Viola Amherd will vorwärtsmachen aber Alain Berset ist einer der härtesten Gegner von EU-Verhandlungen

Er spüre «in gewissen Kreisen einen Kriegsrausch». Mit dieser Bemerkung hat sich Bundespräsident Alain Berset vor drei Wochen mächtig in die Nesseln gesetzt. Die News ging um die Welt. Berset wurde dafür national wie international scharf kritisiert. Selbst SP-Parteikader distanzierten sich öffentlich von ihm. Und Verteidigungsministern Viola Amherd war enerviert. Nun zeigen Recherchen, dass Berset im Bundesrat auch einer der härtesten Gegner von EU-Verhandlungen ist. «Berset blockiert im EU-Dossier, wie er nur kann», sagen zwei informierte Mitglieder des Parlaments mit Zugang zum Bundesrat. Der Gesamtbundesrat teilte am Mittwoch mit, dass er bis Ende Juni die Eckwerte eines Verhandlungsmandats erarbeiten wolle. Berset unterstützt indirekt das SVP-Lager Das heisst, Berset politisiert im Lager der SVP-Bundesräte. Am anderen Pol auf der Achse der Gegner und Befürworter von EU-Verhandlungen im Bundesrat steht Viola Amherd. «Sie will vorwärtsmachen», sagt eine ihr vertraute Person. Amherds Motivation: «Sicherheitspolitisch braucht die Schweiz dringend eine engere Zusammenarbeit mit den EU-Partnern als bisher. Sie sieht diese gefährdet», so die Quelle, die namentlich nicht zitiert sein will. Die Schweiz werde in der EU derzeit als «ein unverlässlicher Partner» gesehen: wegen der bilateralen Verträge und weil der Bundesrat sich gegen die Wiederausfuhr von Schweizer Rüstungsgütern stellt. Und dann legt Berset noch ein Scheit drauf. Mit seiner «Kriegsrausch»-Rhetorik stiess der Bundespräsident fast alle EU-Länder vor den Kopf. Amherd sorgt sich um die Sicherheitspolitik Amherd sieht laut derselben Quelle «in der Aufnahme von EU-Verhandlungen einen Garant dafür, dass die Schweiz sich auch sicherheitspolitisch weiterentwickeln kann». Die Walliserin schätzt die EU-Konflikte «als lösbar» ein. Diese Sicht hatte sie bereits vor zwei Jahren, bevor der Bundesrat die Verhandlungen für das Rahmenabkommen sistierte. In einem Mitbericht zur Bundesratssitzung im Vorfeld dieses Entscheids empfahl sie, wichtige EU-Prinzipien anzuerkennen und in Verhandlungen Ausnahmeregelungen und Ventilklauseln zu erreichen. Ein solches Prinzip ist das Recht auf Sozialhilfe in jedem EU-Land (Unionsbürgerrichtlinie). Die Ausnahme davon wäre, dass die Schweiz eine solche Sozialhilfe ablehnen kann, wenn der oder die EU-Angehörige hier nicht gearbeitet hat. Die Ventilklausel wäre, dass, wenn zu viele Arbeitslose aus der EU hierzulande Sozialhilfe beantragen, die Schweiz diesen Recht einseitig sistieren könnte. Die EU-Kommission zeigt sich kompromissbereit Genau solche Ausnahmen und Schutzklauseln bietet die EU-Kommission jetzt der Schweiz in heiklen Dossiers an. So sagte der für die Schweiz zuständige EU-Vizekommissionspräsident Maroš Šefčovič in einem Vortrag an der Uni Freiburg vor zwei Wochen: «Wir sind bereit, Ausnahmen zu gewähren.» Er gab ein Beispiel: «Kompromisse bei den Regeln zur Einwanderung von EU-Bürgern und -Bürgerinnen ins schweizerische Sozialsystem sind möglich». Das Gleiche gilt für die Lohnkontrollen von entsandten Arbeitnehmenden von EU-Firmen in der Schweiz. Mit anderen Worten: Šefčovič hat akzeptiert, dass Schweizer Lohnkontrollen Bestand haben. Die letzten Details der Sondierungsgespräche werden am 20. April gefeilt. Die Schweizer Chefdiplomatin Liva Leu weilt dann in Brüssel zur vorerst letzten Sondierungsrunde. Danach kommt für den Bundesrat die Stunde der Wahrheit. Er wird sich für oder gegen Verhandlungen entscheiden müssen. Bersets Umfeld sagt: «Das falsche Timing» Doch Berset sind solche Zugeständnisse, die während Sondierungsgesprächen von Leu in Brüssel und Cassis in der Schweiz erreicht wurden, offenbar zu wenig. Die «Handelszeitung» hat ihn um einen Kommentar zu seiner Blockadehaltung gebeten. Seine Medienstelle lehnte dies ab. Sie betont, dass