Lockdowns und Immobilienkrise: Warum Chinas Wirtschaft ins Stocken geraten ist

China steht vor dem wichtigsten Parteikongress seit Jahrzehnten. Voraussichtlich im Oktober will sich Präsident Xi Jinping von der Kommunistischen Partei Chinas für eine dritte Amtszeit von fünf Jahren bestätigen lassen und damit die Tradition der Führungswechsel alle zehn Jahre durchbrechen. Auch wenn es keine Anzeichen dafür gibt, dass Xis Griff nach der grössten Machtfülle seit Mao Zedong in Gefahr ist, so sieht er sich doch ausgerechnet jetzt mit den schwersten Krisen seiner zehnjährigen Herrschaft konfrontiert. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hatte es zunächst danach ausgesehen, als ob China angesichts der westlichen Sanktionen gegen Russland zum Gewinner des Krieges werden könnte. Doch stattdessen schwächelt die chinesische Wirtschaft wie seit vielen Jahren nicht mehr und auch aussenpolitisch läuft es alles andere als rund, wie die jüngsten Besuche amerikanischer Politikerinnen und Politiker in Taiwan zeigen. Chinas Kommunisten brauchen Wachstum, Prosperität und Stabilität Die aktuelle Schwäche hat viele Gründe und nicht für alle ist die aktuelle Führung unter Xi verantwortlich. Dennoch ist sie ein grosses Problem für eine Partei, die ihre Legitimation auf Wachstum, Prosperität und Stabilität stützt. «Xi wird alles unternehmen, dass keine Wirtschafts- oder Finanzkrisen die Vorbereitungen für den zwanzigsten Parteikongress aus der Bahn werfen», sagte Neil Thomas, ein China-Analyst bei der Eurasia Group, zur Wirtschaftsagentur Bloomberg. Aber es bestehe immer das Risiko, dass ein externer Schock die Ereignisse ausserhalb von Pekings Kontrolle bringe. Vor diesem Hintergrund ist auch Chinas Verhalten im Ukraine-Krieg zu sehen: Zwar weigert man sich, die Sanktionen gegen den strategischen Partner Russland mitzutragen, drängt jedoch gleichzeitig auf eine schnelle und friedliche Lösung des Konflikts. Offensichtlich will Peking nicht in einen Konflikt gezogen werden, in dem es für China wenig zu gewinnen gibt. Bestehende Probleme gibt es genug, und das sind die fünf schwerwiegendsten. 1. Coronavirus: Zero Covid ohne Exit Nach den anfänglichen Fehlern und Vertuschungen beim immer noch nicht aufgeklärten Ausbruch des neuen Coronavirus in Wuhan kam China lange Zeit relativ gut durch die Pandemie. Die Fallzahlen blieben niedrig – obwohl Zweifel an den Zahlen der Regierung bestehen – und neue Ausbrüche wurden rasch isoliert und unter Kontrolle gebracht. Die neuerliche Wende zum Schlechten kam für China erst mit der Omikron-Variante. Während andere Länder wie Australien und Neuseeland ihren Null-Covid-Ansatz angesichts der hochansteckenden, aber weniger tödlichen Variante aufgaben, versucht China bis heute eisern jeden neuen Ausbruch auszumerzen. Bewohnerinnen und Bewohner müssen sich alle paar Tage einem PCR-Test unterziehen, eine Gesundheitscode-App bestimmt, wer sich wo bewegen darf, und es ist jederzeit möglich, dass Gebäude, Quartiere oder ganze Städte unter Lockdown gestellt werden. Schon der Besuch eines Supermarkts zum falschen Zeitpunkt kann dazu führen, dass man in Isolation muss, weil gleichzeitig jemand Infiziertes eingekauft hat. Neben den menschlichen Kosten dieser Politik – Kinder werden von ihren Eltern getrennt und Leute in ihren Wohnungen eingesperrt – sind auch die wirtschaftlichen Folgen massiv. Im Frühling wurde die Wirtschaftsmetropole Schanghai für mehrere Wochen abgeriegelt und im Sommer traf es Teile der Ferieninsel Hainan. Besonders der Lockdown in Schanghai sorgte für Produktionsunterbrüche in den Fabriken und einen riesigen Stau im Containerhafen. Beim Lockdown auf Hainan wurden Feriengäste eingesperrt, Flüge gestrichen und Geschäfte geschlossen. Doch obwohl die Corona-Politik der Regierung die Industrieproduktion und den Konsum im Inland empfindlich trifft, scheint ein Ende von Zero Covid in weiter Ferne. Die chinesische Propaganda verkauft das vermeintliche Corona-Chaos im Westen als Beweis für die Überlegenheit der kommunistischen Herrschaft in China. Eine Lockerung der Politik mit mehr Corona-Toten als Folge wäre für Xi deshalb womöglich riskanter als das Festhalten an Null-Covid. 