E-Commerce: Wie der Umstieg auf den Online-Handel gelingt

Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren, Vorfreude und Erwartungen sind gross: Am 1. März dürfen über 10'000 Schweizer Non-Food-Läden ihre Türen wieder öffnen. Eine Armada von Sportshops und Modeboutiquen meldet sich zurück, Möbelhäuser, Elektrohändler und Schuhläden drehen ihre Schilder auf «Now Open». Ein Anbieter der letzteren Kategorie freut sich gleich doppelt: Erstens ist Flaviano Bencivenga happy, dass er in seinen insgesamt fünf Schuh-Stores in Zürich, Zug und Luzern wieder Kunden und Kundinnen empfangen kann. Zweitens aber fiebert der Chef von Benci Brothers auf eine Premiere hin: den Launch seines Webshops. Der Benci-Boss tritt am 1. März erstmals im E-Commerce daher. Das, sagt Bencivenga, «ist für uns Neuland, wo wir viel lernen werden und Erfahrungen sammeln können.» Benci Brothers als Online-Verkäufer? Diesen Schuh wollte sich der erfahrene Retailer eigentlich gar nie anziehen. Sein Programm war stets die unbedingte Ladenliebe. Noch vor zwei Jahren gab sich Bencivenga öffentlich als E-Commerce-Contrarian: «Auf einen Online-Shop verzichten wir ganz bewusst. Unsere Produktbühne ist der Laden.» Jetzt kommt die virtuelle Bühne hinzu. Bald wird sich Bencivenga mit Kollegen und Konkurrentinnen austauschen können über Fachbegriffe wie Churn-Rate (Abwanderungsquote) und Net Promotor Score (Kundenloyalität), über Conversion-Rate (Umwandlungsquote von Webbesuchern in Käufer) und über die Kosten von Google-Adwords. An Gesprächspartnern wird es Bencivenga nicht fehlen. Denn spätestens seit dem ersten Corona-Lockdown im Frühling 2020 steigt die Zahl jener, die erste Schritte im E-Commerce wagen. Neulinge wie Daniel Walder, der zusammen mit seinen beiden Schwestern die Geschicke des Schuhhauses Walder führt. 27 Walder-Filialen befinden sich im ganzen Land. Jahr für Jahr hatte man am Walder-Hauptsitz im zürcherischen Brüttisellen den Einstieg ins E-Commerce-Geschäft geprüft und durchgerechnet – und aufgrund mangelnder Profitabilität immer wieder verworfen. Doch beim Lockdown im Frühling 2020 wurde klar: Brüttisellen, we have a problem. Niemand wusste, wie lange die Läden geschlossen bleiben würden. Es brauchte einen neuen Kanal zum Kunden, zur Kundin. Einer, der trotz Corona funktionieren würde. Die Zeit war gekommen für den walderschen E-Commerce-Einstieg. Einen Webauftritt hatte das Unternehmen bereits; die Kundschaft konnte online Schuhe anschauen und sie per «Click & Collect» in den Laden bestellen. Corona zwang den Schuhhändler, der in sechster Generation geführt wird, zu einem radikalen Schritt. Siebenmeilenstiefel waren angesagt, erinnert sich Daniel Walder: «Am 16. März 2020 wussten wir: Jetzt müssen wir es machen. Drei Tage später stand unser Webshop.» Wie zahlreich die stationären Händler in den E-Commerce drängen, ist für die Schweiz schwer zu erheben. Aktuelle Zahlen aus Deutschland aber dürften auch auf die Schweiz übertragbar sein. Jüngst meldete dort Shopify, die führende E-Commerce-Plattform für den Multichannel-Vertrieb, dass die Anzahl der neuen Online-Shop-Eröffnungen gegenüber 2019 um 126 Prozent gestiegen sei. Seit Frühling 2020 steigen alle ein Wie stark die Post hierzulande abgeht, ist Stefan Bommeli, Technologiechef von Onebyte, aufgefallen. Das Unternehmen aus Uster ZH baut für KMU und Startups Online-Shops, meist mit der marktführenden Technologie von Shopify und Woocommerce. Seit 2015 hat das Unternehmen 200 Läden ins Internet gebracht. Viele stationäre Händler hätten teils jahrelang mit dem E-Commerce-Einstieg zugewartet, sagt Bommeli. «Seit Frühling 2020 aber gibt es nun kein Halten mehr; die Zahl der Webshop-Einsteiger ist seither exponentiell angestiegen.»