Lediglich zehn Meter Distanz waren noch zwischen der Drohne und dem Flugzeug. Am 6. Mai 2017 wäre im Landeanflug auf den Flughafen Zürich fast ein Airbus 330 der Swiss mit dem einen Meter grossen Fluggerät kollidiert, wie die schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle Sust in ihrem Bericht Anfang Oktober 2017 rapportierte. Die Piloten hatten Glück: Sie hatten den Sprechfunk mitgehört und waren von einer vorausfliegenden anderen Maschine gewarnt worden.

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Gemäss Sust hätte eine Drohne von dieser Grösse ein Triebwerk gefährden und in Brand setzen können. Es gibt Anhaltspunkte, dass die Drohe absichtlich an die Stelle, an der es zur Beinahe-Kollision gekommen, gesteuert wurde, um Fotos der anfliegenden Flugzeuge zu machen. Drohnen, so die Sust weiter, müssten technisch erkennbar gemacht werden, damit Flugzeuge gewarnt werden können. Eine Kollision mit schlimmen Folgen sei sonst nur eine Frage der Zeit.

 

Knapp verfehlt

Gelegentlich machen auch Piloten Fehler: Am 7. Juli 2017 wäre ein Airbus der Air Canada auf dem Flughafen von San Francisco bei der Landung fast in eine Reihe von wartenden anderen Flugzeugen geflogen. Der Pilot hatte die Lichtsignale einer geschlossenen Landepiste falsch interpretiert und schickte sich an, den parallelen Rollweg, auf dem die weiteren Flugzeuge warteten, anzusteuern. Die ersten beiden Flugzeuge überflog die Air Canada-Maschine in einer geschätzten Höhe von 30 Metern. Wären die vier wartenden Flugzeuge getroffen worden, hätte das leicht mehr als 500 Menschenleben kosten können.

So oder so: Es ist in beiden Fällen nichts passiert. Die meisten Menschen vergessen solche Vorfälle rasch wieder. Auch bei Versicherungen wird dazu nichts gespeichert. Lediglich die Prozeduren in der Fliegerei verlangen, dass solche Vorfälle festgehalten werden, um für die Zukunft die richtigen Schlüsse zu ziehen. Laut Chesley Sullenberger, der Pilot, der im Januar 2009 einen Airbus nach dem Ausfall beider Triebwerke sicher auf dem Hudson River in New York aufgesetzt hatte, ist die Sicherheit in der Fliegerei das Ergebnis von vielen Abstürzen, bei denen wiederum die Branche Fehler beseitigte. Allerdings gibt es auch bei Vorfällen, die glimpflich ausgegangen waren, viel zu lernen. Solche Ereignisse sind im Sinne der Lernmöglichkeiten verpasste Chancen, wie Lloyd’s of London und RMS, eine Firma, die sich mit der Modellierung von Risiken befasst, in einem im Herbst vorgestellten Report betonten.

Dass solche Beinahe-Katastrophen bisher ignoriert wurden, lässt sich mit den Grundlagen der Versicherungsindustrie erklären: In der Branche verlässt man sich gerne auf harte Daten und das sind hier Unfälle mit Schäden, die an die Versicherung gemeldet und von ihr gedeckt werden. Solche Daten bilden die Grundlage der Berechnung zukünftiger Risiken und der Prämienhöhe. Allerdings sind solche Daten als Grundlage für die Berechnung von Prämien nicht immer hilfreich: Die kommerzielle Fliegerei wird seit 20 Jahren immer sicherer und die vergangenen Jahre vermittelten – abgesehen von wenigen einzelnen grossen Ereignissen – ein Bild, wonach Fliegen immer sicherer und die Risiken immer kleiner werden.

 

Aus der Vergangenheit lernen

In Zeiten mit chronischen Überkapazitäten kommen dann Versicherer in Versuchung, ihre Prämien zu senken. Dann steigt, so die Experten von RMS, indes auch die Gefahr, dass sie in Schwierigkeiten geraten, wenn es einmal richtig kracht. Gemäss den RMS-Risikoanalysten liefern die einfachen Vorfälle, die ständig passieren (wie die Unfälle im Strassenverkehr) ausreichend robuste Grundlagen für den Ansatz, dass man mit den gesammelten Daten aus der Vergangenheit die Risiken und Prämien für die Zukunft berechnen kann (autonome Fahrzeuge und mit Sensoren ausgestattete Immobilien werden das in den kommenden Jahren verändern).

