Roche versus Novartis: Die grosse Aufholjagd

So schnell können sich die Dinge ändern: Vor vier Jahren dümpelte der Aktienkurs von Roche noch um die 250 Franken. Das Ablaufen der Patente auf die Krebsmedikamente Mabthera/Rituxan, Avastin und Herceptin – alles Megablockbuster – lastete wie Blei auf den Valoren.Tempi passati. Nun ist es Novartis-Konzernchef Vas Narasimhan, der um das Vertrauen seiner Investoren kämpft. Der «Unboss» vom linken Rheinufer hat zwar im Rekordtempo aus dem von Daniel Vasella gezimmerten Konglomerat einen auf innovative Medikamente spezialisierten Pharmakonzern gebaut. Die Augenheilsparte Alcon ist schon weg; Sandoz, das Geschäft mit den Generika und den Biosimilars, steht auf dem Prüfstand. Nun aber macht ihm eine Reihe schwacher Neulancierungen zu schaffen. Wird der Versuch gelingen, aus Novartis eine zweite, vielleicht sogar bessere Roche zu zimmern? Eine Analyse der beiden Basler Pharma-Champions in sieben Punkten: 1. Die Bewertung Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis Roche Nestlé als wertvollsten Schweizer Konzern ablöst. Rund 25 Milliarden Franken trennen Roche-Chef Severin Schwan vom obersten Podest im Olymp der SMI-Konzerne. 315 Milliarden Franken bringt der Basler Pharmakonzern aktuell auf die Waage, bei Nestlé sind es 340 Milliarden. Mit gegen 380 Franken notierte der Roche-Genussschein Ende 2021; kurzzeitig lag er sogar darüber. Ein paar weitere positive Studienresultate – und die Marke von 400 könnte fallen. Bei der Deutschen Bank, Bernstein Research und Jefferies & Company figuriert die Roche-Aktie bereits mit Kurszielen von deutlich über 400. Am weitesten geht Goldman Sachs. Die Nobelbanker von der Wall Street trauen Konzernchef Severin Schwan und seiner Mannschaft sogar einen Kurs von 471 Franken zu. Das sind Werte, von denen Novartis-Konzernchef Vas Narasimhan nur träumen kann. Sein Aktienkurs schwächelt, derzeit ist der Konzern mit gerade mal noch 200 Milliarden Franken kapitalisiert; wobei man die Augenheilsparte Alcon korrekterweise dazurechnen müsste, die 2019 an die Börse gebracht wurde. Schliesslich wurden die Novartis-Aktionäre beim Spin-off an Alcon beteiligt. Alcon wird mittlerweile mit knapp 36 Milliarden Franken bewertet. Dennoch, Novartis geht durch ein Tal der Tränen. Zwei Gründe: Zum einen stehen auch Novartis in den nächsten Jahren beachtliche Patentabläufe ins Haus. Das sorgt für kalte Füsse bei den Investoren. Zum anderen sind einige neue Produkte schlecht in die Gänge gekommen. «Der Bewertungsunterschied zwischen Roche und Novartis macht mit Blick auf die jüngere Vergangenheit Sinn», sagt Lorenzo Biasio, Pharmaanalyst bei der Credit Suisse. Roche habe sich als Innovationsführer etabliert, das Unternehmen habe in den vergangenen Jahren gezeigt, dass die Pipeline genug Nachschub liefere, um auslaufende Produkte zu ersetzen. Gleichzeitig braucht es womöglich gar nicht einmal so viel, und Novartis ist wieder zurück im Spiel. Nicht von ungefähr sehen einige Analysten die Chance für einen Einstieg in die Aktie. «Der aktuelle Kurs reflektiert die vielen Baustellen bei Novartis», sagt Credit-Suisse-Analyst Lorenzo Biasio. Die Aktie könnte schnell an Fahrt gewinnen könne, «sollte etwas zum Fliegen kommen». Mario Geniale von der Bank CIC sagt ebenfalls: «Mir gefällt aktuell eindeutig Novartis besser.» 