Nach dem Scheitern des InstA: Welche Exportbranchen die EU als nächstes piesackt

Die Freude unter den Schweizer Wirtschaftsführern war gross. Endlich werde die grenzüberschreitende Bürokratie abgebaut, so der Tenor unter Politikern und Firmenchefs. Ob Maschinen, Bauprodukte, Spielzeuge, Medizinalgüter, Schutzkleidung, Baumaschinen oder Sprengstoffe: Die EU und die Schweiz anerkennen gegenseitig die Zulassung für Industrieprodukte. Eine allein genügt, egal ob in der Schweiz oder in einem EU-Land ausgestellt. Das war 2002, als die sieben Bilateralen Verträge I in Kraft traten – und dabei eben auch das Abkommen über den gegenseitigen Abbau von Handelshemmnissen. Ein Vorgang mit System 19 Jahre später: Die EU anerkennt seit heute Mittwoch die schweizerischen Regeln für Medizinalprodukte nicht mehr. Dass dieses Datum ausgerechnet auf den Tag fällt, wo der Bundesrat über den de facto Abbruch der Verhandlungen mit der EU entschieden hat, ist Zufall. Aber der Vorgang hat System: Die EU lässt das Abkommen schrittweise auslaufen und bewusst Handelshemmnisse aufbauen. Damit werden die hierzulande ausgestellten Zulassungen für Exportprodukte im EU-Raum wertlos. Zwei Drittel aller Exporte in die EU betroffen Zwanzig Kapitel hat das Abkommen, das heisst zwanzig Produktegruppen haben bisher von der gegenseitigen Anerkennung der Zulassungen profitiert. Rund zwei Drittel des Handels mit Industrieprodukten zwischen der Schweiz und der EU kamen seit 2002 in den Genuss der Regelungen des erleichterten Handels. Im Jahr 2019 entsprach dies einem Exportvolumen in die EU von über 76 Milliarden Franken sowie einem Importvolumen von über 74 Milliarden Franken. Die wichtigsten sind die Produktegruppen Maschinen, Bauprodukte, Aufzüge, Seilbahnen, Baumaschinen und Schutzkleidung. Alles Branchen, wo Firmen mit Made in Switzerland auf den Märkten brillierten. Waren es zwanzig, dann sind es ab heute 19. Und die grosse Frage ist: Wie lange es dauert, bis die restlichen 19 de facto durch die EU annulliert werden als Folge des Scheiterns eines Rahmenabkommens? Dies ist der Vorgang, den Politiker und Ökonomen als schrittweise «Erosion» der Bilateralen Verträge bezeichnen. Der Preis: je nach Studie geschätzt ungefähr 0.2 Prozent der jährlichen schweizerischen Wirtschaftsleistung gehen bis ins Jahr 2035 verloren. Der nächste Termin ist das Frühjahr 2022. Dann geht die EU gegen Exporteure von Apparaten «Made in Switzerland» vor. Sie überarbeitet ihre Rechtsgrundlage und lässt die Schweizer Regelung aussen vor. Betroffen sind beispielsweise Werkzeugmaschinen, Fräsmaschinen oder Pressen. Rechtlich geht dies so: Die EU ändert auf ein beliebiges Stichdatum hin ihre Verordnung zur Inverkehrssetzung von Maschinen. Gleichzeitig verweigert Brüssel die Anerkennung der schweizerischen Regelung. Die Folge: Der Import von Schweizer Maschinen in den EU-Raum wird verboten. Der Exporteur kann dies nur umgehen, indem er einen Zweigsitz in einem EU-Land gründet und seine Maschinen in der EU zertifizieren lässt. Hürde für Kleinere Die Grossen machen das schon heute so. Aber die kleineren Firmen sind noch nicht vorbereitet. Laut Branchenverband Swissmem, der 1200 Mitglieder der Bereichen Maschinen, Elektronik und Metallbau zählt, haben «gegen 40 Prozent der Firmen einen EU-Zweigsitz». Die restlichen 60 Prozent, sofern sie denn in die EU exportieren, müssen eine Zweistelle eröffnen. Das geht ins Geld: «Die betreffenden Unternehmen werden mit zusätzlichen Kosten und Umtrieben beim Zugang zum europäischen Binnenmarkt konfrontiert sein», sagt Jan Atteslander von Wirtschaftsdachverband Economiesuisse. Wie teuer? Swissmem betont nicht die Einmalkosten, sondern den schleichenden Verlust: «Oft folgt der Zertifizierung im Ausland auch die Verlagerung des Vertriebs, dann der Produktion und schliesslich der Entwicklung. Dieser Prozess ist schleichend und deshalb gefährlich: Schritt für Schritt wird so die Zukunft des Werkplatzes untergraben.» Nach dem Maschinenbau kommt das übernächste Opfer: Die schweizerischen Bauproduktehersteller. Da gibt es bekannte wie Sika oder Lafarge Holcim und weniger bekannte wie Geoswiss, die etwa Steinschlagnetze exportieren. Und dann gibt es viele kleine. «Bei über 60'000 Bauprodukten auf dem Markt könnten durchaus auch kleinere Firmen in Grenznähe oder solche, die sehr spezielle Produkte anbieten, betroffen sein», sagt das fürs Dossier zuständige Bundesamt für Bauten und Logistik (BBL) auf Anfrage. Der Vorgang in Brüssel: Die EU revidiert die Bauprodukte-Verordnung. Im Februar 2021 beschlossen die Mitgliedsstaaten, diese Verordnung definitiv zu überarbeiten. Das Bundesamt erwartet den konkreten Vorschlag der EU «für das vierte Quartal 2021». Bürokratischer Aufwand Die neue EU-Verordnung dürfte dann wohl im Verlaufe des 2022 in Kraft treten. Und auch hier: Die Vereinbarung zur Anerkennung der schweizerischen Regelung für Bauprodukte würde dahinfallen. Schweizer Bauprodukte wären in der EU verboten, sofern der Exporteur nicht einen juristisch verantwortliche Person in der EU bezeichnet und seine Produkte dort zertifizieren lässt. Die wirtschaftliche Folge auch hier: «Neue technische Handelshemmnisse wie Doppelprüfungen, Doppelzertifizierungen und somit zusätzliche Kosten und bürokratische Aufwendungen», sagt BBL-Sprecher Jonas Spirig. Händler aus der Schweiz würden in der EU wieder wie Importeure behandelt werden und wären nicht wie jetzt den EU-Händlern gleichgestellt. «All dies ist für Schweizer Wirtschaftsakteure mit zusätzlichem bürokratischem Aufwand und zusätzlichen Kosten verbunden», so das Bundesamt. Viertes Opfer? Die Lifte? Welche Produktegruppe oder Branche danach folgen könnte, ist offen: die Baumaschinen, die Funkanlagen, die Schutzausrüstung, die Aufzüge? Das Staatssekretariat für Wirtschaft konnte bis heute keine Liste vorlegen, die zeigt, welche Teilkapitel des Abkommens als nächstes gefährdet sind. Dies ist bemerkenswert, hatte der Bundesrat das Seco doch im September 2020 aufgefordert, alle möglichen Folgen eines Scheiterns der Rahmenabkommens dazulegen. Nach den Bauprodukten könnten die Aufzugsbranche dran sein. Zwar steht dies nicht unmittelbar bevor. Eine Revision der Bestimmungen für Aufzüge plant die EU momentan nicht. Aber eine indirekte Wirkung könnte es geben. Dies geht aus der Antwort des Verbandes der Schweizerischer Aufzugsunternehmen hervor. «In Bezug auf den Export von Aufzugskomponenten in die EU könnte bei einem Wegfall der bilateralen Verträge II die Anerkennung solcher Komponenten möglicherweise dahinfallen», sagt Verbandchefin Silvia Glaus-Zinder. Die Logik der Nadelstiche: Mehr Bürokratie Nach einem Scheitern der Verhandlungen für ein Rahmenabkommen der Schweiz mit der EU wird Brüssel die Politik der gezielten Nadelstiche fortsetzen. Die Logik: Wenn sich die Schweiz nicht den Marktregeln des EU-Binnenmarkts automatisch anpassen will, und wenn sie nicht den Europäischen Gerichtshof als Schiedsrichter der Marktregeln akzeptiert – dann sollen Schweizer Hersteller und Dienstleister auch nicht den ungehinderten Zugang zum EU-Markt haben. 19 Jahre nach der Einführung ist der Flirt der Schweiz mit der EU zu Ende. Und rund die Hälfte der Wirtschaftsführer applaudiert, bemisst man es an der Reaktion der zahlreichen Rahmenabkommensgegner unter den Wirtschaftsführern, vereint bei den Lobbyinggruppen Kompass/Europa und Autonomiesuisse. Mehr Bürokratie ist wieder in geworden.Ab wann neue Handelshemmnisse drohen Nach Sektoren: Medizinprodukte, Nichtanerkennung ab dem 26.5.2021 Maschinen, Nichtanerkennung 2022 absehbar Bauprodukte, Nichtanerkennung ab 2022 absehbar Noch keine Angaben: Aufzüge Persönliche Schutzausrüstung Spielzeuge Gasverbrauchseinrichtungen und Heizkessel Druckgeräte Funkanlagen und Telekommunikationsendgeräte Geräte und Schutzsysteme zur bestimmungsgemässen Verwendung in explosionsgefährdeten Bereichen Elektrische Betriebsmittel und elektromagnetische Verträglichkeit Baugeräte und Baumaschinen Messgeräte und Fertigpackungen Kraftfahrzeuge Land- und forstwirtschaftliche Zugmaschinen Laborpraxis Inspektion der guten Herstellungspraxis für Arzneimittel und Zertifizierung der Chargen Biozid-Produkte Seilbahnen Explosivstoffe für zivile Zwecke Das Abkommen über die technische Handelshemmnisse, eines der sieben Bilateralen Verträge I, abgekürzt MRA, regelt erstens die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbescheinigungen für die meisten Industrieprodukte und zweitens die Prüfung der Einhaltung von Produktvorschriften, damit ein Produkt in der Schweiz und der EU auf den Markt gebracht werden darf Bedeutung. Folge: Für Schweizer Hersteller und ihre EU-Konkurrenten gelten für den Marktzugang weitgehend dieselben Voraussetzungen. Unternehmen sparen Geld und gewinnen Zeit bei der Vermarktung neuer Produkte. Quellen: Seco, Swissmem, BBL

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