Ukraine-Politik im Bundesrat: Karin Keller-Sutter und Viola Amherd im Lead

Der Ukraine-Moment von Justizministerin Karin Keller-Sutter kam am Tag nach dem russischen Angriff auf Kiew. Sie trat zusammen mit Präsident Ignazio Cassis und Wirtschaftsminister Guy Parmelin vor die Presse und sagte: «Wir sind in der sicheren Schweiz erwacht, während die Menschen in der Ukraine im Krieg erwacht sind.» Ihre Stimme klang alarmierend und besorgt. Sie war die Erste aus dem Bundesrat, die das Wort Krieg aussprach. Sie verglich Putins Einmarsch mit dem der Russen in Ungarn 1956 und in der Tschechoslowakei 1968. Hunderttausende verloren damals ihre Heimat. Der Kontrast zu ihren Vorrednern hätte nicht grösser sein können. Cassis hatte professoral von der Verletzung des Völkerrechts gesprochen und davon, dass man eine «neue Broschüre zur Neutralität» publiziert habe. Und Parmelin betonte die Guten Dienste als Vorteil einer zurückhaltenden Sanktionspolitik. Der Auftritt der beiden Männer war kühl. Nicht so die Worte von Keller-Sutter: «Wir lassen die Menschen in der Ukraine nicht im Stich.» Sie sprach von Solidarität und Mitgefühl. Mit ihrer anpackenden Art rettete sie die Ehre des Bundesrates, der sich am Tag zuvor in eine unmögliche Situation manövriert hatte. Genauer gesagt: Guy Parmelin. Am Donnerstag, 24. Februar, attackierte Putin um 4 Uhr Kiew. Um 9 Uhr bot Cassis den Bundesrat zu einer dringlichen Sitzung auf 11 Uhr. Man wollte Sanktionen beschliessen. Doch es fehlten die Unterlagen. Der Grund: Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), Abteilung Sanktionen, hatte es verpasst, sich auf diesen Moment vorzubereiten. Es hatte wenig Ahnung, was bei der EU lief. Und so kam, was Beteiligte wie folgt beschreiben: «Das Protokoll der Bundesratssitzung war so unklar, dass niemand wusste, welche Sanktionen der Bundesrat verhängt hat.» Parmelins Seco bastelte die Beschlüsse gemeinsam mit dem Staatssekretariat für internationale Finanzfragen (SIF) zusammen. Am Freitag um 14 Uhr gingen Parmelin, Cassis und Keller-Sutter zur eingangs erwähnten Pressekonferenz. Ab 18 Uhr traten die ersten Oligarchen- und Wirtschaftssanktionen in Kraft, die die Umgehung ausländischer Sanktionen verhindern. Doch im Bundesrat wussten alle ausser Parmelin: Das wird nicht reichen. Seco-Chefin wirkte «wie abwesend» Doch Verteidigungsministerin Viola Amherd war wütend. Sie hatte bereits am Tag vor dem Angriff auf Kiew den Bundesrat angemahnt, mit dem Sanktionsbeschluss vorwärtszumachen. Der bei ihr angesiedelte Nachrichtendienst (NDB) hatte eine Woche vor dem Angriff für den Bundesrat die Lage zusammengefasst: Der russische Einmarsch stehe kurz bevor. Die EU werde mit Sanktionen reagieren «und die Schweiz müsse sich auf diesen Moment vorbereiten», so die Botschaft laut eines Insiders. Ob Parmelin diese NDB-Warnung an das Seco weitergegeben hat, ist unklar. «Tatsache ist: Das Seco war am Tag des Kriegsausbruchs nicht vorbereitet», so heisst es aus drei unabhängigen Quellen. Die von der EU in Aussicht gestellten «harten EU-Sanktionen» waren wochenlang ein öffentliches Thema. Welche es sein würden, war geheim. Eine genaue Nachfrage in Brüssel hätte aber genügt, wie Insider sagen. Während der Corona-Krise lief es genauso. Einmal mehr fiel auf, dass Seco-Chefin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch ihr Amt nicht zur Vorbereitung angetrieben hatte. Das liege zum einen am Seco – das sei «ein Staat im Staat», so ein Insider, und daran könne auch Parmelin wenig ändern. Zum anderen liegt es an Ineichen-Fleisch selber. «Sie ist hochbegabt und spricht sechs Sprachen. Doch sie wirkt, als wäre sie abwesend», so ein Beobachter. Ein hochrangiger SVP-Parlamentarier ergänzt: «Zum Glück geht sie bald.» Der Eklat Amherds Trotz Amherds Warnung schaltete der Bundesrat auf Courant normal. Zu einer Lachnummer wurde dann auch der Auftritt des Nachrichtendienstchefs Jürg Bühler an der missratenen Pressekonferenz zum Kriegsbeginn. Eigentlich wollte Amherd zusammen mit Cassis vor die Öffentlichkeit, den Angriff verurteilen und sagen, dass man sich in der Schweiz militärisch vorbereiten müsse. Doch der Bundesrat pfiff sie zurück: Es gebe ausser der Verurteilung des russischen Angriffs nichts zu verkünden. Für diese Verkündung reservierte sich Cassis sieben Minuten und schlich nachher davon – Fragen verboten. Die Öffentlichkeit war baff. Anstelle der Bundesräte sollten gewisse Chefbeamte den Journalisten und Journalistinnen Rede und Antwort stehen. Und deshalb schickte Amherd NDB-Chef Bühler völlig unvorbereitet vor die Presse. Dort wurde er gefragt, wie er die Lage nach Kriegsausbruch