2. Die Börsenstory Roche ist immer wieder für ein Highlight gut. Das war bei Ocrevus so, dem Medikament gegen Multiple Sklerose, mit dem Roche in den vergangenen Jahren die Konkurrenz abhängte. Oder in der Pandemie, die der Diagnostiksparte mit dem Covid-19-Testing einen Boost verpasste. Dieses Jahr richten sich alle Augen auf den Alzheimer-Wirkstoff Gantenerumab. Showtime ist im zweiten Halbjahr 2022, wenn die Studienresultate vorliegen sollen. Ausgang: offen. Im besten Fall gelingt es Roche, zu beweisen, dass Gantenerumab nicht nur die Ablagerungen im Gehirn von Alzheimer-Patienten und -Patientinnen reduziert, sondern dass es auch – anders als das bereits zugelassene Aduhelm von Konkurrent Biogen – dazu führt, dass es den Erkrankten besser geht. Denkbar ist aber auch eine Wiederholung des Aduhelm-Szenarios: Das Medikament wird zwar zugelassen, hebt dann aber kommerziell doch nicht ab, weil die Ärzte und Ärztinnen skeptisch sind und weil es, wie Aduhelm, von den öffentlichen Krankenkassen in den USA nicht vergütet wird. Bei Novartis ist die Storyline schwieriger zu erkennen. Doch auch hier sind einige wichtige Meilensteine in Sicht, vor allem auf dem Gebiet der Herz-Kreislauf-Erkrankungen, einem Schwerpunktgebiet von Novartis. Zudem mag der Konzern kein unbestrittener Innovationsführer sein wie Roche, aber er ist auf dem Weg dazu. 23 Mal hat die amerikanische Zulassungsbehörde FDA in den vergangenen sechs Jahren einen Wirkstoff von Novartis mit dem Status eines potenziellen medizinischen Durchbruchs («breakthrough designation») geadelt. Das ist ein Rekordwert. Die Umsätze der patentgeschützten Medikamente (ohne Krebs) stiegen von 2018 bis 2020 von 35 auf 39 Milliarden Dollar. 6 potenzielle Multimilliardenprodukte sind auf dem Markt, 65 Wirkstoffe befinden sich in der dritten klinischen Phase oder werden gerade registriert. Auch diese Zahl kann sich sehen lassen. 3. Die Patentklippe Roche-Konzernchef Severin Schwan hat sie bald überstanden, Vas Narasimhan steht sie noch bevor: die gefürchtete Patentklippe, eine Kumulation von auslaufenden Patenten auf umsatzstarke Produkte. Bei Novartis ist die Klippe zwar nicht so giftig wie bei Roche, wo das Krebstrio Mabthera/Rituxan, Avastin und Herceptin für die Hälfte aller Pharmaumsätze im Unternehmen verantwortlich war. Aber auch bei Novartis werden Spitzenprodukte wie das Herzmedikament Entresto, das MS-Medikament Gilenya oder Cosentyx, ein Mittel gegen Schuppenflechte, in den nächsten Jahren ihren Patentschutz verlieren und Konkurrenz von günstigeren Generika bekommen. Ob Novartis in der Entwicklung genügend PS auf den Boden bringt, um die Umsatzrückgänge mit neuen Produkten zu kompensieren? Ein Blick in die jüngste Vergangenheit sorgt für Zweifel. Kymriah, die bahnbrechende Zelltherapie zur Behandlung von Leukämie bei Kindern, ist auch drei Jahre nach dem spektakulären Zulassungserfolg bei der FDA noch kein Milliardenprodukt. Novartis-Konzernchef Vas Narasimhan über die Lehren aus der Pandemie, seinen Führungsstil und ambitionierte Pläne. In den ersten drei Monaten des vergangenen Jahres lagen die Umsätze gerade mal bei 444 Millionen Dollar. Beovu, ein Medikament gegen altersbedingte Makuladegeneration und eine der grossen Umsatzhoffnungen von Konzernchef Vas Narasimhan, kam nicht auf Touren. Bei einigen Patienten und Patientinnen kam es zu einem Verlust des Sehvermögens und zu Augenentzündungen. Das Medikament ist zwar auf dem Markt, doch sein Beipackzettel musste auf Geheiss der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) mit einem entsprechenden Sicherheitshinweis versehen werden, was auf die Umsätze drückt. Es wird wohl nie an den Erfolg des Kassenschlagers Lucentis anknüpfen können, dessen Nachfolger es eigentlich werden sollte. Dazu kamen Rückschläge in der Pipeline wie zuletzt bei Ligelizumab, einem Medikament gegen Nesselsucht. 