Unruhe in der Wettbewerbskommission: Kartellrichter Henrique Schneider macht Diktaturvergleich

Seit Wochen herrscht Unruhe in der Wettbewerbskommission (Weko). Der Grund: Die zwölf Personen im Gremium haben eine unter ihnen, die den Ruf der Behörde seit Monaten unterminiert: Henrique Schneider. Er zog mehrfach öffentlich über die Behörde her, der er angehört und für die er den Wettbewerb überwacht. Der 45-Jährige ist besser bekannt als der Stellvertreter von Hans-Ulrich Bigler, dem Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbandes. Am Mittwoch soll er vom obersten Verbandsgremium zum Direktor ernannt werden. Insofern sind seine Äusserungen von einiger Brisanz. Schneiders happigste Aussage: «Eine Wettbewerbskommission, die Fälle immer nur gewinnt, gibt es nur in den unterentwickeltesten aller Diktaturen – und in der Schweiz.» Als Diktaturen gelten heutzutage etwa Nordkorea oder Myanmar. Mit der Aussage wollte Schneider die Weko aufs Korn nehmen, weil sie viele Fälle vor den Rekursinstanzen gewinnt – dem Bundesverwaltungsgericht und dem Bundesgericht. Indirekt sagt Schneider also, dass die Weko mit ihren Entscheiden wie in einer Diktatur immer durchmarschiert und alle Instanzen ihr brav zustimmen. Der Vorwurf ist happig. Eine umtriebige Person Schneiders Aussage gibt es schwarz auf weiss in einem Referat, das am 25. Oktober an einer Branchentagung zum Kartellrecht an der KV Business School in Zürich verlesen wurde. Der Veranstalter heisst Schweizerische Vereinigung für Wettbewerbsrecht (Asas), und Schneider hatte die Tagung mitorganisiert. An der Tagung selber glänzte er allerdings mit Abwesenheit – sein Referat wurde vom Präsidenten der Vereinigung vorgetragen. Dies sorgte für grosse Irritation unter den anwesenden Weko-Mitgliedern und den auf Kartellrecht spezialisierten Rechtsanwälten. Schneider bestreitet gegenüber der «Handelszeitung» nicht, die Aussage gemacht zu haben. Er bedauert sie auch nicht. Der Vorwurf: Die Weko habe keine Ahnung Doch das war nicht das Einzige, was er sagte. Er legte noch einen obendrauf: «Wir alle wissen, dass die Weko und die Gerichte das Kartellgesetz falsch anwenden.» Die Behörde agiere realitätsfremd: «Praxis und Wettbewerbskommission sind sich kategorial etwa so nahe wie die Farbe Blau und ein Veloschlauch.» Anders gesagt: Die Weko habe wenig Ahnung davon, wie «draussen» der Wettbewerb laufe. Schneiders Aussage hat Gewicht, denn er mosert nicht einfach über irgendeine Behörde. Schneider ist selber Teil der Wettbwerbskommission, die er diffamiert. Schon früher war Schneider despektierlich Schneider ist 2015 vom Bundesrat in die Weko gewählt worden als einer von fünf Verbandsvertretern. Seit 2016 ist er Wettbewerbsrichter. Die Weko ist allerdings kein klassisches Gericht, sondern, rechtlich gesehen, Teil der Verwaltung. Sie hat aber polizeiliche Vollmachten. So kann sie etwa Hausdurchsuchungen unter Beizug der Polizei vornehmen, Büros durchsuchen und Computer beschlagnahmen. Schon früh äusserte sich Schneider polemisch, so etwa in einem Kommentar in der «Schweizerischen Gewerbezeitung» im August 2019: «Wenn die Weko dem Wettbewerb den Garaus macht, braucht es sie nicht mehr.» Seine Kritik galt vor allem der Praxis bei Preis-, Mengen- und Gebietsabsprachen unter Anbietern. Seit 2016 gilt, dass, sobald eine solche Absprache unter Firmen aufgedeckt ist, diese Firmen verurteilt und gebüsst werden. Eine ökonomische Untersuchung der negativen Folgen der Absprache muss von der Weko nur in Spezialfällen nachgewiesen werden. Diese Praxis ist die Folge eines Bundesgerichtsurteils im «Elmex/Gaba»-Fall. Krude Vorwürfe in einer Festschrift Wie Schneider seinen Diktaturvergleich der Weko nährt, ist unklar. Doch einen Hinweis findet sich in der im Herbst publizierten privaten «Festschrift» zum 25-Jahr-Jubiläum der Weko. Herausgeber sind der Uniprofessor Andreas Kellerhals und Henrique Scheider. Darin lassen sie den Inhaber einer von der Weko wegen Preisabsprache verurteilten Firma breit zu Wort kommen, mit brisanten Aussagen: «Die Weko ist ein kleiner Staat im Staat mit Zügen einer Diktatur und offenkundiger, ideologischer Ausrichtung geworden.» Die Weko werde heute, so der Firmeninhaber, als eine Behörde wahrgenommen, «die mit allen Mitteln, in