Seit 2015 steigt der Anteil der hungernden Menschen an der Weltbevölkerung wieder an, nachdem sie sich seit 1980 halbiert hat. Was ist passiert?

Dass wir jetzt wieder in die falsche Richtung gehen, ist sehr besorgniserregend. Nicht nur, weil «Zero Hunger» eines der 17 Sustainable Development Goals der UNO ist. Es zeigt, dass das heutige Ernährungssystem an seine Grenzen stösst. Und dass es als Ganzes nicht aufgeht, wenn ein Zehntel der Menschheit Hunger leidet, während fast ein Drittel übergewichtig ist.

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Das Ernährungssystem beeinflusst nicht nur die Gesundheit der Menschen, sondern auch die Umwelt. Wie können wir genügend Nahrung produzieren, ohne dem Planeten zu schaden?

Die WHO spricht von «One Health» – von einer Gesundheit also. Damit ist gemeint, dass sich die Gesundheit des Menschen und jene des Planeten nicht getrennt voneinander betrachten lassen. Es ist eine gefährliche Illusion, zu glauben, es sei möglich, auf einem kranken Planeten ein gesundes Leben zu führen. Es gehört alles zum selben System: Was gut ist für den Planeten, ist auch gut für den Menschen. Die Gefahr in dieser Nahrungsmittelkrise ist nun, dass wir das System noch stärker an seine Grenzen führen. Etwa durch die kurzfristige Intensivierung der Produktion, obwohl es hier um ein Problem der Verteilung, nicht der Menge geht. Das sehen wir auch in der Schweiz mit den Forderungen nach mehr Selbstversorgung. Der Selbstversorgungsgrad ist jedoch ein sehr schlechter Indikator für die Ernährungssicherheit. Diese hängt – auch in Krisen – von gesunden Produktionsgrundlagen wie fruchtbaren Böden, sauberem Wasser, resilienter Biodiversität, einem gesunden Klima sowie von guten Verteilungsmechanismen ab. Darum müssen wir einen anderen Weg einschlagen.

Der wäre?

Es gibt drei zentrale Hebel, um das System im Sinne von «One Health» als Ganzes zu verbessern. Erstens: Die Lebensmittelproduktion dem Standort anpassen. Das ist in der Schweiz klar nicht der Fall. Wir importieren 1,4 Millionen Tonnen an Futtermittel pro Jahr, um mehr Tiere halten zu können, als wir mit unserem regionalen Grasland zu füttern imstande sind. Die dadurch produzierte Gülle führt zu irreversiblen Schäden an der Natur. Damit zerstören wir unsere Produktionsgrundlagen, die wir brauchen. Der zweite grosse Hebel ist unser Konsum. Ernähren wir uns so, wie es in der Ernährungspyramide empfohlen wird – weniger tierische Nahrungsmittel, mehr Gemüse, Früchte und Getreide –, können wir die Belastung für die Umwelt deutlich reduzieren und gleichzeitig unsere Gesundheit schonen. Der dritte Hebel sind die Wertschöpfungsketten: Fast 30 Prozent der produzierten Nahrungsmittel enden als Foodwaste – das sind 330 Kilo pro Person in der Schweiz.

Klingt nach einem realistischen Plan. Wann fangen wir an?

Absurderweise findet die politische Diskussion in der Schweiz woanders statt. Dort geht es unter anderem um Biodiversitätsförderflächen im Ackerland. Gewisse Kreise sind der Meinung, dass wir uns diese nicht mehr leisten können. Aber nur eine gesunde Biodiversität sichert unsere Lebensmittelproduktion. Ohne Nützlinge und Bestäuber können wir zukünftig keine gesunden Lebensmittel produzieren. Zudem würde die Produktion gemäss Bundesamt für Landwirtschaft durch die landwirtschaftliche Nutzung dieser wertvollen Biodiversitätsförderflächen um nur 1 Prozent gesteigert.

