Wohnungsknappheit und «Mietzinsexplosion»: Jetzt verlangen Bürgerliche Lösungen vom Bundesrat

Da braut sich etwas zusammen», sagt der Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller. Junge Familien stecken in zu kleinen Wohnungen fest. Das Angebot neuer Wohnungen schrumpft. Bauwillige finden kein Bauland, obwohl die Raumplanung dies garantieren sollte. Zugewanderte konkurrenzieren Einheimische auf der Suche nach Wohnraum. Und etliche Bauprojekte sind blockiert wegen Einsprachen. «Ich werde seit Jahresfrist auffallend häufiger von unterschiedlichst betroffenen Bürgern und Bürgerinnen auf solche Probleme angesprochen», sagt Müller. Deshalb hat er die Initiative ergriffen. Als Bürgerlicher. In zwei Vorstössen fordert er vom Bundesrat, eine Analyse und Lösungen im Mietrecht und in der Baupolitik zu liefern. Der eine Vorstoss trägt den Titel «Mietexplosion in der Schweiz», der andere «Wohnungsnotstand in der Schweiz». Als er sie letzten September einreichte, waren Wohnungsnot und Mietexzesse noch ein Nischenthema der Linken. Von bürgerlicher Ratsseite habe er teilweise zunächst bloss «ein müdes Lächeln» geerntet. Sechs Monate später sind die Medien voll davon. Und Müllers Vorstösse sind vom Ständerat soeben einstimmig angenommen worden. Jetzt muss die Regierung ran. Zuständig im Bundesrat ist Wirtschaftsminister Guy Parmelin (SVP). Auch er ein Bürgerlicher, die Aufträge hat er gerne angenommen. «Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wird wir über die Bücher müssen», sagte er im Rat. Er werde einen Runden Tisch einberufen, der die Kompromissfähigkeit der Akteure auslotet. Das Treffen findet in zwei Monaten statt, wie die «Handelszeitung» erfahren hat, und zwar am 12. Mai. «Die Einladung zum Runden Tisch wird in diesen Tagen verschickt», sagt Sprecherin Eva van Beek vom Bundesamt für Wohnungswesen (BWO). Das Ziel sei, sich einen Überblick über die Ursachen «der sich abzeichnenden Wohnungsknappheit» zu verschaffen. Zuerst sollen die Probleme auf den Tisch. Dann werden die Lösungsansätze ausgelotet. Die Liste der Geladenen ist lang: 19 an der Zahl. Sie zeigt, wie kompliziert die Lage ist. Die Kantone und Immobilienakteure müssen ran Geladen sind die kantonalen Bau- und Volkswirtschaftsdirektoren, die Vertreter der Städte und Gemeinden, die Raumplaner des Bundes, die Präsidenten der Verbände der Baubranche, der Architekten und Ingenieure, institutionelle Anleger, Vertreterinnen der Wohnbaugenossenschaften, der Hauseigentümer, der Mieterverbände und sogar der Konsumentenorganisation und von Caritas, zu Themen wie Migration und Armut. Im Parlament hört man hinter vorgehaltener Hand bereits Sprüche wie «Na dann mal viel Glück, Herr Parmelin!». Bereits 2021 gab es einen grossen Runden Tisch. Parmelin wollte die Möglichkeit der Revision des Mietrechts ausloten. Dieses ist seit 32 Jahren unverändert. «Jeder der damals anwesenden Vertreter hatte seine Wünsche, doch keiner war zu einer Totalrevision bereit», erinnert sich einer, der dabei war: Daniel Fässler. Der Innerrhoder Ständerat vertritt den Verband Immobilien Schweiz (VIS), in dem alle grossen institutionellen Investoren dabei sind, von den Versicherern über Pensionskassen bis hin zu Anlagefonds. Nicht nur Damian Müller, auch Fässler und der Bundesrat sehen eine Verknappung des Wohnangebots. «Es wird viel weniger gebaut als früher, die Lage hat sich stark verändert», sagte Parmelin im Rat und verlangte Flexibilität. «Jeder Akteur muss jetzt etwas guten Willen zeigen, damit wir am Runden Tisch eine Lösung für die Städte, Gemeinden und den Bausektor finden.» Der Satz zeigt auch, wo Parmelin hinsteuert: Er will eine Ausweitung des Angebots an bezahlbaren