«Klein starten, aber schon von Beginn an gross denken» Wie finden Anfänger und kleine Anbieter ihren Platz im Netz? E-Commerce- Spezialistin Friederike Von Waldenfels hat Tipps und Tricks für E-Novizen. Zum Interview gehts hier. Einer, der die Wechselwirkung von Offline und Online in der Schweiz genau beobachtet, ist Patrick Kessler. Der Geschäftsführer der Organisation Handelsverband.swiss begrüsst die Schritte der E-Commerce-Novizen, warnt aber auch vor falschen und verfrühten Hoffnungen: «Manche meinen, wenn sie einen Webshop am Start haben, sei die Arbeit gemacht. Das stimmt natürlich nicht.» Mit einem Webshop habe der Händler, so Kessler, «bestenfalls ein hübsch geschmücktes Schaufenster – das aber mitten in der Sahara steht, fernab der Kundenkarawane». Oder etwas deutlicher: Im weltweiten Web darf man die Kundenakquise nicht vergessen. Was Kessler auch beobachtet: Manche Online-Anfänger hoffen darauf, gleich zu Beginn über den Online-Kanal ihre Ladenhüter loswerden zu können. Was aber ein Trugschluss sei, sagt Kessler. «Das wird so nicht funktionieren. Beginnen sollte man mit einem kleinen Sortiment aus jenen Produkten, die sich auch im Laden gut verkaufen.» Genau diesen Schritt geht Bencivenga. Statt sein ganzes Sortiment online anzubieten, setzt der Benci-Brothers-Chef auf nur ein Modell. Auf seinen ikonischen Schuh, den Lederschnürboot Scrambler. Bencivenga erklärt: «Unser Leader-Modell steht für knapp 10 Prozent aller Verkäufe. Viele unserer insgesamt 200 Modelle können nur saisonal getragen werden, der Scrambler hingegen hat pro Jahr neun Monate Hochsaison.» Der Schritt in den E-Commerce, sagt Flaviano Bencivenga, sei letztlich nicht Corona-motiviert, sondern den sozialen Medien zu verdanken: «Wöchentlich erreichen uns via Instagram-Account Anfragen aus aller Welt für den Scrambler. Damit gehen wir nun in den E-Commerce. Alle, die weltweit wollen, können jetzt unseren Bestsellerschuh online ordern.» Die Logistik lässt der Schuhprofi dabei extern laufen. Für Verkäufe in der Schweiz über ein Lager in Embrach ZH. Und für den Verkauf in die EU-Länder ist ein Lager im vorarlbergischen Dornbirn eingerichtet worden. Was stationäre Händler unter anderem jahrelang vom Schritt in den E-Commerce abhielt, waren hohe und unvorhersehbare Logistikkosten. Retailer fürchteten, dass sie den Gold-Standard von Zalando einführen müssten, der da heisst: kostenlose Lieferung, kostenlose Retouren. Für den Kunden und die Kundin ist das bequem – doch beim Händler kann das für Bremsspuren in der Erfolgsrechnung sorgen. Bencivenga mag sich dem vermeintlichen Zalando-Imperativ nicht beugen. «Verschenkt wird nichts», sagt er. «In der Schweiz kosten Lieferung und Retouren je 9 Franken. In anderen Ländern ist es verschieden. In Deutschland sind es 7 Euro, in Italien 12 Euro, in Spanien gegen 20 Euro. Je nach Posttarif.» Mit etwas mehr Corona-Milde behandelt Daniel Walder