Kommt jetzt der Crash? Welche Signale Angst und welche Hoffnung machen

Es war ein Tag für die Geschichtsbücher. Am Montag stürzte die Börse. Der Schweizer Leitindex SMI erlebte den schwärzesten Handelstag seit März 2020. Die US-Börse Nasdaq durchlebte sogar den wildesten Ritt seit Januar 2001. Zunächst ging es 5 Prozent runter, dann kam es zur Trendwende, am Ende schloss der Index im grünen Bereich. Gleiches Bild beim Dow Jones: Der US-Index verlor gleich nach Handelsstart über 1000 Punkte und machte den Verlust dann wieder voll wett. Derartige Grosskampftage sind selten. Für den Dow Jones ist das Ausmass sogar einzigartig. Noch nie in der Geschichte hat er an einem einzigen Handelstag 1000 Punkte verloren und dann wieder über 1000 Punkte gewonnen. Schlimmer aber: Bislang war es noch nie ein gutes Omen, wenn der Nasdaq zur Achterbahn mutiert. In der Regel folgten weitere Rückschläge. Es ist also davon auszugehen, dass die Ausverkaufsstimmung anhält. Die Frage ist nur noch, ob es zum grossen Crash kommt. Der britische Börsenguru Jeremy Grantham hat darauf eine eindeutige Antwort – und sie ist niederschmetternd: Der Crash habe begonnen, sagt er. Die Märkte seien nur noch im Vampirmodus – eigentlich bereits tot, aber noch unter den Lebendigen. Er erwartet einen Sturz von mindestens 45 Prozent. Seine Worte haben Gewicht: Er warnte bereits in den 1980er Jahren vor einer Blase am japanischen Aktienmarkt, sah die Dotcom-Krise und die Finanzkrise kommen. Gleichzeitig prophezeite er die Hausse ab 2009. Es ist die bis anhin beste Weste des 83-Jährigen gewesen. Um fair zu sein, muss man aber auch sagen: Grantham hat in der Vergangenheit nicht nur korrekte Prognosen erstellt. Er hausiert schon länger mit Crash-Fantasien. Anfang des letzten Jahres prophezeite er das Ende steigender Kurse – es kam ganz anders. Dieses Mal bekommt der milliardenschwere Brite aber Rückendeckung von einem Nobelpreisträger: Der US-Ökonom Robert Shiller warnt ebenfalls vor einem Einbruch. Die Märkte, so seine Prognose, dürften «zwischen einem Drittel und 50 Prozent absacken», wie er kürzlich in einem Interview sagte. Unterm Strich bleibt eine grosse Unsicherheit: Wer hat recht – die Warner oder die Optimisten? Kommt es jetzt wirklich zum grossen Sturz – oder ist das Schlimmste bereits vorüber? Vier Gründe sprechen für den Crash, vier dagegen. Vier Gründe für den Crash: 1. Shiller-Index erreicht neues Hoch Robert Shillers Einschätzungen zum Aktienmarkt basieren stark auf einem von ihm entwickelten und weit beachteten Bewertungsmodell, der sogenannten Capital Adjusted Price-Earning Ratio (Cape). Im Kern handelt es sich um ein abgewandeltes Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV). Gemessen an der gesamten von Shiller erfassten Zeitreihe seit den 1880er Jahren liegt der Durchschnitt des Cape bei etwas mehr als 17. Das bedeutet, dass die Aktienbewertungen dem 17-Fachen der durchschnittlichen Gewinne der jeweils letzten zehn Jahre entsprochen haben. Nimmt man nur die Jahre seit 2000, liegt dieses Verhältnis im Schnitt beim rund 27-Fachen der Gewinne. Jetzt aber liegt der Wert knapp unter dem 40-fachen der Gewinne. In Kombination mit steigenden Zinsen ist das problematisch. Denn sie heben die Rendite von Staatsanleihen, die gemeinhin als risikolos gelten. Und das wiederum sorgt für Abschläge bei der Risikoprämie auf Aktien. Steigende Zinsen und überdurchschnittlich hohe Bewertungen führen deshalb in der Logik von Shiller zur Korrektur am Markt. 