Die drei Corona-Pandemieszenarien für den Herbst

Niemand will sich derzeit mit Prognosen die Finger verbrennen, nicht das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und nicht die Covid-Taskforce des Bundes. Mit ein Grund ist, dass sich die Taskforce im Frühjahr im vorausgesagten Verlauf der Pandemie stark vertan hatte. Doch der Hauptgrund ist heute methodisch: Man weiss nicht, ob der momentane Anstieg der positiv getesteten Fälle und Hospitalisierungen nur vorübergehend ist. Es ist ein bisschen wie an der Börse: Ist es ein Bullen- oder Bärenmarkt? Die Bullen sagen einen stark steigenden Trend voraus. Es sei dies der Beginn einer vierten Welle, die kolossal ansteigen könnte, ähnlich wie letzten Herbst, nur zwei Monate früher, angefeuert durch die Virusvariante Delta. Und die Bären sagen, der Trend sei ein Zwischenhoch: Es sei dies eine durch ungeimpfte Ferienrückkehrer importierte Infektionswelle, die vorüber ist, sobald die Rückkehrer genesen sind. Seit einer Woche fallen die Zahlen wieder. Bundesrat Alain Berset sagte stellvertretend für die Experten, man wisse nicht, warum. Berset outete sich weder als Bulle noch als Bär. Die Vermischung Geimpfter und Ungeimpfter Was die Prognose derzeit schwierig macht, sind fehlende Daten über den Einfluss der Impfung und darüber, wer positiv getestet wird. Ein positiv getesteter Geimpfter wird im Schnitt viel weniger krank als sein ein ungeimpfter positiv Getesteter. Dies sagen die Fachleute übereinstimmend. Der geimpfte Erkrankte wird sich in seltenen Fällen in Spitalpflege begeben müssen, während der ungeimpfte dort häufiger mit Atemproblemen landet, weil die sogenannte Delta-Variante bei ihm tendenziell härter zuschlägt als frühere Coronavirusvarianten. 9 von 10 Hospitalisierten sind Ungeimpfte. Ein Anstieg der Fallzahlen heisst also nicht automatisch, dass sich die Spitäler füllen. Dies gilt für die Hälfte der Bevölkerung, die durch die Impfung oder durch eine durchgemachte Infektion in hohem Masse einer schweren Erkrankung widerstehen, sprich immun sind. Für die andere Hälfte Bevölkerung gilt dies nicht. Und hier scheiden sich die Geister darüber, welche Risiken mit den Ungeimpften, der Wirtschaft und dem Spitalwesen zumutbar sind. Das Bundesamt für Gesundheit, die Kantonsärzte und die Covid-Taskforce betonen das Risiko einer harten grossen, vierten Welle. Der BAG-Verantwortliche fürs Krisenmanagement, Patrick Mathys, bezeichnete die Lage am Dienstag vor den Medien als «angespannt», er sprach von einem «sehr raschen Wachstum», von einer «besorgniserregender Zunahme» der Spitalbelegungen durch Covid-19-Patienten und im Fazit von einem «bedeutendem Risiko für eine vierte Infektionswelle». Die Spitäler stünden «vor grossen, lang anhaltenden Problemen». Viel weniger Intensivpflegebetten als letzten Herbst Was sind die Fakten, Stand Ende August? Drei Viertel der Spitalbetten sind belegt, davon machen Covid-Patienten 3.4 Prozent aus. Der Flaschenhals sind immer noch die Intensivpflegeplätze (Ips). Diese sind ebenfalls zu drei Viertel belegt, davon zu fünfzehn Prozent durch notleidende Covid-19 Patienten. In Zahlen: 141 im 14-Tagewert (Stand 25. August). Dieser liegt deutlich unter dem Spitzenwert von 500 während der zweiten Infektionswelle. Damals war allerdings niemand geimpft. Die Zahl der Todesfälle in Verbindung zu einer Covid-19-Erkrankung lag zuletzt bei sechs pro Tag, im Schnitt der letzten zwei Wochen bei drei pro Tag. Im Februar waren es 15, Anfang Juli null. Diese vergleichsweise tiefen Zahlen werden der hohen Durchimpfungsrate der über 65-Jährigen zugeschrieben. Bemerkenswert