Kartoffeln auf dem Sechseläutenplatz. Klingt eigenartig ...

Ist es auch. Noch eigenartiger ist, dass wir uns jetzt über dieses eine Prozent streiten, wo doch mit den 30 Prozent Foodwaste ein viel grösserer Hebel existiert. Zudem nutzen wir hierzulande 60 Prozent der Ackerfläche für Tierfutter. Das ist ein massiver Effizienzverlust: Für eine Kalorie tierischer Lebensmittel benötigen wir viel mehr Platz und Wasser, als wenn wir auf derselben Fläche Pflanzen direkt für Menschen anbauen würden.

«Es ist eine gefährliche Illusion zu glauben, es sei möglich, auf einem kranken Planeten ein gesundes Leben zu führen.»

Thomas Vellacott

Im Herbst 2021 wurde am Ernährungsgipfel in New York darüber diskutiert, was es braucht, um Ernährungssysteme nachhaltig zu machen. Welchen Beitrag kann die Schweiz leisten?

Als Erstes sollte sie ihr eigenes Ernährungssystem und ihren Teil im weltweiten Ernährungssystem nachhaltig gestalten. Es geht darum, den Import von Futtermitteln, Pestiziden und Dünger zu reduzieren und bei den importierten Nahrungsmitteln Standards einzuführen, damit die Umweltauswirkungen der Schweiz im Ausland reduziert werden. Zweitens sollten wir die Wertschöpfungsketten, von denen wir Teil sind, genauer unter die Lupe nehmen und deren Resilienz stärken. Drittens haben wir mit unserem Finanzsektor einen effizienten Hebel, der ebenso über die eigenen Landesgrenzen hinausgeht. So wird geschätzt, dass über die Investitionen vom Schweizer Finanzplatz aus das Zwanzigfache an CO2-Emissionen gesteuert wird, als wir in der Schweiz verursachen. Nachhaltigkeit hat also auch sehr viel damit zu tun, wie wir unsere Gelder investieren.

Studien zeigen, dass unsere gegenwärtige Ernährungsweise die natürlichen Lebensgrundlagen massiv übernutzt. Ist der Zug nicht längst abgefahren?

Nein, ist er nicht. Es ist wichtig, dass wir davon wegkommen, nur zwei Szenarien zu sehen: Weltrettung oder Weltuntergang. Da gibt es ganz viel dazwischen.

Wir können das Blatt noch wenden?

Die Situation ist ernst. Und es ist eine Situation, die wir mit unserem heutigen Verhalten gestalten können. Gerade im Bereich Ernährung kann jede Person viel tun. Wir entscheiden beispielsweise mehrmals täglich, was wir essen. Über unsere Nachfrage haben wir einen direkten Einfluss auf die Produktion und den Handel von morgen. Rund ein Drittel des Foodwaste findet beim Konsum statt. Auch da können wir uns verbessern.

Sollten wir einfach aufhören, Fleisch zu essen?

Es geht nicht darum, Fleisch zu verteufeln, sondern darum, wie viel gesund für uns und für die Umwelt ist. Entsprechend sollten wir deutlich weniger tierische Nahrungsmittel konsumieren. Damit erreichen wir schon sehr viel.

Dank Subventionen können Fleischprodukte relativ billig verkauft werden. Ist das nicht kontraproduktiv?

Absolut. Der Markt ist heute stark verzerrt aufgrund dieser Zahlungen. Zudem gibt es eine starke Lobby, die mit viel Geld den Status quo verteidigt. Darum ist es wichtig, dass wir als Konsumentinnen und als Stimmbürger die richtigen Signale senden. Auch die Agrarpolitik muss dringend kohärenter werden. So ist es absurd, von der Kundschaft zu erwarten, dass sie weniger Fleisch isst, aber gleichzeitig Steuergelder für die Fleischwerbung zu verwenden.

Welchen Stellenwert haben alternative Fleischprodukte?

