Energiekrise in Europa: Robert Habecks bitterste Stunde

Es waren Bilder von infernalischen Waldbränden, wie wir sie sonst aus Kalifornien, Griechenland oder Spanien zu sehen bekommen. Im Südwesten von Berlin mussten am Wochenende Ortschaften evakuiert werden, mehrere Hundert Bewohner und Bewohnerinnen mussten ihre Häuser verlassen. Eine Hitzewelle überzog den Kontinent von Spanien über Frankreich nach Norden. Im brandenburgischen Cottbus wurden 39 Grad gemessen, reihum fielen die Hitzerekorde. Die Klimakrise eskaliert. Gleichzeitig will der grüne deutsche Energieminister Robert Habeck mehr Kohle verfeuern. Zumindest vorübergehend. Grund ist der Ukraine-Krieg. Präsident Putin spielt am Gashahn, einer der wichtigsten Quellen der deutschen Stromversorgung. 11,6 Prozent des Stroms kommen aus Gaskraftwerken, 11,4 Prozent aus der Steinkohle, 18,9 Prozent aus der Braunkohle und immerhin bereits 38,2 Prozent aus der Windkraft. 60 Prozent weniger Gas durch Nord Stream 1 Auf 40 Prozent wurde die Gaszufuhr durch Nord Stream 1 bereits gedrosselt, der Unterwasserleitung zwischen Greifswald und dem russischen Vyborg, über die Deutschland russisches Gas bekommt. Das Armdrücken mit Putin, wie der deutsche Vizekanzler Robert Habeck das Kräftemessen um die Energie mit dem russischen Aggressor bezeichnet, ist in vollem Gang. Der Plan der deutschen Regierung, die Gasspeicher bis zum Winter zu 90 Prozent zu füllen, steht auf der Kippe. Zumal Anfang Juni auch noch eine Revision von Nord Stream 1 ansteht. Sie wird dazu führen, dass während mindestens zehn Tagen überhaupt kein Gas mehr reinkommt aus Russland. Im schlimmsten Fall könnte das dazu führen, dass vorübergehend wieder mehr Gas raus- als reingeht und dass die Speicherstände damit wieder sinken, wie der niedersächsische Energieminister Olaf Lies gegenüber dem Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) sagte. Es wird also eng mit dem Gas. So eng, dass dem grünen Energieminister und Vizekanzler nichts mehr anderes als Kohle bleibt, die klimaschädlichste Methode zur Stromgewinnung überhaupt. Bei der Produktion einer Kilowattstunde Strom mit Braunkohle werden 1’150 Gramm CO2 freigesetzt, bei Erdgas sind es 819 und bei der Steinkohle 789 Gramm. Kernkraftwerke wären besser, aber ... Kernkraftwerke wären besser fürs Klima, und zwar um ein Vielfaches. Sie setzen pro produzierter Kilowattstunde nur gerade 12 Gramm CO2 in die Atmosphäre ab. Doch da klemmt es anderswo: Die drei Atommeiler, die in Deutschland nach dem überstürzten Atomausstieg infolge der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima noch bleiben, brauchen neue Brennstäbe. Und bis die hier wären, könnte es Mitte bis Ende nächsten Jahres werden. «Das hätte uns diesen Winter nicht geholfen», sagte Habeck gegenüber dem ZDF. Zudem gibt es das Personal nicht mehr, das die Anlagen bedienen kann. Und was passiert, wenn Kernkraftwerke und ein trockener Sommer zusammenkommen, zeigt ein Blick nach Frankreich. Das Land hat zwar 56 Kernkraftwerke, von denen 29 tatsächlich in Betrieb sind. Und die kämpfen mit erheblichen Problemen, weil die Flüsse nicht mehr die Pegelstände haben, die es braucht, um die Anlagen zu kühlen. Zurück zur Atomkraft – oder nicht? Die Frage spaltet die deutsche Ampel-Koalition mit SPD, Grünen und FDP. Erstere beide sind dagegen, die FDP aber wittert Morgenluft für die Atomkraft, ebenso wie die Atomindustrie. Ein Tabubruch Der Rückgriff auf die Kohle ist ein Tabubruch. Das sieht auch der grüne Energieminister so. Doch er müsse jetzt nicht auf die Parteiprogramme schauen, sondern nach Wegen suchen, um die Versorgung zu sichern, sagte er. Mehr zum Thema: Wie sich Deutschland auf den Winter vorbereitet Wie Bundesbern sich auf die Gaslieferkrise vorbereitet Österreich will abgeschaltetes Kohlekraftwerk reaktivieren Kommentar zu den Energiepreisen: Aktionismus ohne Kompass Zum Beispiel mit der Suche nach Alternativen zu Russland beim Gas. Aber auch hier machen dem Land die Versäumnisse der Vergangenheit zu schaffen. Eine Lösung wäre Flüssiggas. Denn dafür braucht es Terminals, und die hat Deutschland nicht. Nun wird nach Wegen gesucht, um die Bewilligungsverfahren zu beschleunigen. Immerhin: Bis zum Winter soll eine schwimmende Anlage in Wilhelmshaven fertig sein. Sie soll in der Lage sein, 20 Prozent der russischen Importe zu ersetzen. Trotzdem, an der Kohle wird, zumindest vorübergehend, kein Weg vorbeiführen. Zumal Habeck hier auf die Unterstützung seiner wichtigsten Koalitionspartnerin, der SPD, zählen kann. Kommt es zum Backlash für die erneuerbaren Energien? Wichtiger wird sein, ob es dabei bleibt oder ob es zu einem Rollback bei den erneuerbaren Energien kommt. In Deutschland dürfte das kaum der Fall sein, zumindest unter dieser Regierung nicht. Die erneuerbaren Energien müssten so schnell wie möglich ausgebaut werden, sagte Energieminister Habeck. Doch Deutschland ist nicht das einzige Land, das die Kohlekraft wieder hochfährt. Auch die Niederlande, Österreich und wohl bald auch Italien wollen wieder mehr mit Kohle feuern. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen warnte die Mitgliedsländer davor, von ihrem Weg in Richtung erneuerbare Energien abzukommen. «Wir müssen sicherstellen, dass wir diese Krise dazu nützen, um vorwärtszukommen», so von der Leyen in einem Interview. Im Moment habe Putin den längeren Arm, sagte Robert Habeck. Ob das so bleibt oder ob sich das ändert, entscheidet die Politik. Klar ist: Putin wird nur eine Abkehr von den fossilen Energieträgern Eindruck machen. In einer früheren Version dieses Artikels war von «Nord Stream 2» die Rede, es muss «Nord Stream 1» heissen. Wir haben die Textstellen angepasst.