ist, dass die Intensivbettenkapazität schweizerisch derzeit deutlich tiefer ist in der zweiten und dritten Welle. Bloss 840 Intensivplätze sind laut BAG-Monitoring heute (25. August) vorhanden. Die Zahl ändert interessanterweise täglich. Im Januar waren es 1000, im November laut Covid-19-Taskforce 1400. Anders gesagt: der Flaschenhals der heutige Ips-Kapazität von 840 Plätzen führt heute zu einer dramatisierenden Darstellung des Risikos der Überbelegung. Die Tücken der Spitalökonomie Der dahinter liegende Konflikt, ob die Intensivbetten überbelegt sind, ist auch der Spitalökonomie geschuldet. Sie will ihre Kapazität der Intensivbetten lieber mit Wahleingriffen bewirtschaften. So sagte der Vizepräsident der Covid-Task-Force, Urs Karrer am Dienstag in Bern: «Auf den Intensivpflegeplätzen von einem Viertel der Kapazität läuft sonst auch der Umsatz». Damit meinte er, dass diese Betten normalerweise durch Patienten nach sogenannten Wahleingriffe besetzt sind. Solche sind in der Tendenz lukrativer für die Spitäler, weil Operationen mehr Einkommen generieren und frisch Operierte viel kürzer auf der Intensivpflege verweilen als Covid-19-Patienten. Solche Wahleingriffe werden jetzt zwar noch nicht zurückgedrängt, sagte Karrer, auch Chefarzt am Kantonsspital Winterthur, aber sie müssten «genau geplant sein», so der Experte. BAG-Funktionär Mathys ergänzte, dass viele Wahleingriffe wegen der Pandemie noch immer aufgeschoben seinen – seit dem letzten Jahr – und dass dieser Rückstand bis heute nicht abgebaut sei. Die Rede ist von einem Rückstand von 30'000 Wahleingriffen, etwa Hüft- oder Meniskusoperationen. Mit einer vierten Welle würden Spitäler und Patienten erneut vermehrt Wahleingriffe verschieben müssen. Aber dass es Engpässe auf den Ips-Stationen gebe, dementieren Fachleute. Nur in Einzelfällen würden Patienten unter Spitälern umverteilt. Gesundheitsminister Berset allerdings sagte am Mittwoch, es seien «bereits wieder Wahleingriffe verschoben worden». Die Angaben sind ergo widersprüchlich. Der Eindruck besteht, dass die Behörden die Lage eher dramatisieren wollen, um den Einsatz des Covid-19-Zertifikats auf den sogenannten orangen Bereich auszudehnen. Dass sie bewusst den Bullen herauskehren, um die Öffentlichkeit zu alarmieren. Ob diese Strategie die Bevölkerung nicht abstumpft, fragten die Journalisten Berset am Mittwoch? Der Gesundheitsminister wich der Frage aus.Drei HZ-Szenarien des Pandemieverlaufs im Herbst 2021 Die beste Prognose ist: Die jetzige Welle wurde fast gänzlich von den Ferienrückkehrern provoziert, sie legt sich bald – und das Infektionsgeschehen wird sich auf erträglich tiefem Niveau fortsetzen – bis «jeder mit dem Virus in Kontakt gekommen ist», wie es Gesundheitsminister Alain Berset ausdrückte. Er sprach also gewissermassen einer Durchseuchungsstrategie für die ungeimpfte Hälfte Bevölkerung das Wort. In diesem Szenario würde vor allem auf die Maskenpflicht, Teststrategie an Schulen und an Arbeitsplätzen und auf die begonnene Impfkampagne gesetzt. Vor allem Kinder ab 12 Jahren dürften in den kommenden Wochen geimpft werden. Die schlechteste Prognose ist: Ungebremster Anstieg auf das Niveau der zweiten Infektionswelle. Dies als Resultat der Virusvariante Delta, die als krankmachender gilt als die vorhergehenden Varianten und mehr Junge Leute treffen soll, so der Vizepräsident der Covid-19-Taskforce des Bundes. Dann könnte – wie in der dritten Welle – eine Homeoffice-Pflicht wieder Realität werden. Oder Unistudierende wären wieder nach Hause verbannt. Was dann wäre, darüber spricht heute aber niemand. Offiziell spricht