossbritannien intensiv erörtert. «Singapore in the North Sea»Dort geisterte während der Brexit-Verhandlungen das Schlagwort des «Singapore in the North Sea» herum: Als Insel mit sehr freiem Finanzsektor, als Steueroase direkt vor der Nase der EU, als Anlaufstelle für Warenströme aus aller Welt, als Dienstleistungs-, Digital- und Startup-Hub könnte sich Britannia doch auf neue Höhen schwingen, so die Vision. Propagiert wurde sie von Tories, die der City of London nahestanden, oder von Ökonomen, die auf tiefe Zölle und globalen Freihandel pochten (mehr). Singapur wurde dabei zum Leuchtturm emporstilisiert, weil es vormacht, wie ein Staat durch gute Bedingungen einen starken Business-Standort schafft: tiefe Staatsquote, bescheidene Steuern, solide Währung, viele Freihandelsverträge, kleine Regierung; ferner grosse Zurückhaltung bei der Regulierung der Finanzmärkte, aber auch der Arbeitswelt. All das dürfte dazu beigetragen haben, dass aus dem machtlosen Stadtstaat in Südostasien eine der wohlhabendsten Ecken der Welt wurde. Im «Economic Freedom Index» des Fraser Institute (einer konservativen Denkfabrik aus Kanada) landete Singapur zuletzt auf Platz 2 (nach Hongkong). Zum Firmen-Magnet wurde die Vielvölkerrepublik ferner durch eine effiziente Verwaltung: Beim «Ease of Doing Business Index» der Weltbank stand Singapur in den letzten 15 Jahren konstant entweder auf Rang 1 oder 2 (während die Schweiz nie über Rang 15 hinauskam und zuletzt auf Platz 36 absackte). Im Index spiegelt sich zum Beispiel, dass man in Singapur ohne Aufwand an eine Baubewilligung kommt, ein Unternehmen gründen darf, ein Gericht anrufen oder Kredite aufnehmen kann. Das Schlagwort vom «Singapore in the North Sea» richtete sich aber auch gegen Verdächtigungen, dass Britannien nach dem Brexit die EU-Fabriken mit schlechten Sozialleistungen, laschen Sicherheitsstandards, Lohndruck und CO2-Exzessen konkurrenzieren werde. Zum Vorbild für gewisse Briten – und zum Schrecken gewisser EU-Politiker – wurde Singapur eben auch, weil es seine Wettbewerbsfähigkeit nicht einfach mit ökologischem oder sozialem Dumping anheizt Weniger reguliert, aber durchaus mit Standards: Genau diese Rolle könnte die Schweiz nun ebenfalls anstreben – das Singapur der Alpen. Sehr unbürokratisch und mit einer volksnahen Verwaltung, so wie es die eingangs genannten ausländischen Firmenchefs hervorheben. Die Grundidee: Wenn die EU den eidgenössischen Unternehmen das Leben schwerer macht, dann muss die Eidgenossenschaft das Leben halt im Innern erleichtern. Feindbild NeoliberalismusDie britische Debatte zeigte allerdings auch, wo sich die Parallelen erschöpfen: Ein 50-Millionen-Staat mit grossen Industriewerken und abertausenden KMU kann sich nicht einfach in einen schlanken Nischenplayer der Dienstleistungs-Globalisierung verwandeln. Offen ist zudem die Frage, ob europäische Staaten wie Grossbritannien und auch die Schweiz politisch geschlossen genug sind, um ein Konzept durchzusetzen, das man sofort als «neoliberal» bezeichnen würde – was inzwischen bekanntlich ein toxischer Begriff ist. Die entsprechenden Konflikte dampfen in der Schweiz ebenfalls schon seit Jahren. Mit Verweis auf Singapur regte Konrad Hummler, der Privatbankier, im Frühjahr 2005 eine Kehrtwende in der EU-Politik an. In einem NZZ-Beitrag forderte er, weder auf die nationalkonservativen EU-Gegner noch auf die EU-Turbos zu hören – und die Schweiz in einen «City-State» zu verwandeln. Mit so wenig Europa wie möglich und so viel Europa wie nötig. Mit möglichst wenig selbstgemachten Hemmungen für Handel und Industrie. Sehr offen gegenüber der ganzen Welt. Es kam, wie es kommen musste: Der Vorschlag wurde von der SVP-Seite abgelehnt, weil er eine freiere Zuwanderung aus ferneren Ländern vorsah (auch etwas, was zum Modell Singapur gehört). Und Economiesuisse-Kreise schüttelten den Kopf, weil sie um den traditionellen, europabezogenen Werkplatz Schweiz fürchteten. Allerdings hat sich Singapur selber strukturell der Schweiz angenähert: Es ist längst mehr als bloss ein Bankenzentrum mit etwas Tourismus. Wichtiger geworden sind industrielle und wissenschaftliche Felder wie Biotechnologie, Elektronik und