2. Hypotheken: Platzende Immobilienblase Seit einer Wohnungsreform im Jahr 1998 war Chinas wirtschaftlicher Aufstieg begleitet von einem schnell wachsenden Immobiliensektor. Mit einem Anteil von rund einem Viertel der gesamten Wirtschaftsleistung wurde der Immobilienmarkt zu einer Schlüsselindustrie der chinesischen Wirtschaft. Viele Menschen setzten einen grossen Teil der Ersparnisse ihrer ganzen Familie ein und nahmen Hypotheken mit hohen Zinssätzen für den Immobilienkauf auf. Wohneigentum galt als Investition, die immer nur an Wert gewinnt. Rund 70 Prozent des Vermögens der chinesischen Haushalte steckt laut Bloomberg in Immobilien. Doch nun scheinen die Mahner, die vor einer Blase warnten, Recht zu bekommen. Im Sommer 2021 geriet der Immobilienkonzern Evergrande in Schwierigkeiten, weil die Schuldenlast mit gegen 300 Milliarden Dollar zu hoch geworden war. Andere Immobilienentwickler kamen ebenfalls in Nöte, und obwohl der Staat teilweise helfend eingriff, waren die Auswirkungen auf den Sektor katastrophal. Die Immobilienverkäufe sanken massiv, laufende Projekte werden nicht fertiggestellt oder sogar als Rohbauten gesprengt und die Immobilienpreise gingen zuletzt elf Monate in Folge zurück. Seit Anfang Juli weigern sich viele Immobilienkäufer, ihre Hypotheken zu bedienen. Innerhalb von wenigen Wochen breiteten sich die Zahlungsboykotte auf rund 100 Städte und über 320 Projekte aus. Zwar reagierte die Regierung mit Zensur in den sozialen Medien, was die Protestbewegung gebremst hat, doch es ist offensichtlich, dass selbst die Kommunistische Partei Chinas auf die öffentliche Meinung des Mittelstandes eingehen muss. Peking hat bereits signalisiert, dass die Käufer und nicht die Immobilienentwickler bei den Krisenmassnahmen Priorität hätten. Die goldenen Zeiten im Immobiliensektor scheinen jedenfalls auf lange Zeit vorbei. So hat die chinesische Führung immer wieder betont, dass Immobilien zum Wohnen und nicht zum Spekulieren existierten. Zudem wird durch die bald sinkende Bevölkerung auch die Nachfrage nach Wohnraum abnehmen. 3. Banken: Eingefrorene Ersparnisse Die Immobilienkrise birgt für die chinesischen Banken ein hohes Ansteckungsrisiko. Gut ein Viertel ihrer Ausleihungen haben mit Immobilien zu tun, wozu viele Hypotheken gehören, wie der Think-Tank Peterson Institute for International Economics schreibt. Eine ausgewachsene Finanzkrise ist aber unwahrscheinlich: Die wichtigsten Banken gehören dem Staat, und dieser wird sie nicht untergehen lassen. Zudem gibt es keine komplexen undurchsichtigen Vermittlungsketten wie im westlichen Bankensystem. Dass die Regierung im Sinne der sozialen Stabilität grössere Probleme bei den Banken unbedingt vermeiden muss, zeigten die Proteste wegen eines Betrugsskandals von fünf Banken in den Provinzen Henan und Anhui in diesem Jahr. Hunderte Personen beteiligten sich im Juli an einer Demonstration vor einer Filiale der People’s Bank of China und forderten die Auszahlung ihrer eingefrorenen Einlagen. Es kam zu Schlägereien und es flogen Wasserflaschen gegen Beamte in Zivil, die versuchten, die Menge zu zerstreuen. Die Menschen riefen: «Gebt mir mein Geld zurück!» Auch diese Proteste wurden im Netz zensiert und von den Behörden unterdrückt. So berichteten Leute, die an die Demonstration in der Stadt fahren wollten, dass ihre Coronavirus-App plötzlich auf Rot schaltete, sodass sie nicht mehr reisen konnten. In der Sache jedoch stellte sich der Staat schnell auf die Seite der Opfer: Einlagen bis zu 500’000 Yuan (rund 70’000 Franken) werden bereits zurückbezahlt, für höhere Summen wurde eine spätere Regelung in Aussicht gestellt. Zudem wurden polizeiliche Ermittlungen eingeleitet und mehrere Verdächtige im Betrugsfall verhaftet. Insgesamt versucht die Regierung, die staatliche Unterstützung für Banken zurückzufahren, um damit riskantes Verhalten einzuschränken und die Stabilität des Finanzsystems zu erhöhen. Dabei ist zentral, dass die Bevölkerung ihr Vertrauen in die Banken nicht verliert. Nur so lässt sich Xis Versprechen des «gemeinsamen Wohlstands» erfüllen. 