die Causa Versandkosten. Der Schuhhaus-Manager, der «wie die Jungfrau zum Kind» zum Webshop kam und nun langsam Gefallen findet daran, verlangt pro Lieferung und pro Retoure 7.70 Franken. In der Zeit des zweiten Lockdowns wurden der Kundschaft die Lieferkosten erlassen. Wenn die Läden wieder öffnen, so Walder, «müssen Kundinnen und Kunden bei Webshop-Bestellungen auch wieder Versandkosten bezahlen.» «Keine Alternative zu Zalando» Walders erste Rohdaten im E-Commerce-Holozän zeigen: «Die Retourenrate liegt bei über 50 Prozent. In der Regel liegen drei Paar Schuhe im Warenkorb.» Was dem Zürcher Schuhunternehmer wichtig ist: «Wir sind keine Alternative zu Zalando, sondern unser neuer Webshop ist ein Alternativkanal für unsere Kunden und Kundinnen.» Auf der Suche nach einem Alternativkanal für die Kundschaft war im Frühling 2020 auch Nadja Goldener. Die Mitinhaberin der Goldener Gruppe, die 18 Modeboutiquen hauptsächlich in Appenzell und der Ostschweiz umfasst, wollte dabei aber nicht auf einen Webshop setzen: «Mit einem klassischen Webshop wird man zwangsweise zum Logistiker. Unsere Stärke aber ist die Beratung. Und das wollten wir in die E-Commerce-Welt bringen.» Statt auf einen Webshop setzt Goldener lieber auf Modeberatung und den Verkauf über Social Media. Die Boutiquen der Goldener Gruppe senden täglich Posts über soziale Medien wie Whatsapp, Facebook, Instagram und Tiktok. Kundinnen und Kunden, die Interesse an einem gewissen Teil haben, können mit ihrem Handy anrufen. In jedem Laden befindet sich ein Geschäftshandy für diesen Zweck. Per Whatsapp-Videos, die bis zu drei Minuten dauern können, werden dann aus dem Laden heraus die gewünschten Teile gezeigt, inklusive Kombinationsideen. Die Mitarbeitenden sind so zu Schauspielern oder Models geworden. Die Kunden und Kundinnen können die gewünschten Teile per Voice-Mail bestellen. Bessere Handys, bessere Filme Die neue Whatsapp-Dienstleistung, so Goldener, «hat sich bereits etabliert und trägt dazu bei, die Kunden und Kundinnen stärker an uns zu binden». Im New Business der Appenzeller, das bereits 20 Prozent zum Gesamtumsatz beitrage, habe man eine Menge gelernt, berichtet Goldener: «Bezüglich Lichtqualität beim Filmen mussten wir leistungsstärkere Smartphones anschaffen, ebenso Stative, um die Bildstabilität zu optimieren. Wir werden jede Woche besser.» Woraus sich auch Goldeners Haupt-Message an alle weiteren E-Commerce-Novizen ergibt: «Einfach machen. Und durchs Machen wird man dann besser.» Auch wenn die Goldener Gruppe ab 1. März wieder Kundinnen und Kunden empfangen kann – den neuen Kanal wird die Appenzeller Unternehmerin deswegen nicht stilllegen: «Online ist ein zusätzlicher Vertriebskanal für uns, das bleibt.» Ähnlich sieht es Daniel Walder: «Wir behalten das auch nach Corona.» Walder verleiht dem Webshop den «Charakter einer weiteren Filiale, die wir nicht gross bewerben». Ob sich der neue Kanal kostendeckend betreiben lasse, sei noch nicht abschliessend zu beurteilen: «Eine saubere Rechnung können wir noch nicht machen.» Also tut Walder vernünftigerweise das, was jeder Webshop-Kindergärtner tun muss. Und was jeder E-Commerce-Rockstar von jeher tut: «Wir sammeln immer noch Daten.»

E-Commerce: Wie der Umstieg auf den Online-Handel gelingt

Das zählt, damit der Umstieg auf den Online-Handel gelingt