Für seltener auftretende extreme Ereignisse funktioniert die Sache nicht: Bei Naturkatastrophen ist oft schlicht Glück im Spiel und bei grossen Cyber-Vorfällen, Viren-Epidemien oder Tsunamis sind die Datengrundlagen noch nicht ausreichend. Selbst die Modelle, wie sie RMS entwickelt und die für tausende von Simulationen verwendet werden, sind nur ein unzureichender Ersatz für die aus tatsächlichen Ereignissen gewonnenen Erkenntnisse. In vielen selten eintretenden Situationen basieren die Risikoberechnungen dann auf mehr oder weniger gut hergeleiteten Schätzungen.

Gemäss Lloyd’s sollte man stattdessen anders vorgehen: Versicherungen würden ihre Kalkulationen besser vornehmen können, wenn sie die hypothetischen Verluste von Beinahe-Katastrophen ebenfalls berücksichtigen: Was wäre gewesen, wenn die Swiss-Maschine tatsächlich mit der Drohne kollidiert wäre und den Flughafen nicht mehr erreicht hätte? Oder wie hoch wäre die Schadensumme gestiegen, wenn der Hurrikan Irma Miami direkt getroffen hätte–- und nicht die weniger dicht besiedelte Westküste von Florida? Aus solchen Modellannahmen liesse sich einfach eine mögliche Schadensumme berechnen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Irma Miami treffen würde, war fünf Tage vor dem Eintreffen des Hurrikanzentrums an der Küste von Florida auf 20 Prozent veranschlagt worden. Damit wäre ein zusätzlicher potenzieller Verlust von 20 Milliarden Dollar entstanden.

 

Gepoolte Daten

Nicht nur Erst- und Rückversicherungen würden von der Erweiterung der Datengrundlage profitieren, so Lloyd’s und RMS. Auch die internen und externen Modelle für einzelne Versicherungslinien sowie für die Stresstests liessen sich stark verbessern, wenn die Modelle auch die «was, wenn»-Ereignisse systematisch erfassen. Dann würden wahrscheinlich bei etlichen Linien die Prämien steigen, so Lloyd’s. In einigen Linien wäre damit auch eine nützliche zusätzliche Funktion als Frühwarnsystem verbunden. Und auch für die Regulierer wären «was-wenn»-Datenbanken hilfreich: So liessen sich Stresstests realitätsnäher gestalten.

Bei anderen Linien könnten die Prämien indes auch fallen, so Analysten. Dazu zählen gerade die neuen, vielversprechenden Risiken wie der Cyber-Versicherungsbereich. Bei diesen Linien tendieren die Versicherungen dazu, mangels ausreichender Datengrundlagen die Prämien zu hoch anzusetzen, bis sie ausreichend robuste Datengrundlagen erarbeitet haben.

Solche Grundlagen müssten Versicherungen nicht jede für sich neu aufbauen, argumentieren die RMS-Experten. Vertiefte Analysten von Fast-Ereignissen sind aufwändig und teuer; eigentlich würde es genügen, wenn Versicherungen ihre Ressourcen poolen – oder die Berechnungen von Spezialisten wie RMS oder Air vornehmen lassen. Selbst potenziell Betroffene liessen sich für den Aufbau von erweiterten Datengrundlagen motivieren, glaubt man bei RMS: Unfälle und Katastrophen schaden generell dem Ruf von einzelnen Branchen (auch wenn viele Konsumenten bzw. Touristen nur ein kurzes Gedächtnis haben). Aber wenn Kommunen, Städte und die Behörden systematisch die nicht eingetretenen Katastrophen festhalten, nütze das allen.

Vor allem die Versicherungen würden profitieren. Denn der chronische Druck auf die Preise sowie die schwindenden Erträge aus den Finanzanlagen hat laut den Analysten von Morgan Stanley dazu geführt, dass die Risiken teilweise zu billig auf die eigenen Bücher genommen werden. Ein Drittel der Lloyd’s-Teilnehmer könnte deshalb 2017 mit einem technischen Verlust abschliessen, weil die Preise nicht mehr kostendeckend sind. Die Berücksichtigung von Beinahe-Ereignissen könnte auch hier stabilisierend wirken, zumal wichtige Daten frei Haus geliefert werden: Das Branchenportal Aviation Herald etwa verzeichnet seit Jahren akribisch auch kleine Meldungen, bei denen glücklicherweise nichts passiert ist.

Nicht immer lernt man in der Fliegerei aus Beinahe-Katastrophen – oder man macht einfach andere Fehler: So landete am 22. Oktober 2017 ein Jet von Air Canada wieder entgegen den Instruktionen. Der Landeanflug wurde noch fortgesetzt, obwohl vom Tower fünfmal die Anweisung gekommen war, umgehend durchzustarten. Es befand sich noch ein weiteres Flugzeug auf der Piste, das noch nicht weggerollt war. Die Passagiere bemerkten nichts. Ein weiteres Nicht-Ereignis, das vorläufig nicht in die Risiko-Kalkulationen einfliesst.