Justin Sun ist Diplomat und Blockchain-Unternehmer: Der sonderbare WTO-Botschafter in Genf

Justin Sun steht unter der Türe seines Privatjets in Cointrin und strahlt in die Kamera. Dann federt er in weissen Gucci-Sneakers die Gangway runter; später vermeldet er auf seinem Twitter-Account, der den Namen «His Excellency Justin Sun» trägt: «Bin eben in Genf gelandet.» Es ist der 12. Juni 2022. Sun-Time in Switzerland. Suns Leben ist ein Endlosspektakel aus der prickelnden Krypto- und Blockchain-Welt. Businessjet hier, Keynote dort, TV-Auftritt da, Limousine, Nobelhotel, Shoppen an hippen Kunstauktionen – alles live auf Twitter, Facebook, Instagram, auf Wechat und Weibo, den grössten Social-Media-Plattformen Chinas. 20 Millionen User folgen weltweit Suns Leuchtspur. Der 32-Jährige ist in Xining, Zentralchina geboren. Hauptberuflich ist er Krypto- und Blockchain-Investor, Firmenseriengründer und Kunstsammler. Jahrelang figurierte er in der «Forbes»-Liste «30 Under 30 Asia», war Young Global Leader beim WEF in Davos; das US-Portal Bloomberg nannte ihn «Krypto-Wunderkind», die «Financial Times» den «ausgebufftesten PR-Profi der Kryptoszene». Seit Anfang Jahr hat Sun eine Bühne, diesmal in Genf. Er ist nun Botschafter an der Welthandelsorganisation WTO, wo über Zölle, Tarife oder Subventionen gestritten wird. Im Centre William Rappard ist er zweifellos der schillerndste Diplomat. Und ein permanentes Reizthema. Weil der gebürtige Chinese nicht China repräsentiert, sondern den Karibikstaat Grenada. Und da hat er grosse Pläne. An der WTO-Jahrestagung diesen Juni versprach er, Grenada «zum nächsten Singapur» zu machen, zu digitaler Weltklasse, einem Hotspot für Kryptos. Davon ist das Land heute meilenweit entfernt: Das Internet ist wackelig, der Strom stammt aus ratternden Dieselgeneratoren, die Strassen säumen Autowracks. Zu reden gibt in den Gängen am WTO-Sitz auch, dass Seine Exzellenz Sun nach dem Angriff der Russen auf Twitter eine Sammelaktion für die Ukraine lancierte und eine private Spende über 200’000 Dollar in Kryptos ankündigte. Auf der chinesischen Weibo-Plattform präsentierte er ganz andere Pläne: Eben mit Russlands WTO-Vertreter und Botschafterkollege Dmitry Lyakishev in Genf gesprochen, schrieb er am 1. März, er habe ihm seine Unterstützung zugesagt. «Wir hoffen, dass wir die Zusammenarbeit mit Russland in Zukunft verstärken können!» Erstaunlich ist diese Verbrüderung mit Russland allemal, zumal Grenada an der UNO-Vollversammlung dessen Angriff – wie 140 weitere Staaten – verurteilte. Auch in der Schweiz, dem Sitzland der WTO, nervt man sich über den agilen Chinesen im Dienste Grenadas. Gemäss Wiener Konvention und Schweizer Gesetzen muss sich ein Landesvertreter entscheiden: Diplomat oder Geschäftsmann. Sun aber vermischt sein WTO-Botschafteramt permanent mit seinen Kryptoabenteuern und geriert sich bei seinen WTO-Auftritten als Markenbotschafter von Bitcoin und Co. Dass der Unternehmer seinen Diplomatenposten liebt, zeigt er in seinen Digital-Firmen, wo er mit «H.S.» oder «His Excellency» firmiert und vom Personal auch so angesprochen werden will, wie er per Slack-Kanal dekretierte. Weil der WTO-Botschafter Deals und Diplomatie vermengt, will ihm die Schweiz die Carte de Légitimation verweigern, heisst es. Damit entfallen seine Immunität und das Aufenthaltsrecht in der Schweiz – und ein Hauskauf, obwohl er in Genfer Journalistenkreisen verkündet, er sei am Genfersee auf der Suche nach einer Residenz .Sagt ein Schweizer Karrierediplomat: «Nie weiss man, wessen Interesse Sun vertritt – jene von Grenada, von China oder seine eigenen?» Er selber hilft nicht weiter. Anfänglich bot seine PR-Firma Proexpo in Shenzhen ein Gespräch an mit «der führenden Person der globalen Krypto- und Blockchain-Welt». Nach konkreten Fragen – «Wie sind Sie zu Ihrem Diplomatenpass