völliger Unabhängigkeit, das heisst ohne jegliche Kontrolle von aussen, nach ähnlichen Prinzipien eines totalitären Staates, der nur die Repression als Führungsprinzip kennt, funktioniert». Die Behörde schaffe es, dem Bundesgericht «in einer ideologisch bestimmten Richtung» den Marsch zu blasen. Er beklagt einen «Klassenkampf in anderer Form». Schneider hat dem Mann zuvor wiederholt auch in der «Schweizerischen Gewerbezeitung» eine Plattform zu kruden Aussagen geboten. Harsche Kritik an Schneider Die Reaktionen auf Schneiders Äusserungen in der Kartellrechtsbranche sind scharf: «Herr Schneider mag Kritik am Wettbewerbsrecht äussern. Aber in der Art und der Form, wie er es macht, ist das inakzeptabel», sagt der emeritierte Rechtsprofessor Roger Zäch und frühere Weko-Vizepräsident. Er sagt, Schneider liege auch inhaltlich falsch, wenn er meine, dass die Weko nur gewinne. «Die Weko hat früher viele Fälle verloren. Daraus hat sie gelernt. Heute bereitet sie die Entscheide sorgfältig vor, sodass sie selten vor höheren Instanzen verliert.» Zäch erhält Support durch Kartellrechtsprofessor Andreas Heinemann von der Uni Zürich, der bis Dezember 2022 Präsident der Behörde war. «Die Aussage Schneiders, dass die Weko die Fälle vor Gericht immer gewinnt, zeugt von bemerkenswerter Unkenntnis des einschlägigen Fallrechts», sagt Heinemann. Die Weko werde durch Gerichte streng kontrolliert und immer wieder mal korrigiert. «Der Vergleich der Schweiz mit einer Diktatur in diesem Zusammenhang lässt nicht nur an der fachlichen, sondern auch an der politischen Kompetenz des Sprechers zweifeln.» Heinemann legt Schneider den Rücktritt nahe: «Wer an die Öffentlichkeit mit der pauschalen Aussage tritt, dass die Weko und die Gerichte das Kartellgesetz falsch anwenden, erfüllt die Anforderung als Weko-Mitglied nicht.» Der frühere Weko-Präsident und Rechtsprofessor Walter Stoffel sagt, problematisch sei insbesondere, wenn sich «ein Weko-Mitglied mit der Aura umgibt, Weko-Mitglied zu sein, um seine politische Agenda zu verfolgen». Machtwort durch Parmelin Schneiders Diktaturvergleich fand den Weg bis zu Wirtschaftsminister Guy Parmelin. Die Weko fällt in seine Zuständigkeit, auch wenn sie unabhängig ist. Parmelins Sprecher antwortet auf «Handelszeitung»-Anfrage indirekt. Der Bundesrat kommentiere «weder Aussagen einzelner Mitglieder der Behörde noch Fragen der Loyalität gewählter Mitglieder gegenüber der Kommission». Doch aus der Stellungnahme geht hervor, dass der Bundesrat interveniert hat, und zwar bei der Weko-Präsidentin Laura Melusine Baudenbacher. Die 37-Jährige trat das Amt im Januar an. Baudenbacher habe, sagt Parmelin-Sprecher Markus Spörndli, dem Bundesrat gegenüber versichert, «dass sich die Kommissionsmitglieder an die Grundsätze von Loyalität und Vertraulichkeit zu halten haben». Diese zwei Grundsätze habe Parmelin hervorgehoben. «Der Departementsvorsteher findet es wichtig, dass diese Grundsätze eingehalten werden», sagt Sprecher Spörndli. Im Umkehrschluss dürfte dies heissen: Schneider war illoyal und hat die Vertraulichkeit nicht geschützt. Sich dermassen abschätzig äussern, geht nicht Zwar ist die Wettbewerbskommission kein Gericht, sondern eine Verwaltungsbehörde. Die Weko-Mitglieder sind deshalb keine Magistratspersonen. «Dennoch ist es problematisch, wenn sich ein Weko-Mitglied dermassen abschätzig über das Gremium äussert, dem es angehört. Solche Äusserungen schwächen das Vertrauen der Rechtsunterworfenen in diese Behörde», sagt Ständerat Andrea Caroni (FDP). Er hat bis Dezember die Gerichtskommission des Parlaments präsidiert. «Richter dürften solche Aussagen gegenüber ihrem Gericht nicht machen», sagt Caroni. Der Fall Schneider zeige «das Spannungsfeld, das entsteht, wenn Verbandsvertreter der Weko angehören», sagt Caroni. Der Bundesrat wollte mit der Weko-Reform von 2012/14 die Verbandsvertreter aus der Weko entfernen und die Behörde professionalisieren. «Leider lehnte das Parlament die Reform ab. Pikanterweise sträubten sich damals die Verbandsvertreter am stärksten gegen die Reform. Heute kritisieren sie die Weko scharf», sagt der FDP-Ständerat. Die fünf Verbandsvertreter in der Behörde sind der Direktor des Bauernverbands, je eine Ex-Zentralsekretärin des Gewerkschaftsbundes und