man nur von der Zertifikatpflicht im privaten Angebot wie Fitness, Restaurants. Ein Tabu ist derzeit aber eine Zertifikatpflicht im öffentlichen Bereich einzuführen, etwa an Schulen, Unis oder im Öv. Für Universitäten werde dies beim Bund überlegt, sagte am Mittwoch ein Funktionär an der Bundesratspressekonferenz. Auch Arbeitgebern könnte die Wahl gegeben werden, ihren Angestellten entweder das Homeoffice oder den Zutritt zum Arbeitsort mittels Covid-19-Zertifikaten zu gewähren. Aber auch darüber spricht derzeit niemand. Nur ganz wenige exponierte Firmen, etwa die Swiss und einzelne Spitäler, haben ihren Angestellten die Impfung und nur zum Teil vorgeschrieben. Eine Mittelprognose gibt es nicht. Aber sie dürfte einen stärkeren, saisonalen Anstieg bedeuten, auf einem für das Gesundheitssystem erträglichen Niveau, mit strengeren Massnahmen als heute, darunter einer Pflicht zur Vorweisung eines Covid-19-Zertifikats für Konsumenten, etwa in Restaurants, Fitnesszentren und Veranstaltungen, wie es der Bundesrat am Mittwoch vorgeschlagen hat. Der Vorschlag ist in Vernehmlassung, der Bundesrat dürfte am 10. September über die Einführung zu entscheiden. (val) Die HZ-Prognose zu den Einzelmassnahmen Die Maskenpflicht in öffentlichen Innenräumen wird behalten. Dies entschied der Bundesrat diesen Mittwoch, nach Konsultation mit den Kantonen. Der Grund: Mehr Leute halten sich im Herbst in Innenräumen auf. Die Ansteckungswahrscheinlichkeit in Innenräumen ist nachweislich höher als draussen. Die höhere Ansteckungsgeschwindigkeit durch die vorherrschende Delta-Variante soll gebremst werden. Das BAG und die Kantonsärzte halten die Maskentragpflicht für wirksam. Zertifikatepflicht im «orangen Bereich» (in privat geführten Räumen wie bei Fitnesszentren, Restaurants, Veranstaltungen, Privatanlässe wie Hochzeiten, und so weiter). Interessant ist, dass etwa ein Besuch beim Coiffeur oder der Pediküre oder, wie in Frankreich, in Fernzügen, kein Vorweisen eines Zertifikats nötig ist. Ein Covid-19-Zertifikat erhält, wer geimpft ist, genesen oder kurzfristig getestet ist. Diese Pflicht im orangen Bereich dürfte verhängt werden, sollte der Anstieg der Spitalfälle in den nächsten 2 bis 4 Wochen auf das Niveau der zweiten Infektionswelle ansteigen. Economiesuisse hat diese Massnahme in einer Mitteilung als «zielführend» bezeichnet. Dagegen sind Verbände der stark betroffenen Branchen sowie das rechte Politspektrum. Der Bundesrat dürfte diesen Schritt wohl erst verhängen, wenn die Lage als sehr schwierig erscheint, denn die Pflicht wäre neue Nahrung für die Gegner des Covid-19-Gesetzes, über das am 18. November abgestimmt wird. Bei einem Nein an der Urne wäre dem Zertifikat die Rechtsgrundlage entzogen. Bundesrat Alain Berset sagte am Mittwoch, eine Einführung über das Notrecht sei ausgeschlossen. Breite Tests von Symptomlosen. Für Schulen, für Universitäten und bei gewissen, einzelnen Arbeitgeber sind solche Tests der Fall, aber nicht in der gewünschten Breite. Das Testniveau ist derzeit tief. Darauf deutet die hohe Positivitätsrate hin. Am meisten getestet wird vor Nachtlokalen dank der Gratistests. Dort aber soll der Gratistest durch sanitarisches Personal ab Oktober abgeschafft werden. Behörden und Wirtschaftsverbände waren für diese Bezahlpflicht, mit dem Hintergedanken, dass sich diese Personen, vor allem jüngere, sich impfen lassen. Offiziell begründet wird dies aber mit den ungerechtfertigen «Kosten für die Allgemeinheit». Reisequarantäne für Rückkehrer. Sie dürfte sehr bald und stärker für in der Schweiz domizilierte Personen eingesetzt werden aus Ländern, wo das Virus stärker zirkuliert als in der Schweiz. Dies, nachdem die sogenannte vierte Welle, massgelblich durch Rückkehrer aus den Sommerferien provoziert worden sei. Die Hälfte der Rückkehrer, die jetzt hospitalisiert sind, hätten sich im Ausland angesteckt. Laut der Covid-19-Taskforce stammen rund 40 Prozent aus Südosteuropa, insbesondere laut der TX-Medien «aus dem Kosovo und Nordmazedonien». 