2. Die Stimmung trübt sich ein Viele Aktien haben in der Vergangenheit bereits deutliche Schwächesymptome gezeigt. Die Kursrekorde in den USA am Ende des letzten Jahres waren in erster Linie ein Spiegel des Erfolgs von grosskapitalisierten Unternehmen wie Google, Tesla, Apple, Microsoft. Wenn man hinter diesen glänzenden Vorhang schaut, sieht die Sache schon seit Monaten schlecht aus. Immer weniger Titel rangieren im S&P 500 über ihrem 200-Tage-Schnitt. Der Trend hält seit letztem Sommer an. Im Juli lagen noch mehr als 90 Prozent der Titel über dem 200-Tages-Schnitt. Im November waren es nur noch 75 Prozent. Aktuell sind es nur noch knapp die Hälfte. Das ist ein Zeichen für eine abnehmende Partizipation am Markt. Noch schlimmer sieht die Situation im 50-Tages-Schnitt aus. Nur noch knappe 40 Prozent der Unternehmen sind aktuell über der Marke. Der Rest rangiert darunter. Die Stimmung ist also klar negativ. Besonders hart hat es Firmen wie Moderna und Netflix erwischt. Obenaus sind fast ausschliesslich Energieunternehmen. Ein alter Bekannter schlägt sich in diesem Umfeld besonders gut: Exxon Mobil. 3. Der Schub hat zugenommen Vor dem Platzen einer Blase kommt es typischerweise zu einer Beschleunigung der Aufwärtsbewegung. Diese Beschleunigung zeigte sich gegen Ende des letzten Jahres, als es Rekorde hagelte und einzelne Titel massiv zulegten. Allein die Apple-Aktie machte einen Kurssprung von 22 Prozent in den letzten beiden Monaten des Jahres 2021. Die Firma erreichte in der Spitze eine Marktkapitalisierung von deutlich über 3000 Milliarden Franken. Fast niemand stellte sich mehr gegen steigende Preise bei den grossen Titeln. Die Angst ging um, ein Kursfeuerwerk zu verpassen. So gab es im vierten Quartal des letzten Jahres auch keine nennenswerten Wetten gegen Elon Musk und dessen E-Auto-Bauer Tesla. Die Aktie stieg und stieg, sie widersetzte sich der Schwerkraft, bis alle Widerstände gebrochen waren. Selbst die kritischsten Fondsmanager begannen, in das Papier zu investieren, da sie sonst ihre Karriere riskierten. 4. In der Kryptowelt kracht es Seit einiger Zeit korrelieren die Kapitalmärkte mit der Entwicklung der grössten Kryptowährungen. Vor zwei Jahren war das noch anders. Der Bitcoin stieg zuweilen sogar gegen den allgemeinen Trend. Das ist aber passé. Seit der Covid-19-Krise besteht eine ziemlich klare positive Relation zwischen dem Bitcoin-Kurs und dem S&P 500. Das Problem: Bitcoin taumelt seit einiger Zeit. Die meisten anderen Kryptowährungen haben das gleiche Schicksal erlitten. Abschläge von 50 Prozent und mehr sind die Regel. Beobachter sprechen bereits von einer «Eiszeit» in der Kryptowelt. Vier Gründe gegen den Crash: 1. Weltwirtschaft ist im Vormarsch Die Aussichten für die Weltkonjunktur ist intakt. Die Unternehmen erwirtschaften solide Gewinne. Mit der Omikron-Variante ist ein Ende der Covid-19-Krise absehbar, die Probleme in den weltweiten Lieferketten sollten in diesem Jahr weniger schlimm sein als im letzten. Die Konsumstimmung ist gut. Die Inflationstendenzen werden sich mittelfristig wahrscheinlich beruhigen, sobald die Preise an den Energiemärkten wieder