Was wir aus dem ersten Lockdown gelernt haben

Menschenleere Strassen, überfüllte Intensivstationen, Restaurants und Läden geschlossen: Das war der Corona-Frühling 2020. Nun steigen die Infektionen wieder exponentiell an. Doch diesmal wissen wir es besser – neun Punkte zur Analyse: 1. Die Lernkurve der Wirtschaft «This time is different», sagt Rudolf Minsch, Chefökonom von Economiesuisse. Die Unternehmen hätten aus den Erfahrungen im Frühling gelernt und überzeugende Schutzkonzepte eingeführt. «Natürlich gibt es schwarze Schafe», sagt Minsch; doch vor allem die Industrie habe sehr viel getan, um Ansteckungen zu verhindern. Und das mit gutem Grund: Schliesslich hängt über jedem Betrieb das Damoklesschwert der Quarantäne, wenn das Virus bei einem oder einer Mitarbeitenden nachgewiesen wird. «Die Unternehmen setzen alles daran, zu verhindern, dass eine Schicht ausfällt oder dass es anderweitig zu Produktionsausfällen kommt», sagt der Wirtschaftsvertreter. Viel verspricht man sich in der Wirtschaft von den Schnelltests. Diese reagieren nicht wie die PCR-Tests, die schon seit Beginn der Pandemie verfügbar sind, auf das Virus selbst; sie sprechen auf ein Protein auf der Oberfläche des Virus an. Ihr Vorteil: Das Resultat ist in wenigen Minuten – bei den beiden Schnelltests des Basler Pharmakonzerns Roche sind es 15 beziehungsweise 18 Minuten – verfügbar. Schnelltests sind vor allem geeignet, um Infizierte zu erkennen, die eine hohe Viruslast haben und die deshalb besonders infektiös für andere sind. Im Ausland, etwa in Deutschland und Grossbritannien, gibt es diese Tests schon. In der Schweiz werden sie Ende Oktober oder Anfang November zur Verfügung stehen. Die Tests werden zurzeit im Crive, dem nationalen Referenzlabor des Genfer Unispitals, validiert. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) rechne «mit den vollständigen Resultaten in den nächsten Tagen», wie Sprecher Yann Hulmann sagte. 2. Die Fortschritte der Wissenschaft Es ist keine Zeit der Gewissheiten. Dafür ist das Virus noch zu jung. Doch ein paar Dinge wissen wir schon ein bisschen genauer als im Frühling. Sars-CoV-2 wird hauptsächlich über Tröpfchen übertragen, also über kleine Partikel, die beim Husten, Sprechen oder Singen ausgestossen werden. Welche Rolle Aerosole, also Kleinstpartikel, die nicht absinken, sondern sich über längere Zeit in der Luft halten, beim epidemiologischen Geschehen spielen, ist aber noch unklar. Ein grosses Fragezeichen ist – auch mit Blick auf eine mögliche Impfung – hinter die Immunität zu setzen. Es gibt Studien, die darauf hindeuten, dass ein Teil der Infizierten keine Antikörper aufbaut, also womöglich nicht oder nur unzureichend gegen eine zweite Infektion geschützt ist.Die Pandemie in Zahlen 41 Millionen Menschen haben sich bis jetzt weltweit mit dem neuen Coronavirus infiziert. 1,125 Millionen Menschen sind an Covid-19 gestorben, davon mehr als 220'000 in den USA. 86'167 Menschen wurden in der Schweiz positiv auf das neue Virus getestet. 2145 Menschen sind seit Ausbruch der Pandemie im Frühling in der Schweiz am Virus verstorben. «Zum jetzigen Zeitpunkt ist ungewiss, wie regelhaft, robust und dauerhaft eine Immunität aufgebaut wird», schreibt das deutsche Robert-Koch-Institut. Und auch das hat uns Sars-CoV-2 über sich verraten: Es mutiert nur wenig – was hinsichtlich Impfung gut ist. Es mag zwar die Kälte, wie wir gerade schmerzlich erleben; es überlebt aber, anders als Grippeviren, auch bei wärmeren Temperaturen. 