Wohnungen. Komplexe Themen im Immobilienmarkt Für Bürgerliche geht es im Kern geht es um die Frage, wie mehr Bauland schneller verfügbar, Baubewilligungen schneller erteilt und blockierte Bauprojekte deblockiert werden könnten. Die Krux daran: Die Stellschrauben befinden sich auf vielen Ebenen: beim Bund, bei den Kantonen, den Städten und Gemeinden, bei Investoren und sogar im Mietrecht. Auf all diesen Ebenen müssten die Stellschrauben subito justiert werden. Dies zeigt das knifflige Beispiel der sogenannten Lüftungsfensterpraxis. In mehreren Kantonen, darunter Aargau und Zürich, sind Hunderte von Wohnprojekten im Neu- und Umbau blockiert, weil sie die Lärmvorschriften des Bundes nicht respektieren. Konkret geht es um Klappfenster zum Lüften von sanierten Wohnungen auf der lärmabgewandten Seite von Bahnlinien und lärmigen Strassen. Die Kantone haben sie zugelassen. Doch 2016 entschied das Bundesgericht in einem Aargauer Fall, dass diese Vorschriften rechtswidrig sind, weil die Fenster zu viel Lärm hereinlassen. Das Bundesgericht entschied auch materiell. Es argumentierte, dass die Lärmvorschriften nicht einfach eine Schikane seien, wie dies von Bürgerlichen beklagt wird. Im Urteil stand, die Lüftungsfensterpraxis führe «zur Aushöhlung des vom Gesetzgeber gewollten Gesundheitsschutzes». Gesundheitsschutz oder Wohnungsnot? Was auch immer man davon hält: Parmelin muss am Runden Tisch vom 12. Mai die Frage stellen, ob Linke und Bürgerliche bereit sind, den Gesundheitsschutz zu schwächen, um das Angebot an Wohnungen zu vergrössern. Wohnungsnot gegen Gesundheitsschutz, was ist bedeutender? Die Antwort ist unpopulär, wie auch immer sie ausfällt. Und selbst wenn man sich einig ist, dass die Wohnungsnot bedeutend ist, müsste viel im Dringlichkeitsrecht bewegt werden: Das Parlament ändert subito Lärmvorschriften im Umweltrecht, die Kantone ändern subito kantonalen Vorschriften, die Gemeinen stellen subito neue Baubewilligungen aus, und die Baurekursgerichte revidieren subito ihre Urteile bezüglich Lärmeinsprachen. Ähnlich komplex ist die Bereitstellung von mehr Bauland als bisher. Eigentlich gilt, dass Städte und Gemeinden Baulandreserven für 15 Jahre Bautätigkeit bereitstellen. Bauland gibt es, doch entweder wird es gehortet, die Gemeinden zonen bewusst zu wenig Bauland ein oder die Prognosen sind falsch. Eine generelle Antwort gibt es nicht. In jeder Gemeinde und Stadt fällt die Antwort anders aus. Doch die Einschränkung haben fast immer einen Grund. Häufig geht es um Landschaftsschutz, Schutz von Agrarland oder gar um Widerstand von – notabene bürgerlichen – Eigentümerschaften gegen bauliche Verdichtung. Davon berichtet etwa der Appenzeller Fässler. Eigentümerschaften zu zwingen, ihr Liegenschaften zu verdichten oder zu überbauen, kratzt an der verfassungsmässigen Eigentumsgarantie. Und dennoch wird Parmelin am Runden Tisch fragen müssen: Wie zwingen wird Grundstücksbesitzer, dass sie ihr Bauland nicht brachliegen lassen? Die Antwort der Bürgerlichen wird sein: zwingen muss man niemand, sobald es sich wieder zu investieren lohnt. Einer der wenigen, kaum bestrittenen Fakten ist, dass mit sinkenden Zinsen und steigenden Immobilienpreisen der Um- und Neubau für private Investoren weniger attraktiv geworden ist als früher. Es rechnet sich nicht mehr. Auch deshalb hatte das Bundesgericht 2020 entschieden, die Mietrendite während der Tiefzinsphase temporär von 0.5 auf 2 Prozent zu erhöhen. Die «Handelszeitung» hat darüber berichtet. Rettet der Zinsanstieg die Investoren? Da kommt Parmelin der Zinsanstieg gelegen, der seit bald einem Jahr beobachtet werden kann. Damit steigen auch die Renditen aus dem Geschäft mit Mietwohnungen. Doch das wird gleichzeitig zum Problem, denn erstmals seit vielen Jahren dürften damit auch die bestehenden Mieten auf breiter Front ansteigen. Die Prognose geht von einer Mietzinserhöhung von 3 Prozent im vierten Quartal dieses Jahres aus. Dies, weil der Referenzmietzins des Bundes am 1. Juni wohl auf 1,5 Prozent steigen wird. Bis die Mieten angehoben sind, wird es Herbst. 