Wo die EU der Schweiz entgegenkommen könnte

Eine solche Stimme hört man in der Schweiz gerne: Ein mächtiger, deutscher Wirtschaftsverband ergreift Partei für die Schweiz im Konflikt EU–Schweiz. Und ruft die EU-Kommission auf, nicht den Konflikt zu suchen, sondern mit der Schweiz zu verhandeln. Es ist dies der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Der Verband hat eine Funktion ähnlich wie der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse in der Schweiz. Als einer von vier Dachverbänden vertritt er die Wirtschaft bei der deutschen Bundesregierung. Ergo ist der BDI eine bedeutende Stimme. Seine Vertretung in Brüssel ist zehn Leute stark und damit eine der grössten unter den europäischen Wirtschaftsorganisationen. Und dieser Verband sagt nun: «Ziel der EU sollte sein, die Partnerschaft mit der Schweiz durch einen vertraglichen Rahmen zu stärken.» Hinter dem Appell stehen dem Vernehmen nach grosse deutsche Unternehmern, «aus ganz Deutschland, nicht nur aus der grenznahen Region Baden-Württembergs», sagt ein Kenner aus dem Verbandsumfeld. Diese haben die Verbandsspitze aufgefordert, das heisse Eisen Schweiz-EU aufzugreifen. «Der BDI vertritt die Industrie der grössten EU-Volkswirtschaft und hat entsprechend Gewicht», sagt der Chef Aussenwirtschaft bei Economiesuisse, Jan Atteslander. Mit seinem Papier unterstreiche der Dachverband «die strategische Bedeutung der Fortsetzung des bilateralen Wegs für die EU-Wirtschaft». Bald könnte es auch die Maschinenindustrie treffenDer Industrieverband hat zwei Hauptargumente für sein Engagement. Erstens: Die schleichende Erosion der bilateralen Verträge schade nicht nur in erheblichem Masse der Schweiz, sondern auch EU-Firmen. «Es kommt bereits zu erheblichen wirtschaftlichen Störungen im Handel zwischen der EU und der Schweiz, insbesondere von Medizinprodukten und in absehbarer Zeit im Maschinenbau», sagt Paul Maeser, verantwortlich fürs Schweiz-Dossier beim BDI. Die «Handelszeitung» hat in einem Bericht vom letzten Sommer die heissen Dossiers («Welche Exportbranchen die EU als Nächstes piesackt») analysiert. Und zweitens sei ein Wirtschaftsstreit inmitten Europas sinnlos: «Angesichts geopolitischer Spannungen ist ein langwieriger Konflikt mit der Schweiz überflüssig.» Um sich gegen wirtschaftliche Rivalen zu behaupten, müsse Brüssel ein Interesse an einer starken und wettbewerbsfähigen Schweiz als Partner haben, so der BDI. Der Verband appelliert mit der Agenda der EU-Kommission: Eine engere Einbindung der Schweiz «wäre ein wichtiger Baustein zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas, etwa bei Innovationen und der grünen Transformation». Schweiz fast so wichtig für EU wie GrossbritannienMit diesen Themen packt der BDI Brüssel am eigenen Ehrgeiz. Drei Dinge seien der EU-Kommission wichtig, so der Verband: die strategische Souveränität Europas, der sogenannte Green Deal und europäische Wettbewerbsfähigkeit. Hier sei die Schweiz ein Partner und nicht Gegner. Was die Bedeutung der Schweiz als Wirtschaftspartner betrifft, rückt der Verband die Verhältnisse ins rechte Licht, wenn behauptet werde, die Schweiz sei aus der Sicht der EU ein wirtschaftlicher Wurmfortsatz: «Bei Direktinvestitionen ist die Schweiz für die EU eine der Top-Fünf-Adressen und der viertwichtigste Handelspartner.» Exponenten des Verbandes monieren die fehlende Aufmerksamkeit der Schweizer Bedeutung im EU-Raum. Der Brexit habe vergleichsweise viele Schlagzeilen produziert, das Scheitern des Rahmenvertrages der Schweiz mit der EU aber nicht. Dabei sei die Schweiz fast gleichauf mit Grossbritannien, was die Handelsbilanz betrifft. EU-Kommission und Baerbock als ZuhörerDie Adressaten dieses Appells sind die neue deutsche Bundesregierung und die EU-Kommission in Brüssel. In Berlin sei die Strategie im Umgang mit der Schweiz noch nicht festgelegt, sagt ein Kenner der Situation. Der Verband arbeitet im Hintergrund darauf hin, dass Bundeskanzler Olaf Scholz und die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sich in Brüssel dafür einsetzten, dass die EU der Schweiz ein faires Angebot mache. Es sei die Aufgabe beider Parteien, der Schweiz und der EU-Kommission, je einen deutlich weitergehenden Vorschlag zur Einigung zu machen, sagt ein Exponent des Verbandes, der sich nicht namentlich zitieren lassen will. Dabei spielt der Brexit-Vertrag eine Rolle. Laut diesem Experten lassen sich drei Dinge für das Schweiz-EU-Verhältnis ableiten. Erstens: Die EU könne der Schweiz wirtschaftspolitisch keine Zugeständnisse machen, die sie nicht auch den Briten machen würde. Der Brexit-Vertrag engt den Spielraum ein. Zweitens: Das politische Verständnis der Schweiz ist viel mehr pro-EU-orientiert als das britische Politestablishment. In Grossbritannien gab es Stimmen, die die EU am Boden sehen wollten. Ein solches negatives Verständnis gebe es in der Schweiz nicht. Der positive Grundton in der Schweiz gegenüber der EU sei ein Vorteil für Verhandlungen auf beiden Seiten. Und drittens: Die EU sei zu Ausnahmen von ihren Prinzipien bereit. Das beste Beispiel: die wirtschaftliche Behandlung Nordirlands. Dort hat die EU wichtige Ausnahmen zu den Regeln zum Schutz der Integrität des EU-Binnenmarktes gewährt, um das Verhältnis zu Grossbritannien zu retten. Die Schweiz sei um ein Vielfaches bedeutender als Nordirland. Ergo dürfte es für die EU infrage kommen, auch der Schweiz Ausnahmen von EU-Prinzipien zu gewähren, um das bilaterale Verhältnis zu retten. Wo die EU von ihren Prinzipien kaum abrücken wird, ist die einheitliche Auslegung der Regeln des EU-Binnenmarktes (der sogenannte Streitlösungsmechanismus). Ein Beispiel sind die Regeln zur Entsendung von Mitarbeitern zur Ausführung eines Auftrags in einem anderen EU-Land (das sogenannte Entsendewesen). Diese gemeinsamen Regeln sind in vielen EU-Ländern, darunter Deutschland, umstritten. Etliche Unternehmen und Gewerkschaften in vielen EU-Ländern bekämpfen die ausländische Konkurrenz. Sollte Brüssel in diesem Punkt der Schweiz zu sehr nachgeben, dürfte die EU-Kommission sich intern viel Kritik einhandeln. Auch deshalb ist sie nicht erpicht darauf, den Schweizern in der Auslegung der Regeln zur Personenfreizügigkeit entgegenzukommen. «Schliesslich geht es um gleiche Regeln für Firmen in der Schweiz und der EU, solange die Schweiz am EU-Binnenmarkt teilnimmt», sagt der Experte.