Aussenminister Ignazio Cassis federführend sei und Berset diesem Resultat nicht vorgreifen könne. Eine andere Quelle sagt, dass Berset «weder das Timing für Verhandlungen gut findet noch eine realistische Chance darin sieht, dass das Stimmvolk neuen, bilateralen Verträgen zustimmt». Mit «Timing» meint diese Quelle die eidgenössischen Wahlen im Herbst. Anders gesagt: Berset will keine EU-Verhandlungen mehr vor den Wahlen. «Jetzt muss es vorwärtsgehen» Befürworter von Verhandlungen, darunter der SP-Nationalrat und Parlamentsvizepräsident Eric Nussbaumer, «Mitte»-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Scheiter und FDP-Nationalrätin Christa Markwalder, sehen darin ein schwaches Argument. «Man kann das verknorzte Verhältnis der Schweiz mit der EU nur mit Verhandlungen verbessern», sagt Nussbaumer. «Zuwarten bringt nun wirklich nichts», sagt Markwalder. Und so fasst Schneider-Schneiter die Lage zusammen: «Die Kantone sind einstimmig dafür. Der Bundesrat will ein Verhandlungsmandat ausarbeiten. Jetzt muss es vorwärtsgehen.» In der zuständigen Kommission des Nationalrats befinde sich «kein SP-Mitglied mehr mit einer Blockadehaltung wie derjenigen von Berset», so Schneider-Schneiter. Schizophrene SP und der Gewerkschaftsbund Was in Bern wenige verstehen, ist, dass ein Teil der SP und der Gewerkschaftsbund sich gegen EU-Verhandlungen stemmen. Denn gleichzeitig enthalten ihre gültigen Statuten eine klare Bekenntnis zur EU. In den Statuten des Gewerkschaftsbundes (SGB) steht an vorderster Stelle: «Der SGB setzt sich insbesondere ein für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und deren Weiterentwicklung zu einem sozialen Europa.» Dennoch lehnen Präsident Pierre-Yves Maillard und SGB-Chef Daniel Lampart EU-Verhandlungen derzeit ab. Auch im SP-Parteiprogramm findet sich ein EU-freundliches Statement: «Mit ihrem Beitritt zur EU muss sich die Schweiz dafür einsetzen, dass der Integrationsprozess in Europa weiter voranschreitet, die EU zu einer umfassenden Sozial- und Wirtschaftsunion ausgebaut und demokratisiert wird.» Und dennoch macht SP-Bundesrat Alain Berset auf Opposition. Baume-Schneider bringt neue Dynamik Ignazio Cassis arbeitet mit Volldampf auf eine Aufnahme von EU-Verhandlungen zu. «Er hat viel investiert in diese zweite Chance von Verhandlungen, auch hat er die Kantone hinter sich gebracht», sagt eine mit Cassis vertraute Quelle. Doch weitere, gut informierte Quellen berichten, dass sich noch immer vier der sieben Bundesratsmitglieder gegen die Aufnahme von Verhandlungen sperren: Die SVP-Bundesräte Guy Parmelin und Albert Rösti aus dogmatischen Gründen; Alain Berset ist aus den erwähnten «Timing»-Argumenten dagegen. Offen ist dagegen, wie sich Cassis’ Parteikollegin Karin Keller-Sutter zu den Verhandlungen stellt. Sie monierte lange, dass die Gefahr einer übermässigen EU-Einwanderung ins Schweizer Sozialsystem nicht gebannt sei. «Sie war deswegen gegen Verhandlungen», sagten zwei Quellen. Doch eine Quelle, aus Keller-Sutters Lager, widerspricht, das Gegenteil sei der Fall: «Karin Keller-Sutter war gerade die Bundesrätin, die es schaffte, dass über Schutzmechanismen gegen die EU-Einwanderung ins hiesige Sozialsystem diskutiert wird.» Das Bundesrats-Communiqué vom Mittwoch bestätigt, die Gespräche hätten «zu einem gemeinsamen Verständnis mit der EU geführt». Jedoch müsse man sie noch präzisieren. Dass Bewegung ins EU-Dossier kommt, hat auch mit der Haltung der Jurassierin Elisabeth Baume-Schneider (SP) zu tun. «Sie ist offener gegenüber der EU eingestellt, als es ihre SP-Vorgängerin im Bundesrat, Simonetta Sommaruga, war», so eine Quelle aus ihrem Umfeld. «Sie ist an einem stabilen Rahmen mit der EU und an einer geregelten Beziehung mit der EU interessiert.» Ihre Hunderttagebilanz, die die frühere Ständerätin des Kantons Jura am Montag in Zürich zog, enthält ein bemerkenswert klare Bekenntnis zu den bilateralen Verträgen. «Ich