sinken. Das alles sorgt in der Summe dafür, dass weltweit operierende Firmen Rückenwind haben und profitabel wirtschaften können. Die Gewinnaussichten der Firmen sind sogar besser als im Vorjahr – was entsprechend auch den Aktienkurs treiben müsste. Das ist die Liste des Schreckens: Es herrscht Ausverkaufsstimmung in den USA. Aber auch in der Schweiz notiert jede neunte SPI-Aktie mehr als 40 Prozent unter dem 52-Wochen-Hoch. 2. Die Tina-Regel Es gibt keine Alternative zu Aktien. Das ist die Tina-Regel – in Anlehnung an den englischen Wortlaut «There Is No Alternative». 2021 lagen Anlegerinnen und Anleger mit dieser Einstellung goldrichtig. 2022 ist die Ausgangslage eigentlich unverändert. Obligationen sind in einem Tiefzinsumfeld, das in Europa und der Schweiz mehr oder weniger unverändert Bestand haben dürfte, wenig attraktiv. Realwerte wie Immobilien sind auch keine Option. Sie liefern auf lange Sicht eine schlechtere Rendite als Aktien. Die hohen Preise in vielen Immo-Märkten treiben das Risiko. Und sollten die Zinsen dereinst auch ausserhalb der USA wieder angehoben werden, bremst das den Immo-Markt automatisch aus. Währungen, Rohstoffe und andere Anlageklassen sind schliesslich ebenfalls keine Alternativen für Aktien. Sie sind eher volatil und – mit einigen Ausnahmen – nur beschränkt sinnvoll als Fluchtpunkt. 3. Volatilität ist normal Was wir aktuell sehen, ist die gestiegene Unsicherheit und Volatilität, kein Auftakt zum Crash: Bereits am Anfang des Jahres war klar, dass 2022 kein Selbstläufer wird an den Märkten. Die Inflation zieht an, Omikron sorgt für neue Rekordzahlen in der Pandemie, die Federal Reserve zieht die Zügel bei der Geldpolitik an, dazu kommen geopolitische Spannungen zwischen den USA und China oder Russland und der Ukraine, ein Umsturz in Kasachstan und andere Baustellen. Das alles lastet auf den Märkten. Das Risiko von kurzfristigen Korrekturen und temporären Schockmomenten ist da. Die Tech-Werte haben das bislang am stärksten zu spüren bekommen. Aber deshalb muss nicht gleich das grosse Chaos ausbrechen. In der Vergangenheit gab es immer wieder Momente, in den die Volatilität massiv zugenommen hat. Crash-Propheten haben in solchen Zeiten Hochkonjunktur. Aber zum Crash kam es nicht. Der Volatilitätsindex VIX schoss am Montag auf über 30 Punkte, aber das ist nicht aussergewöhnlich. Im Dezember notierte der VIX ähnlich hoch, im Januar vor einem Jahr ebenfalls. Im Sommer und Herbst 2020 lag der Wert zweimal über 40 und im März 2020 sogar über 80. 4. Der Ukraine-Konflikt ist für den Weltmarkt Nebensache Die Abschläge vom Montag sind teilweise auf die Spannungen zwischen der Ukraine und Russland zurückzuführen. Aber der Konflikt ist nur eine Randnotiz für den Weltmarkt. Die Geschichte zeigt: Nicht einmal eine Eskalation des Konflikts sorgt für langfristige Störungen. Sollten die Russen tatsächlich einmarschieren, dürften die Märkte nach einem alten Muster reagieren: Schock, Einbruch, Rückkehr zur Normalität. «Die Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine ist politisch für Europa ein wichtiges Thema, wirtschaftlich aber ein lokales Ereignis», schrieb die St. Galler Kantonalbank jüngst in einem Kommentar dazu. «Dementsprechend werden sich die Finanzmärkte nach dem ersten Schock rasch wieder anderen Themen zuwenden.»