des Westschweizer Konsumentenschutzes FRC, der Chefökonom von Economiesuisse und Schneider vom Gewerbeverband. Die anderen sieben Mitglieder sind Fachexperten. Für Caroni liege die Lösung in einem neuen Reformanlauf: «Hin zu einer professionalisierten Weko als Untersuchungsbehörde und einem Kartellgericht, das unabhängig von der Weko entscheidet.» Professionalisiert heisst, dass keine Vertreter wie Schneider mehr Einsitz nehmen. Der Kritisierte bereut offenbar nichts Henrique Schneider selber sieht kein Problem. Ist ein Vergleich der Weko mit einer Diktatur angebracht? Er findet nein: «Eine Diktatur ist ein Phänotyp und nicht reduzierbar auf Fallstudien. Ich vergleiche im Übrigen die Praxis in der Schweiz nicht mit Diktaturen.» Einen Rücktritt lehnt er deswegen ab. «Ich kritisiere die Behörde, damit sie besser wird», sagt der 45-Jährige. Der Schutz des Wettbewerbs sei ein hohes Gut, denn Wettbewerb sei ein wichtiger Treiber der Marktwirtschaft. Er sieht auch nicht, warum seine Kommentare dem Ruf des Gremiums schaden sollten. Die Autorität der Weko müsse aus einer «richtigen» Gesetzesanwendung kommen, sagt Schneider. In den Augen Schneiders wendet die Behörde das Gesetz falsch an: «Die Entscheide müssen, wie das Gesetz es vorsieht, Ergebnisse vorsichtiger ökonomischer Abwägungen sein.» Ist die Weko «ohne jegliche Kontrolle»? Schneider sagt: «Es ist auffallend, dass diese Gerichte selten die ökonomische Abwägung der Weko – oder ihr Ausbleiben – aufgreifen. Das sehe ich als problematisch.» Anders die EU-Kommission und der Europäische Gerichtshof. Die dortigen Urteile würden sich «sehr detailliert mit den wirtschaftlichen Folgen» eines Kartellfalls auseinandersetzen. Ex-Präsident Heinemann, der als anerkannter, internationaler Experte der europäischen Rechtspraxis gilt, kontert: «Offenbar kursieren viele unrichtige Vorstellungen über die Anwendung des Wettbewerbsrechts.» Wie geht es weiter? Weko-Präsidentin Laura Melusine Baudenbacher qualifiziert Schneiders Diktaturvergleich auf Anfrage wie folgt: «Der Vergleich zur Gerichtspraxis in Diktaturen ist eine faktenfreie Behauptung.» In ihrer Stellungnahme nennt sie die Anforderungen an Weko-Mitglieder: «Die Identifikation mit den Zielen der Weko», «die Unabhängigkeit von Interessenbindungen» sowie eine «systematisch unvoreingenommene Meinungsbildung». Zur Aussprache mit Parmelin sowie zu Rücktrittsforderungen nimmt sie keine Stellung.Apropos Wettbewerbskommission Die Behörde wurde 1995 geschaffen. Sie hat zum primären Ziel, wettbewerbsschädliches Verhalten von Firmen zu verfolgen und Schuldige mit einer Busse zu bestrafen. Als schädlich gelten vertikale Absprachen zwischen Herstellern und Händlern, horizontale Absprachen unter Händlern und der Missbrauch der Marktmacht durch marktmächtige Unternehmen. Als marktmächtig gelten etwa die Swisscom und der Detailhändler Coop. Neben der Verfolgung von Kartellen wacht die Wettbewerbskommission (Weko) über Fusionen grosser Firmen. In der Vergangenheit hat sie Fusionsbegehren oft durchgewunken, mangels scharfer Gesetze. Die Revision der Fusionskontrollbestimmungen ist deshalb das wichtige politische Traktandum in Bundesbern. An zweiter Stelle der politischen Wunschliste steht ein Umbau der Behörde in eine echte Richterbehörde unter Ausschluss der Verbandsvertreter. Und schliesslich ist eine Motion pendent, die das Rad in der Spruchpraxis der Weko und des Bundesgerichts rund um die Definition von Kartellen zurückdrehen will. Ein Teil der Fachleute und Politiker verlangt mit einer Gesetzesänderung, dass die Weko jedes Mal die negativen wirtschaftlichen Folgen eines Kartells beweisen muss, bevor sie ein Kartell verurteilt. Der Nachweis negativer wirtschaftlicher Folgen einer Abrede sind öfters schwierig rechtsgültig nachzuweisen und führten früher zu grossem Mehraufwand. Sie waren für eine kleine Behörde wie die schweizerische Weko kaum zu bewältigen. Eine Gesetzesänderung würde die Weko daher schwächen und potentielle Kartellisten stärken. Henrique Schneider ist Teil dieser Bewegung. Der Ball zum Reformbegehren liegt im Wirtschaftsdepartement von Guy Parmelin.

Unruhe in der Wettbewerbskommission: Kartellrichter Henrique Schneider macht Diktaturvergleich

Weko-Richter beleidigt die eigene Behörde