2024 dürften weitere Zinsschritte folgen. Sie könnten die Mietzinse «bis im Jahr 2024 um bis zu 10 Prozent steigen lassen», wie Ständerat Müller vorgerechnet hat. Und das dürfte der Frage nach bezahlbarem Wohnraum weiter einheizen. Die Linke will diesen für Investoren und Investorinnen wichtigen Meccano durchbrechen. «Mieten müssen unter dem sozialen Aspekt der finanziellen Fähigkeit der Mietenden, die Miete zu zahlen, betrachtet werden – und nicht unter dem Aspekt der Renditemaximierung», fordert Carlo Sommaruga, SP-Ständerat und Präsident des Mieterinnen- und Mieterverbandes Schweiz. Konkret: Der Verband plant eine Volksinitiative zur strikten Kontrolle von Kosten- und Marktmieten mit staatlichen Mitteln. «Wir finalisieren eine Initiative für eine automatische und regelmässige Kontrolle aller Mieten durch Behörden», sagt Sommaruga. Der Beschluss fällt im Juni dieses Jahres. Keine Kompromisse in Sicht Parmelin rügte im Rat Sommarugas Kompromisslosigkeit, als er, ohne seinen Namen zu nennen, auf ihn anspielte. «Ich habe den Eindruck, dass die Interessen gewisser Verbände wichtiger sind als die der Eigentümerinnen und Mieter», sagte der Wohnbauminister. Verärgert hat ihn, als letzten Sommer Sommarugas Mieterverband nicht an einem kleinen Runden Tisch erschien. Klein, weil es nur um eine minimale Revision der zulässigen Mietzinsrendite ging. Umso schwieriger dürfte der aktuelle grosse Runde Tisch werden, denn es bräuchte eine Revision des Bau-, des Umwelt- und des Mietrechts – alles gleichzeitig, auf allen Staatsebenen. Ständerat Müller gibt sich dennoch optimistisch. Zahlbarer Wohnraum sei kein linkes, sondern auch ein bürgerliches Anliegen. Das Bauen von Wohnraum soll gesellschaftlich wieder positiv bewertet und gefördert werden. Pensionskassen und private Vermietende stünden gleichzeitig in der Verantwortung, «nicht zu übertreiben», sagt Müller gegenüber der «Handelszeitung». Sollten Mieten in den nächsten drei Jahren tatsächlich «um bis zu 20 Prozent steigen wie prognostiziert», dann sei mit sozialen Verwerfungen zu rechnen. Er zitiert die «Sonntagszeitung», die kürzlich berechnet hat, dass eine Million Menschen mit niedrigen Einkommen und Renten dadurch in «massive finanzielle Schwierigkeiten» kommen könnte. Da braut sich tatsächlich etwas zusammen.Grosser Runder Tisch zur Mietknappheit: Wer alles mitredet Wer am 12. Mai 2023 auf Einladung von Bundesrat Guy Parmelin in Bern voraussichtlich dabei sein wird: Bau-, Planungs- und Umweltdirektorenkonferenz der Kantone (BPUK) Konferenz der kantonalen Volkswirtschaftsdirektoren und -direktorinnen (VDK) Schweizerischer Städteverband (SSV) Schweizerische Gemeindeverband (SGV) Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB) Bauen Schweiz Entwicklung Schweiz Verband Immobilien Schweiz (VIS) Interessengemeinschaft privater professioneller Bauherren (IPB) Schweizerischer Baumeisterverband (SBV) Wohnbaugenossenschaften Schweiz Wohnen Schweiz Schweizerischer Ingenieur- und Architektenverein (Sia) Espace Suisse Mieterinnen- und Mieterverband Schweiz (MV) Hauseigentümerverband Schweiz (HEV) Fédération Romande Immobilière (FRI) Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) Caritas

Wohnungsknappheit und «Mietzinsexplosion»: Jetzt verlangen Bürgerliche Lösungen vom Bundesrat

Die Bürgerlichen wollen Mietzinsexzesse bekämpfen