80 Prozent dieser Personen waren nicht geimpft. Task-Force-Vizepräsident Urs Karrer nannte an einer Pressekonferenz vom Dienstag die Verhinderung des Virusinfektimports für die Herbstferienzeit als eine vordringliche Massnahme. Alain Berset sagte am Mittwoch, dass die Kontrolle bei der Einreise auf dem Landweg schwierig sei, weil die Herkunft der Reisenden am Grenzübergang nicht erkannt werde. Ergo könnten Quarantänebestimmungen nicht überprüft werden. Nur Einreisende über Verkehrsflüge können derzeit systematisch überprüft und bei Bedarf in Quarantäne gesetzt werden, wie dies im Frühjahr der Fall war. Erhöhung Impfquote: 9 von 10 schweren Verläufen treten bei Ungeimpften auf. Ein Viertel der Hospitalisierten landen in der Intensivstation eines Spitals. Das Ziel des Bundes und der Kantone ist, diese Zahl zu senken. Das einzige Mittel sehen sie darin, die Impfquote massiv zu erhöhen. Das Ziel der Impfung ist einzig, schwere Verläufe zu verhindern und die Geschwindigkeit der Virusverbreitung zu bremsen. Damit soll das Gesundheitswesen geschont und die Zahl der Covid-19-Toten gesenkt werden. Momentan sind 56 Prozent geimpft, über 51 Prozent sind doppelt geimpft. Die derzeitige Analyse bei Bund und Kantone ist, dass die Zahl der erklärten Impfgegner klein sei, die Zahl der Unentschlossenen, Uninformierten und der Impffaulen aber gross. Diese Gruppe wollen die Behörden und Arbeitgeber erreichen. Insbesondere werden Migrantengruppen als erfolgsversprechende Zielgruppe gesehen, weil dort die Information dazu, wie man sich impfen kann, klein ist. Auch Junge sollen mit einfachen Impfangeboten, ohne Anmeldung etc., animiert werden, sich impfen zu lassen. Und schliesslich sollen die Eltern zu einer Impfung ihrer Kinder ab 12 Jahren einwilligen. Dies alles, unter der Voraussetzung, dass Delta zu einer stärkeren Erkrankung führe als bisherige Varianten, wie der Task-Force-Vizepräsident Karrer am Dienstag sagte. Berset sagte am Tag darauf, dass der Bundesrat keine Impfpflicht anstrebe. Empfehlung fürs Homeoffice. Sie steht nicht zur Debatte. Es gibt einen Trend gewisser Kaderleute, das Personal zurück ins Büro zu holen. Dies, weil sie eine tiefere Produktivität und Kontaktarmut beklagen. Verlässliche Studien gibt es bis dato nicht. Die Wirtschaftsverbände, darunter Economiesuisse, wehren sich stark gegen eine neue Homeofficepflicht. Der Grund: Viel mehr Angestellte sind heute geimpft als im Frühjahr. Vor allem Covid-19-Risikogruppen sind geimpft. Und es gibt technische Hilfsmittel, darunter die Messung der Luftqualität und eine höhere Lüftungsleistungen, die einer Virusverbreitung vorbeugten. Lockdown. Darüber spricht heute niemand. Die Wirtschaft und die bürgerliche Ratshälfte wollen ein solches Szenario um jeden Preis verhindern. Auch Bundesrat Alain Berset sagte, dass eine erneute Schliesslich «sehr unerwünscht» sei. Vor zwei Wochen sagte er, dass «Jeder mit dem Virus in Kontakt kommen» werde. Dies sei unausweichlich, ob geimpft oder ungeimpft. Letztere Wahl sei jedem selber überlassen. Aber er sieht sich impfen lassen als einen Akt der Solidarität. (val)

Die drei Corona-Pandemieszenarien für den Herbst

Coronavirus: Es geht auch um Spital-Ökonomie