gekommen?» – meldete sich die PR-Firma aus China ab und Justin Sun, der täglich die Welt mit Tweets und Videos berieselt, verstummte. Grosszügige Vergabe von Diplomatenpässen Der Karibikstaat Grenada mit 115’000 Einwohnerinnen und Einwohnern ist eine ehemalige britische Kronkolonie, die Hauptstadt St. George’s mit 6000 Einwohnerinnen und Einwohnern ist vielfarbig, aber baufällig. Eine stille Insel in den Antillen, wirtschaftlich fragil; Hochseesegler geniessen die traumhaften Buchten und den starken Ostwind. Andere Besucher schätzen die grosszügige Vergabe von Staatsbürgerschaften und Diplomatenpässen. Justin Sun erkaufte sich die grenadische Staatsbürgerschaft durch das Programm «Passport by Investment»; das tun 500 Ausländer im Jahr und zahlen dafür je 150’000 bis 300’000 Dollar, legal. Grenadas Pässe sind in China und Russland begehrt, sie garantieren visumsfreies Reisen, zumal im Westen. Etwas komplexer ist es mit Diplomatenpässen. Sie sind ebenfalls käuflich, inoffiziell. Laut Quellen in St. George’s werden in abgedunkelten Hinterzimmern sechsstellige Summen für den Diplomatenstatus bezahlt. Ein Insider kennt das Prozedere: «Die Chinesen und Russen zahlen Cash, verpackt in Couverts.» Das Geld lande auf Politiker-Privatkonti oder in der Parteikasse; woraus vor Wahlen das Staatspersonal mit Boni beglückt wird. Dutzende Chinesen haben sich als Diplomaten auf der Karibikinsel eingenistet. Eine der «Handelszeitung» vorliegende Liste mit Ausländern, die mit grenadischem Diplomatenpass reisen, listet dreissig Chinesen auf; zwanzig tragen den Titel «Trade Commissioner». Die Zahlen zeigen: Kein Land dieser Welt hat eine höhere Dichte an Handelsbevollmächtigten wie der Ministaat in der Karibik. Der prominenteste unter ihnen: Justin Sun, WTO-Botschafter in Genf. Es ist ein Geben und Nehmen: Die Chinesen sichern sich mit Dollars Grenadas Diplomatie und finanzierten obendrein den Ausbau des überdimensionierten Cricket-Stadiums in St. George’s. Derweilen schwenkte Grenada 2005 auf eine One-China-Politik und brach die einst engen Beziehungen mit Taiwan ab. Gründer des «Snapchat Chinas» Justin Sun, der in China offiziell Yuchen Sun heisst, studierte an der Hupan-Universität, die Alibaba-Gründer Jack Ma gegründet hatte. Nach Studienabschluss gründete der junge Tech-Pionier die Dating-App Peiwo, die zum «Snapchat Chinas» («Forbes») aufstieg, und die Blockchain-Plattform Tron, aus welcher der Stablecoin USDD erwuchs, ein Konkurrent zu Ethereum. Seine Innovationen brachten ihm ein Vermögen von 400 bis 500 Millionen Dollar ein. Und er langte auch kräftig zu: 2018 kaufte er für 130 Millionen Dollar die US-Tech-Firma Bittorrent, aus der er den BTT-Token schuf. Bei Sotheby’s ersteigerte er Alberto Giacomettis Werk «Le Nez» für 78 Millionen, Beeples «Everydays: the First 5000 Days» für 69 Millionen, Picassos «Femme nue couchée au collier (Marie-Therese)» für 20 Millionen. Dazu sicherte er sich für 28 Millionen einen Sitz im «Blue Origin»-Raumschiff von Jeff Bezos. «Ich bin stolz, der erste Grenader, Diplomat und Blockchain-Industrie-Leader zu sein, der in den Weltraum fliegt», schrieb er nach dem Zuschlag auf Twitter und nannte sich fortan «Crypto-Diplomat und Crypto-Weltraum-Pionier». Den legendären Lunch mit Warren Buffett ersteigerte er 2019 für 4,6 Millionen Doller und schrieb auf Twitter: «Ich verkünde hiermit offiziell, dass ich das Charity-Mittagessen mit Warren Buffett, dem Titan des Geldanlegens, gewonnen habe.» Dieser allerdings hält nichts von Krypto und nennt es «Rattengift». Sun nahm sich derweilen vor, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Das Gipfeltreffen zwischen alter und neuer Investorenwelt kam nicht zustande. Kurz vor dem Termin meldet Sun via Twitter, er müsse den Lunch wegen einer Nierenstein-Operation verschieben. Das Parteiorgan «China Daily» verbreitete in seiner Heimat allerdings eine andere Story: Sun habe den Lunch mit Buffett abgesagt, weil er verdächtigt werde, in einen Geldwäscheskandal und illegales Fundraising involviert zu sein. Seine Reaktion auf Weibo liess nicht lange auf sich warten: «Ich habe mich unreif verhalten, die Kontrolle über mich verloren und meine Arbeit ‹überverkauft›.» Und zeigte sich in der Pose des reuigen Sünders überglücklich, im prosperierenden Sozialismus Chinas leben zu dürfen. Selbst für den staatlichen Internetregulator, der nach dem Initial Coin Offering (ICO) seiner Kryptowährung USDD im Herbst 2017 jedes weitere ICO im Land verboten hatte, fand er warme Worte. Die Kryptowelt Chinas habe sich nur dank weiser Regulierung derart stark entwickelt. Drei Klagen in den USA Während Justin Sun in seiner Heimat den geläuterten Kommunisten mimte, verabschiedete er sich 2019 durch die Hintertür. Seine Aktivitäten waren nun in Malta, San Francisco, Delaware und auf den Seychellen domiziliert. Dorthin verschob er seine Krypto-Tauschbörse Poloniex, nachdem ihm Kanadas Finanzbehörden wegen fehlender Verkaufslizenz auf die Finger klopften. Ärger gibts auch in den USA. Aktuell hat er drei Klagen ehemaliger Mitarbeitender am Hals, die heikelste vor dem Obergericht in Kalifornien, eingereicht im Mai dieses Jahres, wie Unterlagen zeigen. Kläger ist Steve Heinrich, sein ehemaliger Controller seiner Firma Bittorrent (heute: Rainberry), der behauptet, Sun habe mehrfach gegen Vorschriften der Börsenaufsicht und der Steuerbehörden verstossen. Anwälte und Sun verwahren sich gegen die Vorwürfe. Diskussionsbedarf gabs offenbar auch in Italien. Gemäss «Handelszeitung»-Recherchen verhandelte Sun Anfang 2022 mit dem Formel-1-Rennstall Ferrari über eine Logopräsenz seiner Blockchain-Ecosystems. Es sei um einen Drei-Jahres-Deal über insgesamt 100 Millionen Dollar gegangen, sagt ein Involvierter. Die Verhandlungen waren fortgeschritten; Sun drückte auf Twitter bereits aufs PR-Pedal: «Bald gibt es hier Grosses zu verkünden!», schrieb er im Januar. Doch der Deal kam nie zustande. Die Ferrari-Compliance, heisst es, habe sich quergelegt, weil in Suns Umfeld «etwas viele Chinesen mit Beziehungen zur Regierung» sässen. Zudem seien Fragen zu den wirtschaftlich Berechtigten – Know your Client – aufgetaucht. Schliesslich landete nicht Justin Suns Tron-Projekt bei Ferrari, sondern das Digital-Startup Velas Network mit Sitz in Zug. Sun wollte auch zu seinem Fast-Ferrari-Engagement keine Stellung beziehen. Genfer Diplomatenpass in Gefahr In Grenada fanden Ende Juni 2022 Parlamentswahlen statt, in welchen der als korrupt geltende Ministerpräsident Keith Mitchell überraschend abgewählt wurde. Der 75-jährige Politiker hatte die Insel über 22 Jahre wie seine Privatfirma geführt und Staatsaufträge an Friends and Family vergeben. Der neue Premier, Dickon Mitchell, ein 44-jähriger Anwalt, hat der Korruption den Kampf angesagt. An seiner ersten Pressekonferenz Ende Juni kündigte er in St. George’s an, den Verkauf von Diplomatenpässen an Ausländer zu stoppen. Grenada müsse die Diplomatie wieder in die eigenen Hände nehmen, meinte er, und kündigte an, sämtliche Botschafter des Landes abzuberufen. Eine gute Nachricht für das Land, eine schlechte für «His Excellency Justin Sun», denn der muss wohl bald schon auf seinen Genfer Diplomaten-Chic verzichten. Eine schöne Aufgabe bleibt dem Mann aus China, der es mit Cash bis zum Botschafter Grenadas schaffte: Er ist letzten Herbst zum Krypto-Forschungsbeauftragten an der Kaderuniversität der Kommunistischen Partei berufen worden. Wie er auf Weibo vermeldete. Dieser Artikel erschien erstmals am 23. August 2022.

Justin Sun ist Diplomat und Blockchain-Unternehmer: Der sonderbare WTO-Botschafter in Genf

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