3. Spitäler sind besser aufgestellt Meldungen von Ärztinnen und Pflegenden, die sich nicht ausreichend gegen eine Infektion schützen können, wird es aller Voraussicht nach nicht mehr geben. Das Unispital Basel hat «grosse Lager an kritischem Material angelegt», sagt Mediensprecher Nicolas Drechsler. Doch nicht nur die Spitäler, auch die Kantone und der Bund haben aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und sich mit Masken und Schutzmaterial eingedeckt. Auch sonst haben viele Spitäler die vergangenen Monate genutzt, um sich auf die zweite Welle vorzubereiten. So wurde etwa in Basel ein zusätzlicher Sauerstofftank eingebaut. Die Spitäler haben Vorkehrungen getroffen, damit Covid-19-Patienten konsequent getrennt werden können, um das Infektionsrisiko zu minimieren. Auch das war im Frühling nicht überall möglich. Es gibt eine nationale Koordination der Intensivbetten – und die Rega hat den Auftrag, Covid-19-Patienten wenn nötig zu verlegen. 4. Bei der Behandlung hat sich viel getan Die Welt wurde nicht neu erfunden seit dem Frühling, als Intensivmedizinerinnen und Infektiologen erstmals Covid-19-Patienten vor sich hatten. Neue Medikamente gibt es keine. Auch in der zweiten Welle wird weitgehend auf das bestehende Arsenal abgestellt werden müssen. Das heisst nicht, dass sich nichts getan hat. «Wir sind gescheiter geworden», sagt Abraham Licht, Chefarzt am Notfallzentrum Hirslanden. «Im Frühling haben wir einiges ausprobiert, von dem wir heute wissen, dass es nicht wirkt oder dass es sogar gefährlich ist.» Dazu zählt das Malaria-Medikament Hydroxychloroquin. Dafür hat sich das gute alte Kortison bei Covid-19 bewährt. Remdesivir, ein ursprünglich gegen Ebola entwickeltes antivirales Medikament, werde aufgrund der Erfahrungen vom Frühling heute früher eingesetzt, sagt Manuel Battegay, Chefarzt Infektiologie und Spitalhygiene am Unispital Basel. Die Datenlage zum Antikörper von Regeneron, der womöglich dazu führte, dass Donald Trump so schnell wieder auf den Beinen war, ist noch dünn. Er wird zwar getestet, kommt aber nicht breit zum Einsatz. «Ich bin zuversichtlich, dass wir die zweite Welle bewältigen werden», sagt Intensivmediziner Abraham Licht. Eine andere Frage ist, ob weniger Menschen an Covid-19 sterben werden. «Ob es gelingt, die Sterblichkeit signifikant zu reduzieren, kann noch nicht gesagt werden», sagt Hans Pargger, Chefarzt der Intensivstation des Unispitals in Basel. 5. Die Krux mit dem Föderalismus Wer befielt welche staatlichen Covid-19-Massnahmen – jeder Kanton selber oder der Bund für alle? Vor dem Lockdown waren es die Kantone, dann war es – mithilfe des Notrechts – der Bund und heute sind es beide. Darüber, ob dies die Virusbekämpfung verbessert, ist man sich uneins. Die Befürworter des Föderalismus argumentieren mit der regionalen Betroffenheit: Ein Kanton mit wenigen Covid-19-Fällen solle weniger Massnahmen anwenden dürfen als Kantone mit einer starken Infektionsverbreitung. Gegner sagen, dass es oft zu absurden Situationen komme. Ein Beispiel waren die Shoppingcenter des aargauischen Spreitenbach. Sie durften ohne Maskenpflicht operieren, während Läden im benachbarten Dietikon eine Maskenpflicht durchsetzen mussten. Gegner argumentieren auch, dass die Qualität der Umsetzung in den Kantonen stark divergiere, so etwa beim Contact-Tracing. Doch Befürworter sehen darin eine Stärke: Die beste Praxis setze sich so früher oder später durch. 6. Die Datenlage ist umfangreicher Die Datenlage ist heute besser als im Frühjahr. Bis März wurden Infektionszahlen von Hand in Formulare eingefüllt, teilweise per Fax ans Bundesamt für Gesundheit (BAG) übermittelt und dort manuell eingegeben. Die Folge waren verspätete und nicht kohärente Daten. Das hat sich verbessert: Jetzt gelangen alle positiven Laborresultate innert zwei Stunden digital ins BAG. Die Eingabe von Meldungen durch Ärzte und Spitäler wird einfach. Alle Lagedaten werden heute digital und maschinenlesbar publiziert. Was bleibt: Die Daten der Kantone sind nicht identisch zu den BAG-Daten. Dies liegt an der unterschiedlichen Erhebung. Und der Ansteckungsort bleibt öfters unbekannt.Kommentar: Weniger Alarmismus, mehr Argumente Die einseitige Berichterstattung der Medien zu Pro-Covid-Massnahmen wird endlich kritisch hinterfragt. Hier gehts zum Kommentar. Seit Mai gibt es Daten zu Personen in Quarantäne. Sie stammen aus 20 von 26 Kantonen. Eine Datenbank im Aufbau. Das Gleiche gilt fürs Contact-Tracing in 16 Kantonen. Die Datenbank ist fertig, 6 Kantone nutzen sie. Das Contact-Tracing bringt wichtige Erkenntnisse darüber, wie sich das Virus im Detail verbreitert. Die Daten nutzen jetzt das BAG, die Forschung sowie die Politik, um zielführendere Massnahmen zu verhängen. 