will die Rahmenbedingungen der Schweizer Wirtschaft schützen», sagte die Justiz- und Migrationsministerin am Montag. Die Schweiz habe «stark von der Personenfreizügigkeit mit der EU» profitiert. Der Zugang der Wirtschaft zu gut ausgebildetem EU-Personal sei wichtig. Ebenso wichtig seien «gute Bedingungen für die Exportwirtschaft». Baume-Schneiders Fazit: «Diese zwei Aspekte sind sehr wichtig für die Wohlfahrt unseres Landes.» Berset hat eine Verbündete verloren Anders gesagt: Die Gewichte im Bundesrat haben sich dank Baume-Schneider zugunsten von EU-Verhandlungen verschoben. Berset hat mit dem Rücktritt Sommarugas aus der Regierung eine stramme Verbündete gegen neue EU-Verhandlungen verloren. Sollte jetzt auch Keller-Sutter ihre Haltung klar pro Europa ausgerichtet haben, könnte der Bundesrat mit der EU-Kommission zu verhandeln beginnen. Der Beschluss des Bundesrates vom Mittwoch, ein Verhandlungsmandat zu entwerfen, zeigt in diese Richtung. Eine Mehrheit musste dahinterstehen. Damit dürfte Bersets «Kriegsrausch»-Rhetorik hoffentlich vergessen gehen. Im anderen Fall, wenn sich Bersets Haltung im Bundesrat verfestigen sollte, würde die Regierung die EU erneut massiv vor den Kopf stossen. EU-Vizekommissionspräsident Šefčovič sagte in Freiburg, die Stimmung sei gut, man solle die Chance jetzt nutzen. Es gebe derzeit «ein gutes Momentum, eine gute Gelegenheit»: «Ich hoffe, dass der Abschluss der Verhandlung bis im Sommer 2024 erfolgt.» Dieser Termin steht vor dem Hintergrund, dass die aktuelle EU-Kommission, inklusive Šefčovič, nächsten Sommer abtritt. Dieser Druck, so sagen manche in Bern, könnte Bersets «Falsches Timing»-Argument in die Hände spielen. Und Verteidigungsministerin Viola Amherd dürfte – einmal mehr – wegen Berset in die Luft gehen. Die Kantone wollen EU-Verhandlungen Zusätzliche Unterstützung gibt es von den Kantonen: Die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) hat sich am Freitag einstimmig hinter Bundesrat Ignazio Cassis gestellt, der Verhandlungen will. Im Wortlaut: Die Kantone wollen «über die laufende Phase der Sondierungsgespräche mit der Europäischen Union herauskommen». Sie wünschen sich «kurz- und mittelfristig die weitere Vertiefung der Beziehungen zur EU mittels einer Rahmenvereinbarung». Dies sei im politischen und wirtschaftlichen Interesse der Schweiz. Eine vertiefte Zusammenarbeit bringe dem Land «überwiegende wirtschaftliche und politische Vorteile», sagen die versammelten Kantone. Sie wünschen sich ein Stromabkommen und einen Vollanschluss ans EU-Forschungsprogramm Horizon sowie das Studentenaustauschprogramm «Erasmus+». Diese Programme seien für den Bildungsstandort Schweiz «von grosser Bedeutung». Maroš Šefčovič sagte vor zwei Wochen an der Uni Freiburg, dass eine Teilnahme an «Horizon» bereits nach der Aufnahme von EU-Verhandlungen der Schweiz möglich wäre. Die Kantone gehen in ihrem Statement auch auf Kritikpunkte von EU-Gegnern ein. Was die «fremden Richter» angeht, heisst es: «Die Kantonsregierungen können eine Lösung akzeptieren, bei welcher dem Europäischen Gerichtshof die Aufgabe zukommt, eine kohärente Auslegung des betroffenen EU-Rechts sicherzustellen.» Anders formuliert: Die Kantone akzeptieren, dass das EU-Gericht im Streitfall inhaltlich beurteilt, ob Binnenmarktrecht gebrochen wurde oder nicht. Was das grundsätzliche EU-Verbot von staatlichen Beihilfen betrifft: «Die Kantonsregierungen akzeptieren, dass beim Marktzugangsabkommen mit der EU kein Weg daran vorbeiführt, dass die Staatsbeihilferegeln der EU je nach Verlauf der Verhandlungen im entsprechenden Bereich zu übernehmen sind.» Der diskutierte Zwang zur Abschaffung von Staatsgarantien für Kantonalbanken oder die kantonale Beteiligung von Stromwerken sind offenbar vom Tisch.

Viola Amherd will vorwärtsmachen aber Alain Berset ist einer der härtesten Gegner von EU-Verhandlungen

Alain Berset kämpft gegen Viola Amherd im EU-Dossier