Robotik. Die Schwächen des Vergleichs – und die ChancenDümmler von Avenir Suisse sieht im Vergleich zu Singapur wesentliche Unterschiede. Erstens sei die Schweiz eine demokratischer Staat, während Singapur ein anderes Regierungsverständnis habe werde. Jede Deregulierung müsse hierzulande öffentlich erstritten werden und könne nicht von der Regierung von oben herab dekretiert werden. Wirtschaftspolitisch wichtige Hinterzimmerentscheide gebe es nicht. Dies führe in der Schweiz dazu, das viele Partikularinteressen berücksichtigt werden müssten. Als zwei Beispiele nennt er den Einfluss der Bauern und der Gewerkschaften. Die Agrarlobby könne jedes Freihandelsabkommen torpedieren und die Gewerkschaften verhinderten eine Deregulierung im Arbeitsmarkt. Ws fehlt? Der Hafen.Zweitens sei die Schweiz kein internationaler Warenumschlagplatz mit Meereshafen so wie Singapur. Dazu komme, dass die Schweiz äusserst stark auf den europäischen Markt ausgerichtet sei. Die Schweizer Stärke liege im Export und dort müsste sich die Schweiz flexibel auf verändernde Rahmenbedingungen der EU und der wichtigsten Exportmärkte anpassen. Der Verband Swissholdings sieht zwei Felder, wo es von zentraler Bedeutung ist, dass die Schweiz ihre Souveränität behält: In der Steuerpolitik und im Handel. Ein Abkommen hätte nicht dazu führen dürfen, dass die Schweiz im Bereich der Beihilfen EU-Recht übernimmt. Gerade für die Schweizer Industrie könnten wegen der internationalen Pläne für eine Mindestbesteuerung von Konzernen solche Zahlungen wie zum Beispiel Subventionen für die Forschung und Entwicklung an Bedeutung gewinnen. Die Schweiz gewährt nämlich seit kurzem Steuerrabatte, sofern ein Konzern massgeblich in die Forschung und Entwicklung investiert. Dies ist ein wichtiger Trumpf, den die Schweiz ohne Rahmenabkommen ausspielen kann. Den dritten Punkt nennt Swissholdings nicht, aber jeder der Konzernchefs, die der Verband vertritt, weiss darüber zu berichten: Telefonnummer wählen und dem verantwortlichen Beamten oder Politiker anrufen, ihm das Problem schildern, und ihn bitten, sich des Themas anzunehmen. Damit eine Branche in der Wirtschaftstätigkeit leichter vorwärts kommt.Drei Beispiele: Vorteile Singapurs Die Finanzmarktaufsicht. Sie heisst dort Money Authority of Singapore (MAS) und ist Teil der Notenbank des Landes. Als solche ist sie dem wirtschaftlichen Erfolg des Landes verpflichtet. Sie MAS sieht sich eher in der Rolle des Coach, der die Banken zwar überwacht, aber auch anleitet. Mit diesem Stil hat sie Ähnlichkeiten zur Finanzmarktaufsicht in Luxemburg. Anders die Finma: Sie ist eine unabhängige Behörde mit Durchgriffsmöglichkeiten und sorgt für einen sauberen Finanzplatz, in dem die Regeln (Compliance, Risikokontrolle, Kapitalausstattung, Einhaltung der Gewähr etc.) eingehalten werden. Wer gegen Vorschriften verstösst, wird geahndet oder gar bei der Bundesanwaltschaft angezeigt. In den letzten Jahren stand die Finma in der Kritik, weil sie nach der Finanzkrise 2008 die Zügel anzog. In den letzten Jahren näherte sie sich dem Stil des MAS an, was sich beim Umgang mit Crypto-Währungen zeigten, die sich stark entwickelte.Rechtssicherheit: Während in den Ländern Asiens wie Philippinen, Südkorea, China, Thailand oder in Hongkong die Politik für grosse Unsicherheiten sorgt, präsentiert sich Singapur als ruhende Insel. Die politische Stabilität und die Rechtsstaatlichkeit sorgen dafür, dass viele Firmen und Finanzinstitute Personal in den Stadtstaat verlagern. Als Nicht-Mitglied der EU kann die Schweiz vom Brexit nicht profitieren, der den Finanzplatz London weniger attraktiv machte. Profitiert davon haben eher Frankfurt, Luxemburg oder Madrid. Starting a business: Es ist kaum einfacher als in Singapur, eine Firma zu gründen und zu schliessen. in den meisten Standort-Rankings schliesst das Land in dieser Disziplin als Beste ab. Die Schweiz hat sich in den letzten Jahren zwar verbessert, aber noch immer sind die Wege länger. Bei den Startup-Firmen, die steuerlich wenig attraktiv waren, hat man nach öffentlichem Druck nachgebessert. (bar)

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Jenseits der Bilateralen: Die Schweiz der Zukunft