Die wirtschaftlichen Prioritäten des Bundesrates

Die sogenannte Gesamtschau trägt die Züge einer Strategie. Sie enthält zwölf Punkte. Die allermeisten Punkte sind rezyklierte Gesetzesprojekte, Ideen und Ladenhüter, die jetzt in einer Gesamtschau zusammengeführt werden. Ein Beispiel für einen Ladenhüter ist die Einführung eines Steuerprivilegs für Rohstoffhändler, die sogenannte Tonnage-Tax. Das Vorhaben gärt seit acht Jahren, bisher ohne Erfolg. Dabei hätte der Vorschlag durchaus seine Berechtigung. Hier eine Übersicht über die zwölf Massnahmen, was sie bedeuten und wo sie stehen: 1. Abbau von Import- und Exporthürden am Zoll Statt Papier die digitale Abwicklung im grenzüberschreitenden Güterverkehr: Dies ist Erwartung des Bundesrates an Zollminister Ueli Maurer. Dort läuft das kontrovers diskutierte Projekt «Dazit». Sein Ziel: «Aufwand und Handelskosten senken», so der Bundesrat. In der Gesamtschau erwähnt, aber bereits abgehakt ist die Abschaffung der Industriezölle ab 2024. Dies beschloss das Parlament im Herbst. Die geschätzte Einsparung für den Handel und die Industrie betragen eine halbe Milliarde Franken. 2. Neue, moderne Freihandelsabkommen Der Bundesrat zählt bloss bekannte Vorhaben auf: ein neues Finanzabkommen mit Grossbritannien, das wahrscheinlich zustande kommt. Aber bis zum Abschluss könnten noch zwei Jahre verstreichen. Ein zweites Vorhaben, das fast fertig verhandelte Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten, ist auf Eis gelegt. Hier hofft man auf neue Impulse vonseiten der Agrarlobby, die widersprüchlich agiert. Sie ist ein bisschen dafür und ein bisschen dagegen. Ein drittes wichtiges Vorhaben, ein Freihandelsabkommen mit Indien, steht seit Jahren auf der Wunschliste der Exportbranche. Doch da legt sich die Pharmaindustrie quer, weil sich in ihren Augen der Patentschutz nicht verbessere. Am wahrscheinlichsten sind am Ende neue, eher marginale Abkommen mit Vietnam und Malaysia, nachdem das Abkommen mit Indonesien vorgespurt hat und das Volk dafür war. Etliche weitere Länder wollen eine Modernisierung der bisherigen Abkommen mit der Schweiz, darunter Chile, Mexiko und Südafrika. China blockiert es und Japan gibt sich wenig interessiert. 3. Mehr Fachkräfte I: Steuerliche Anreize für Zweitverdiener Die heutigen Einkommenssteuern von Paaren führen zur Bestrafung von Zweitverdienern. Das weiss man seit langem. Dies führt dazu, dass qualifizierte Leute, vor allem gebildete Frauen, eher auf berufliche Arbeit verzichten, als einen Job anzunehmen. Die sogenannte Individualbesteuerung soll dies ändern. Bis es so weit ist, werden aber Jahre vergehen, denn Einkommenssteuerreformen sind explosiver Stoff. Die Gegner haben an der Urne ein einfaches Spiel. 4. Mehr Fachkräfte II: Diplomanden aus Drittstaaten und pensionierte Arbeitskräfte Studenten aus Drittstaaten geniessen hochkarätige Ausbildung in der Schweiz. Danach müssen sie nach heutiger Regulierung zurück in ihre Herkunftsländer. Dies ist eine verschwendete Ressource. Der Bundesrat will das auf Anregung des Parlaments ändern. Dort hat Marcel Dobler bereits 2017 einen Vorstoss lanciert. Das Problem ist seit längerem bekannt. Doch die Mühlen Bern mahlen langsam. Generell liegt auch die Reform der komplizierten Drittstaatenkontingente auf dem Tapet. Dies passiert auf Anregung des Parlaments seit 2019. Doch auch in diesem Dossier arbeitet Karin Keller-Sutters Justizdepartement langsam. Der Bundesrat sieht am ehesten Chancen in der AHV-Reform, um neue Fachkräfte zu rekrutieren: indem wertvolle Angestellte über das Rentenalter hinaus an der Arbeit bleiben. Die Reform soll dazu Anreize bieten. 