Der Markt für Fleischalternativen hat sich in den vergangenen vier Jahren weltweit verdoppelt. 2021 wurden 5 Milliarden Franken investiert in alternative Proteinprodukte – 60 Prozent mehr als 2020. Sie sehen: Das Wachstum und die Innovation finden dort statt. Was wir jetzt tun müssen, ist, diese Transformation zu beschleunigen.

Portrait Shooting CEO WWF Schweiz Thomas Vellacot

Name: Thomas Vellacott
Funktion: Geschäftsleiter WWF Schweiz
Alter: 51
Familie: verheiratet, zwei Kinder
Ausbildung: Schulen in der Schweiz und Australien, Studien in Arabistik und Islamwissenschaften in Durham und Kairo (BA Hons), in Internationalen Beziehungen in Cambridge (MPhil) und in BWL am IMD in Lausanne (MBA)

Quelle: ZVG

Wie können wir Landwirte zu einem Umdenken bewegen?

Ein grosser Teil hat mit falschen Anreizen zu tun. Subventionen inklusive Grenzschutz in der Schweiz gehen grösstenteils in die Produktion von tierischen Nahrungsmitteln, nicht in pflanzliche. Das macht es für Bäuerinnen und Bauern schwierig, den Kurs zu wechseln.

Ist eine aus Tausenden von Kilometern importierte Avocado wirklich umweltschonender als ein Stück Rindfleisch aus der Region?

Es ist eine verbreitete Fehlannahme, dass die Transportdistanz der entscheidende Faktor sei für die Ökobilanz eines Produkts. Das ist nicht so. Die grosse Umweltbelastung fällt in der Produktion an.

Für den Anbau von Avocados werden ganze Wälder abgeholzt ...

Die Landwirtschaft ist ein wichtiger Treiber der Abholzung. Die Flächen werden aber in erster Linie für Futtermittel und Palmöl genutzt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Bei der Avocado gibt es definitiv Optimierungspotenzial. Aber bei der Fleischproduktion ist die Umweltbelastung um ein Vielfaches höher, was diverse Vergleichsstudien immer wieder belegen.

Negative Teilaspekte sind also ohne Kontext wenig aussagekräftig.

Das ist richtig. Erst wenn wir das System als Ganzes betrachten – also vom Feld bis zum Teller –, können wir die richtigen Entscheide treffen.

Unser Fussabdruck

Die Art und Weise, wie unser Ernährungssystem (Produktion, Verarbeitung, Konsum) aufgestellt ist, hat erhebliche Auswirkungen auf unseren Planeten: So entnehmen wir der Natur seit etwa 1970 mehr Rohstoffe als nachwachsen können. Gleichzeitig stossen wir mehr Schadstoffe aus, als sie beseitigen kann. In konkreten Zahlen ausgedrückt wird das enorme Ausmass unseres Wirkens deutlicher: Rund 70 Prozent der Verluste an Biodiversität und 80 Prozent der Entwaldung ist auf die Produktion von Nahrungs- und Futtermitteln zurückzuführen. Obwohl fruchtbarer Ackerboden die Lebensgrundlage schlechthin für die Produktion unserer Nahrungsmittel ist, gehen jährlich weltweit mehr als 24 Milliarden Tonnen allein durch Erosion verloren. Der Agrar- und Nahrungsmittelsektor verbraucht ungefähr 70 Prozent des Süsswassers und ist für etwa ein Viertel aller Treibhausgasemissionen verantwortlich. Global gelten 34 Prozent der kommerziell genutzten Fischbestände als überfischt und 66 Prozent als maximal genutzt.

Darüber hinaus ist unser derzeitiges Ernährungssystem ineffizient: Fast ein Viertel aller produzierten Lebensmittel wird nie gegessen, sondern werden entlang der Lieferkette vom Acker bis zum Teller verworfen. Gleichzeitig hungern über 800 Millionen Menschen jeden Tag, während fast 2 Milliarden Menschen übergewichtig oder fettleibig sind. (Quelle: WWF)