4. Die PipelineProduktepipelines sind die Lebensadern von Pharmaunternehmen; zumindest von solchen, die auf innovative Therapien fokussieren. Roche sitzt auf einer der am prallsten gefüllten Pipelines der Pharmaindustrie. Allein im Bereich Krebs haben Konzernchef Severin Schwan und seine Pharmachef Bill Anderson 27 klinische Studien der dritten (und letzten klinischen) Phase am Laufen. In der Neurologie sind immerhin fünf vielversprechende Studien am Start. Das kommt gut an bei den Investoren, denn das Gebiet könnte nach dem aufsehenerregenden Zulassungserfolg für das Alzheimermedikament Aduhelm bei Biontech und anderen Forschungserfolgen der jüngsten Zeit für die 2020er Jahre das werden, was die Onkologie für die 2010er Jahre war: eine Goldgrube. Roche ist top bei Forschung und Entwicklung. Das zeigt auch diese Klassierung: Der britische Marktforscher Evaluate Pharma bezifferte den Wert der Roche-Pipeline im vergangenen Jahr auf 22,4 Milliarden Dollar. Die Basler landeten damit auf den zweiten Platz hinter dem US-Pharmakonzern Eli Lilly, dessen Pipeline zurzeit mit einem geschätzten Wert von 45,6 Milliarden Dollar alle anderen in den Schatten stellt. Mehr noch: Untersuchungen zeigen, dass Roche im Industrievergleich eine gute Forschungsproduktivität hat, das heisst, die Trefferquote ist gut. Und dies, obwohl es im Industrievergleich hohe Risiken eingeht. Auch diese Kombo ist ganz nach dem Gusto der Investoren. Das Potenzial von Novartis ist etwas schwieriger zu erkennen. In der Pipeline-Bewertung von Evaluate Pharma schafft es das Unternehmen auf Platz sechs. Dafür stossen die Investoren bei Novartis auf einzigartige Technologien wie die Radioligandentherapie, eine neue nuklearmedizinische Methode zur Bestrahlung von Tumoren, bei der die umliegenden Zellen minimal beschädigt werden. Oder auf Leqvio, einen neuen Cholesterinhemmer, den sich Novartis mit der Übernahme der 9,7 Milliarden Dollar teuren The Medicines Company ins Haus geholt hat. Es handelt sich dabei um ein Medikament, das, wie die Covid-19-Impfstoffe von Moderna und Biontech, auf einer RNA-Technologie basiert. Wobei es bei Leqvio nicht wie bei den Impfstoffen darum geht, den Körper dazu zu bringen, etwas zu tun – nämlich Antikörper gegen das Coronavirus zu bilden –, sondern vielmehr zu verhindern, dass er etwas tut. Das Medikament bindet nämlich ein Protein, welches an die Rezeptoren des Cholesterins andockt und damit verhindert, dass dieses in der Leber abgebaut werden kann. In der EU ist das Medikament bereits zugelassen, die heiss ersehnte US-Zulassung kam für Konzernchef Vas Narasimhan kurz vor Weihnachten. Nun wird sich zeigen, ob es der Leqvio-Sales-Force gelingt, das Medikament genügend schnell in den Markt zu drücken. Klar ist: Bei Leqvio muss es besser laufen als bei Entresto, dem Herzmedikament, bei dem sich Novartis zu sehr in Sicherheit wähnte und anfänglich zu wenig Anstrengungen unternahm, um die Kardiologen von den Vorzügen des neuen Medikaments zu überzeugen. Die Umsätze, die Novartis in der Anfangszeit von Entresto verschenkte, werden sich trotz dem aktuellen Erfolg des Medikaments nie mehr einspielen lassen. 