5. Gebühren- und Bürokratieentlastungen Hier steht die umstrittene Idee der sogenannten Regulierungsbremse im Raum. Eine solche hat das Parlament gefordert. Der Bundesrat soll eine Gesetzesvorlage verabschieden. Doch die praktische Umsetzung dieses Vorhabens ist alles andere als einfach, weil abstrakt und eine Frage der Abgrenzung, denn etliche Bürokratieprojekte haben einen starken politischen Antrieb. Beispiel Klimapolitik: Sie ist nur um den Preis von mehr Bürokratie zu haben. Auch agiert das Parlament widersprüchlich. So fördern beispielsweise SVP und SP mehr Regulierung im Handel, indem sie die Weiterentwicklung der bilateralen Verträge mit der EU hintertreiben. Auch die Förderung von Startup-Unternehmen hat den Preis der Bürokratisierung. Denn auch hier gilt: Der Teufel steckt im Detail. Wie will man Startup-Finanzierungen fördern, ohne Bedingungen daran zu knüpfen, die überprüfbar sind? Ein Teufelskreis. Je mehr staatliche Förderung, desto mehr Bürokratie. 6. Einführung einer elektronischen Identität Ein elektronischer Ausweis des Bundes ist in Arbeit. Die bundesrätliche Botschaft dafür wird auf den Herbst 2022 versprochen. Dieses Ziel ist unbestritten. Auch hier wurden wertvolle Jahre verloren, weil das Parlament an der Fiktion eine Public-Private-Partnerschaft für digitale Ausweise verlangte, die an der Urne schliesslich scheiterte. 7. Schärfere Fusionskontrolle Eine griffigere Fusionskontrolle von Firmen steht seit vier Jahren auf dem Tapet von Bundesbern. Es gibt zwei Vorstösse aus dem Parlament, die der Umsetzung harren. Doch auch hier mahlen die Mühlen der Verwaltung langsam. Ein Vorstoss von FDP-Seite will das Wettbewerbsrecht sogar schwächen. Er geht auf die Motion des FDP-Nationalrats Olivier Français zurück. Dieser verlangt, dass die harte Rechtsprechung des Bundesgerichts per Gesetz annulliert wird und gewisse Preis- und Gebietsabsprachen von Herstellern und Händlern wieder möglich werden. 8. Einfacherer Versandhandel für Medizin Apotheken und Verteiler lobbyieren seit Jahren gegen den freien Verkauf von Medikamenten wie Ibuprofen oder Paracetamol, also nicht verschreibungspflichtigen Arzneien. Der Bundesrat gibt Gegensteuer und verspricht, zu ermöglichen, dass frei verkäufliche Medikamente ohne Bürokratie online verkauft werden können. Als Eckpfeiler einer bundesrätlichen Wirtschaftsstrategie erscheint diese Massnahme allerdings nicht. 9. Gasmarkt und Staatsbetriebe: Liberalisierung Ein einzelner Immobilienbesitzer aus der Innerschweiz hatte das Kartell regionaler Gasanbieter mit ihren Gebietsmonopolen zu Fall gebracht. Die Wettbewerbsbehörde hat ihm vor drei Jahren recht gegeben. Erst darauf hat der Bundesrat reagiert. Jetzt will er den Gasmarkt mit einem Gesetz liberalisieren. Eine Gesetzesbotschaft steht in Aussicht. Starker Druck aus dem Parlament erreicht die Verwaltung auch, was die Einkaufstouren vieler sogenannter Staatsunternehmen betrifft. Die Swisscom agiert wie ein privates Medienunternehmen, die Strommonopolistin BKW kauft in grosser Zahl Ingenieur- und Installationsunternehmen zusammen und die Post drängt auf die Finanzierung von Hypotheken in Konkurrenz zu den Banken. Die Bürgerlichen wollen diesem Treiben ein Ende bereiten, die Frage ist nur: Wie soll dies gesetzlich möglich sein? Die Firmen zerschlagen? Die Firmen privatisieren? Hier sind die Interessen im Parlament unklar. 