4. Taiwan: Ukraine als Warnung für China Der Krieg in der Ukraine wurde von Xis Beratern zunächst als Chance für China gesehen, berichtete die japanische Wirtschaftszeitung «Nikkei» unter Berufung auf chinesische Sicherheitskreise. Ein Zusammenstoss zwischen Russland und den USA in Europa würde die amerikanische Macht im asiatisch-pazifischen Raum schwächen und eine militärisch erzwungene Vereinigung mit Taiwan erleichtern, so die Idee. Doch es kam anders. Die USA liessen sich nicht in den Krieg hineinziehen und der Westen reagierte – unter Führung der USA – geeint und mit harten Sanktionen, die auch eine Warnung an China sind. Zudem entpuppte sich die mit westlichen Waffen aufgerüstete Ukraine als schwieriger Gegner für Russland, ein Szenario, das auch bei einer chinesischen Invasion auf Taiwan denkbar scheint. Hochrangige US-Politiker wie Nancy Pelosi, die Sprecherin des Repräsentantenhauses, besuchten in den letzten Wochen die Insel, um die Beziehungen mit Taiwan zu vertiefen. Im Herbst sind Handelsgespräche zwischen den USA und Taiwan geplant, in denen es unter anderem um die eminent wichtige Chipindustrie auf der Insel gehen wird. Präsident Joe Biden sicherte Taiwan zudem mehrfach militärische Unterstützung im Falle eines chinesischen Angriffs zu. China, das die Insel als abtrünnige Region betrachtet und unter Verweis auf die Ein-China-Politik international isolieren will – diplomatische Beziehungen mit der Volksrepublik sind nur möglich, wenn keine solchen mit Taiwan existieren –, hat bisher noch keine Antwort auf dieses Powerplay gefunden. Zwar wurde eine grosse Übung im Meer um Taiwan veranstaltet, bei der das chinesische Militär Raketen über die Insel abfeuerte und chinesische Kampfjets den taiwanesischen Luftraum verletzten. Die wirtschaftlichen Sanktionen wegen Pelosis Besuch dürften aber laut Bloomberg weniger als 1 Prozent der Wirtschaftsleistung Taiwans kosten, vor allem, weil sich China mit den Strafmassnahmen nicht selber schaden will. So hat China keine Alternative zum Chiphersteller TSMC, der rund die Hälfte des globalen Chipmarktes beherrscht. 5. Überalterung und Männerüberschuss: Demografische Zeitbombe Von 1980 bis 2016 galt in China die Ein-Kind-Politik, nach der pro Familie nur ein Kind erlaubt war. Weil in der Folge weibliche Embryonen und Föten oft abgetrieben wurden, gibt es heute ein massives Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen im Land. Bei der Volkszählung 2020 waren 51,24 Prozent der 1,41 Milliarden Menschen in China männlich. Das bedeutet, dass Millionen Männer im Land nie eine Frau finden werden. Eine weitere Folge der Politik ist die Überalterung der Bevölkerung, die zudem bald schrumpfen wird. Wie in vielen anderen Industrieländern müssen immer weniger Menschen im arbeitsfähigen Alter für immer mehr Alte aufkommen. 2050 dürften laut Prognose der Vereinten Nationen rund 35 Prozent der Bevölkerung über sechzig Jahre alt sein. Die Regierung versucht inzwischen mit verschiedenen Massnahmen dieser Entwicklung entgegenzutreten. So wurde die Zwei-Kind-Politik letztes Jahr zuerst zugunsten einer Drei-Kind-Politik gelockert und kurz darauf wurden sämtliche Beschränkungen der Kinderzahl pro Familie aufgehoben. Eltern bekommen Steuererleichterungen, der gewinnorientierte Nachhilfeunterricht wurde verboten, um die Bildung zu verbilligen, und eine neue Richtlinie soll die Zahl der Abtreibungen verringern. In den Regionen haben laut der Agentur Xinhua bis November 2021 mindestens zwanzig Provinzen eigene Massnahmen ergriffen, die von der Verlängerung des Mutter- und Vaterschaftsurlaubs über Subventionen bis hin zur Bereitstellung von Babykrediten reichen. Ob das ausreicht, ist fraglich. Laut Bloomberg ergab eine Studie der Fudan-Universität eine durchschnittliche gewünschte Kinderzahl von 1,59 – weit unter den 2,1 Kindern pro Frau, die in China wegen des Männerüberschusses nötig wären, um die Bevölkerung stabil zu halten. Für chinesische Frauen im gebärfähigen Alter sind vor allem Sorgen über die berufliche Entwicklung, der Mangel an Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder und die finanzielle Belastung für die Familie ausschlaggebend für den Entscheid gegen ein weiteres Kind.

Lockdowns und Immobilienkrise: Warum Chinas Wirtschaft ins Stocken geraten ist

Warum Chinas Wirtschaft plötzlich ins Stocken geraten ist