7. Es gibt Erfahrung mit Lockdown Als der Lockdown verhängt wurde, hatte der Bundesrat keine Ahnung, was passiert. Heute sind Zahlen vorhanden, welche die Folgen im Detailhandel, Gastgewerbe, ÖV, Bau und Eventbereich, in der Kultur, im Sport und teilweise in der Verwaltung beziffern. Die Wirtschaft lief zu ungefähr 85 Prozent der bisherigen Tätigkeit weiter. Knapp zwei Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer waren in Kurzarbeit temporär arbeitslos und über 140 000 Firmen bezogen Gelder aus der Arbeitslosenkasse. Nach dem Lockdown hat sich die Wirtschaft bis zu 95 Prozent erholt. Der Einbruch war nicht nur die Folge der Tätigkeitsverbote, sondern auch von Grenzschliessungen. Importe erreichten die Schweiz nicht und die Exportindustrie konnte ihre Produkte nicht absetzen. Dieser Effekt macht laut KOF heute drei Viertel des Wirtschaftseinbruchs aus. Zur Massenarbeitslosigkeit kam es bisher nicht. Auch die Zahl der Konkurse hat sich nicht markant erhöht. Allerdings verbot der Bundesrat Corona-bedingt Betreibungen. Dieses Verbot ist jetzt ausgelaufen. Die finanziellen Reserven der Firmen dürften stark reduziert sein. Dies lässt vermuten, dass ein zweiter Lockdown etlichen Firmen das Genick brechen würde. Doch Daten dazu gibt es nicht. Die mikroökonomischen Verluste sind bis heute nicht beziffert. Durch Corona entstanden auch neue Geschäftsfelder – und die Digitalisierung im Absatz und in der Herstellung wurde vorangetrieben. Die Innovation dürfte erheblich beschleunigt worden sein. Auch dieser Effekt ist nicht quantifiziert. 8. Wie teuer die Staatshilfe ist Zunächst hiess es, der Staat müsse 60 bis 70 Milliarden Franken ausgeben, um die Wirtschaft und den Konsum zu retten. Dieser Betrag wurde später stark relativiert. Derzeit belaufen sich die kumulierten Covid-19-Rahmenkredite und Ausgaben des Bundes auf rund 25 Milliarden Franken. Der Staat kann diese Schulden mit einer Aufnahme am Kapitalmarkt locker schultern. Auch gewisse Kantone kompensierten Verluste, darunter die Mieterlasse, und stützen millionenschwer ihre regionale Wirtschaft. Unbekannt ist bis heute, ob mithilfe von Covid-19-Krediten die Innovation gefördert werden könnte. Eine solche ist bis heute verboten. 9. Das Virus stoppt nicht an der Grenze Ab März wurden fast alle Grenzen gesperrt. Die Einreise aus Drittstaaten ist bis heute untersagt, etwa für US-Bürger oder Serben. Diese Blockaden hat zur erheblichen Behinderung des freien Warenverkehrs geführt, der Grenzgänger, des Tourismus und der Wirtschaft, etwa im Entsendewesen und bei Berufsreisen. Der Luftverkehr kam zum Erliegen. Diese Fehler sollten nicht wiederholt werden. Bekannt war schon damals – und gilt auch heute: Das Virus stoppt nicht an der Grenze. «In der jetzigen epidemiologischen Situation sind Einreisesperre und Binnengrenzkontrollen keine geeigneten Massnahmen mehr, um die Verbreitung des Virus zu hemmen», sagt das Aussendepartement (EDA). Hygienemassnahmen und das Contact-Tracing seien das «effizientere und verhältnismässige Mittel» zur Prävention. Die Schweiz will eine erneute Abschottung verhindern: «Wenn solche Massnahmen nicht auf klaren, faktenbasierenden epidemiologischen Kriterien beruhen, kann der Bund bei den betreffenden Regierungen intervenieren», so das EDA. In Belgien hat sie erfolgreich interveniert. Swiss Global Enterprise sagt, dass Kantone unbedingt von Covid-19-Risikolisten anderer Länder wegkommen sollten, weil so die Arbeit von Schweizer Exporteuren in diesen Ländern behindert würde.