10. Staatsausgaben: Abbau der Corona-Schulden Die grosse Frage ist, wie schnell Corona-Schulden des Bundes amortisiert werden. Sie belaufen sich derzeit auf 32 Milliarden, 25 aus dem ersten Pandemiejahr und 12 aus dem zweiten Jahr 2021. Ein schneller Abbau könnte über die Erhöhung von Steuern passieren, etwa der Mehrwertsteuer, oder über starke Einsparungen anderer Bundesvorhaben, etwa den Abbau der Verrechnungssteuer oder der erwähnten Einkommensteuerreformen. Steuererhöhungen schloss Finanzminister Ueli Maurer aus. Noch nicht entschieden ist, welche Projekte vom künftigen Sparprogramm stark tangiert werden. 11. Steuerprivileg für Rohstoffhändler (Tonnage-Tax) Die Tonnagesteuer ist ein verbreitetes Steuerprivileg der Seeschifffahrt, der Öl- und Rohstoffhändler, anderer Tiefsteuerländer. Genf und Zug haben für die dort ansässigen Rohstoffhändler in Bern lobbyiert und sind auf offene Ohren gestossen, denn die Händler drohen den Kantonsregierungen mit der Abwanderung in Tiefsteuerländer, sollte die Schweiz die Tonnage-Tax nicht anbieten. Mit der Einführung einer Tonnage-Tax will der Bundesrat gleich lange Spiesse im Wettbewerb um hoch mobile Schifffahrtsunternehmen im Bereich des Güter- und Personentransports schaffen. 12. Klimawirtschaft: Vereinfachte CO2-Besteuerung Die Reduktion des CO2-Ausstosses hat positive wie negative Auswirkungen auf die Wirtschaft. Es ist dies ein grosses Thema und eine Frage der Perspektive. Subventionsempfänger und Greentech-Anbieterfirmen sehen neue CO2-Vorschriften als eine Chance für die Wirtschaft. Die Nettozahler von CO2-Abgaben, Firmen wie Konsumenten, verstehen CO2-Vorschriften als Zusatzbürokratie und Wirtschaftshemmnis. Die Politik sucht nach Mehrheiten. Die Sache ist nicht ausgestanden nach dem Nein zum CO2-Gesetz an der Urne. Grössere Sorgen bereitet der Wirtschaft die Absicht der EU, einen Klimazoll einzuführen (der sogenannte CO2-Grenzausgleich). Ambitiös sind auch die Ziele diverser Sektoren, eine höhere Wiederverwertungsrate unter dem Titel Kreislaufwirtschaft herbeizuführen. Einig sind sich die Akteure nur darin, dass die Lenkungswirkung einer CO2-Abgabe Ressourcen besser bewirtschaftet und der Ausstoss von Klimagasen reduziert wird. Die Auswirkungen neuer CO2-Vorschriften werden die Sektoren und den Konsum in sehr unterschiedlicher Weise treffen. Die grossen Mängel der Gesamtschau Was in der Gesamtschau nur am Rande erwähnt wird, ist die grosse Frage der Weiterentwicklung der Schweiz am EU-Binnenmarkt. Diese Passage zur Wirtschaftspolitik mit Europa bleibt so vage wie die Europapolitik des Bundesrates und des Parlaments selber. Ein flaues Beispiel ist der Satz, dass der Bundesrat «gegenwärtig die Möglichkeit eines autonomen Abbaus von bestehenden Regelungsdifferenzen» prüfe, um «Friktionen mit der EU zu reduzieren und die bilaterale Zusammenarbeit mit der EU zu stabilisieren». Nicht erwähnt wird der weiterhin schleichende Trend von Verlagerungen von Funktionen und Jobs ins Ausland, auch im Dienstleistungsbereich. Hubs wie Tschechien, Polen, Rumänien oder Indien in der IT sind nach wie vor harte Konkurrenten, wenn es um die Reorganisation grosser Konzerne geht. Und schliesslich wird die Ansiedlung neuer Firmen in der Schweiz nicht explizit behandelt. Sie ist zwar keine Kernaufgabe des Bundes, sondern die der Kantone. Aber die Frage des Wirtschaftsstandorts schwingt in fast jeder Abstimmungsvorlage mit, sogar wenn es Mitte Mai um den Schweizer Beitrag an die Grenzpolizei der EU, Frontex, geht.

Die wirtschaftlichen Prioritäten des Bundesrates

Die merkwürdigen Ladenhüter des Bundesrates