5. Neue Technologien Eine der Stärken von Novartis liegt im Mut, mit dem das Unternehmen in neue Technologien einsteigt. Vas Narasimhan und sein Forschungschef Jay Bradner haben die Ambition, bei den neuen Technologien an vorderster Front dabei zu sein, und sind bereit, dafür auch Risiken einzugehen. Die Cart-Technologie von Kymriah war so ein Beispiel. Oder die Gentherapie Zolgensma. Der Status als «First Mover» bei neuen Technologien ist eine Chance. Dann nämlich, wenn man zum richtigen Zeitpunkt die richtige Technologie zur Hand hat. Wie bei den Impfunternehmen Biontech und Moderna, die schnell ein Covid-Vakzin liefern konnten. Er birgt aber auch das Risiko, dass man zu früh einsteigt und zu viel Lehrgeld bezahlt. Oder dass sich die Skalierung der Technologie als schwieriger als erhofft herausstellt. Ein Beispiel dafür ist die Gentherapie Zolgensma, deren Technologie mit einer Genfähre sich zunächst nicht tel quel auf andere Krankheiten übertragen liess. Dazu kommt, dass die meisten Investorinnen und Investoren die Sache mit den neuen Technologien etwas nüchterner sehen als das Ärzteduo an der Spitze von Novartis. Sie lassen sich erst begeistern, wenn der Tatbeweis in Form einer überzeugenden Therapie erbracht ist. Das heisst aber auch: Wenn es Novartis gelingt, die Balance zwischen wissenschaftlicher Innovation und kommerziellem Return zu verbessern, dann stehen die Chancen gut, dass das Unternehmen seinen Status als Technologiepionier auch wird kapitalisieren können. Ein erster Schritt ist offenbar gemacht. Die Novartis-Spitze soll gegenüber Investoren eingeräumt haben, dass es hier noch nicht optimal aufgestellt ist. 6. M&A Hier heisst es klar: Vorteil Novartis. Das Unternehmen sitzt nach dem Verkauf der Roche-Anteile – trotz dem angekündigten Aktienrückkaufprogramm – auf einem Haufen Cash. Und die Abspaltung von Sandoz könnte, je nachdem, wie sie ausgestaltet ist, noch mehr Geld einspielen. Was mit der Generikasparte passieren soll, wird derzeit evaluiert. Ob Novartis wieder zu Roche wird aufholen können, hängt entscheidend davon ab, ob Konzernchef Vas Narasimhan bei künftigen Übernahmen ein gutes Händchen beweist. Sein Vorteil ist, dass er sich als Arzt selbst ein Bild von möglichen neuen Assets machen kann. Wie erfolgreich er als Dealmaker ist, lässt sich noch nicht sagen. Ob sich die beiden bisherigen Grossakquisitionen aus der Ära Narasimhan rechnen – die 8,7 Milliarden Dollar teure Gentherapieboutique Avexis und die 9,7 Milliarden Dollar teure The Medicines Company –, lässt sich noch nicht beurteilen. Zurzeit hat Novartis sechs Gentherapien in der Pipeline. Wie viele davon zum Fliegen kommen, wird sich zeigen. Und bis Leqvio, der mit The Medicines Company eingekaufte Cholesterinhemmer, voll auf Touren ist, wird es nach Einschätzung von Analystinnen und Analysten noch etwas dauern. 7. Die Kultur Die Biotechnologie entwickelt sich rasant, Erkenntnisse, die gestern als gesichert galten, können morgen schon wieder überholt werden. Dazu kommen ein dynamisches regulatorisches Umfeld und ein steigender Preisdruck. Gefragt sind deshalb agile Strukturen, die es möglich machen, schnell auf Veränderungen zu reagieren. Roche ist dabei gut aufgestellt. Das Unternehmen hat von jeher eine Kultur, die den einzelnen Mitarbeitenden viel Verantwortung und Spielraum lässt. Unboss Vas Narasimhan kämpft derweil noch immer mit dem Erbe von Daniel Vasella, der das Unternehmen während 17 Jahren mit strenger Hand geführt hat. Vas Narasimhan habe viel erreicht in den vier Jahren, in denen er nun an der Spitze von Novartis steht, sagen Kenner des Unternehmens. Doch der Weg sei noch weit. Ob es Narasimhan gelingen wird, auch aus Novartis einen Innovationsführer zu bauen, wird deshalb auch davon abhängen, ob das Unternehmen mit seiner Top-down-Vergangenheit bricht und zu einer Kultur findet, die es möglich macht, das Potenzial aller Mitarbeitenden möglichst gut zu heben. Fazit: Roche mag im Moment den besseren Lauf haben. Doch die Spannung ist klar auf Seiten von Novartis. Die Aufholjagd hat gerade erst begonnen.