einschätze. Er antwortete, das sei geheim, er dürfe nur dem Bundesrat berichten. Darauf fragte ihn ein Journalist, warum er überhaupt an der Konferenz teilnehme. Seine Antwort: «Weil mich die Chefin geschickt hat.» Das Erstaunen war gross. Seine Chefin, Viola Amherd, war öffentlich blamiert. Das ärgerte sie umso mehr, weil sie am Debakel keine Mitschuld trug. Das Problem waren Parmelins fehlende Sanktionsunterlagen. SNB und Finma intervenieren bei Maurer Diese Blamage wurde zum Wendepunkt. Der Bundesrat schaltete auf Dynamik. Das Seco informierte sich über Nacht in Brüssel, Cassis’ Aussenministerium und alle Departementspitzen arbeiteten übers Wochenende. Cassis wurde mit der breiten Verärgerung von EU-Ministern und der USA über die Haltung der Schweiz konfrontiert. Keller-Sutter erfuhr in Brüssel aus erster Hand, dass Hunderttausende Flüchtlinge auf dem Weg in die EU seien. Es wurde dringlich. Am Freitag meldeten dann die Nationalbank und die Finanzmarktaufsicht Finanzminister Ueli Maurer, dass schon fast der gesamte Finanzverkehr mit den Russen als Folge von Sanktionen der EU und USA blockiert sei. Damit bringe man Schweizer Banken in beträchtliche Probleme. Welche Regeln sollten gelten – inländische oder ausländische? Es sei besser, so deren Input, wenn die Schweiz Klarheit schaffe und Finanzsanktionen gleich umsetze wie die EU. Mauer erkannte das Problem. Sein Positionswechsel in der Sanktionsfrage trug am Montagmorgen nach Kriegsbeginn zur vollen Umsetzung der EU-Sanktionen mit bei. Parmelin stand zu diesem Zeitpunkt isoliert mit seiner Idee da, nur Teilsanktionen (den sogenannten Courant Normal im Handel mit Russland) zu verhängen. Am Ende gab es keine Abstimmung im Bundesrat. Der Entscheid, dass die Schweiz die wirtschaftliche Neutralität gegenüber Russland ablege, fiel einstimmig. Cassis, Maurer, Amherd und Keller-Sutter traten vor die Presse: Putin werde sanktioniert. Nur Parmelin wurde aussen vorgelassen, denn er hatte das Schlamassel angerichtet, obwohl die Sanktionen sein Geschäft sind. Druck auf Amherd steigt Die Parlamentarier im Bundeshaus attestieren seitdem Ueli Maurer und Keller-Sutter Führungsstärke. Keller-Sutter packt die Flüchtlingsfrage beherzt an. Seither gilt die Devise: Flüchtlinge werden mit offenen Armen empfangen. Den Ukrainerinnen mit ihren Kindern wird der Schutzstatus S gewährt, statt sie ins Asylverfahren zu schicken. Doch bei Viola Amherd hat die Nervosität zugenommen. Soll jetzt die Armee im Hauruckverfahren aufgerüstet werden? Sie würde das gerne tun – und die Schweizer Offiziere auch. Doch die Politik hat die Armee jahrzehntelang kleinsaniert. Der Bestand wurde schon unter Ueli Maurer als Verteidigungsminister reduziert, das Budget gekürzt. Vieles ist veraltet, die Panzer, die Flieger, die Kommunikation. Niemand glaubte mehr an einen Krieg. Die Schweiz würde laut Armeechef Thomas Süssli einem Angriff im Stile Putins höchstens ein paar Wochen lang trotzen können, wie er gegenüber dem «Tages-Anzeiger» sagt. Die Bürgerlichen wollen jetzt zusätzliche 2 Milliarden Franken in die Armee sofort investieren, doch das geht nicht so schnell, wie Hilfsgüter nach Polen zu schicken. Die Frage ist, was zuerst gekauft werden soll und wie schnell. Stattdessen sieht sich Amherd wegen der Beschaffung der F-35-Kampfflugzeuge von linker Seite konfrontiert. Sie hat keinen leichten Stand. Sie wird von allen Seiten kritisiert. Die Ukraine-Krise hat im Bundesrat die Karten neu gemischt. Berset verhält sich still. Cassis und Parmelin sind geschwächt, auf Ueli Maurer ist wie immer Verlass. Und Sommaruga ist wegen der Energielücke unter Druck, denn die drohende Strommangellage, die Abhängigkeit vom russischen Gas und fehlende Gasspeicher könnten zu einem grossen Problem werden. Karin Keller-Sutter ist hingegen die neue Leaderin. Die Teilnahme der Schweiz am Schengen-Raum erleichtert ihr den Kontakt zu EU-Innenministern und macht sie wichtig. Sie weiss ständig, was in Brüssel läuft. Und schliesslich Viola Amherd: Sie muss ihre neue Rolle als Verteidigungsministerin in der Bedrohungslage finden. Doch sobald die Armee zur Mithilfe im Zusammenhang mit den Flüchtlingsströmen gerufen werden, wird auch Amherd wieder Oberwasser kriegen. Völlig ungelöst bleibt derzeit aber eine Frage: Rauft man sich für weitere Sanktionen, etwa für das Öl- und Gasembargo, zusammen? Und was, wenn die Schweizer Wirtschaft dann in eine tiefe Rezession fällt? Was macht der Staat dann? Der Härtetest steht noch bevor.

Ukraine-Politik im Bundesrat: Karin Keller-Sutter und Viola Amherd im Lead

Ukraine-Krieg: Karin Keller-Sutter und Viola Amherd sind im Lead