Die neue Macht der Chefjuristinnen

Barbara Levi weiss, dass sich der Mut lohnt, die eigene Komfortzone zu verlassen. Die Fünfzigjährige bezeichnet es als eine der besten Entscheidungen ihres Lebens, als junge Anwältin nach New York gegangen zu sein – obwohl die Italienerin damals kein Wort Englisch sprach. Geplant waren sechs Monate, sie blieb acht Jahre. Noch immer, wenn sie eine schwierige Situation zu bewältigen habe, sage sie sich, alles andere sei im Vergleich zu diesem Schritt eine Kleinigkeit. So erzählt es Barbara Levi in einem Interview mit Laurence Simons Search, einer Executive-Search-Firma für Juristen. Kleinigkeiten sind die Herausforderungen jedoch sicher nicht, denen Barbara Levi sich stellt. Sie startet am 1. November als Chefjuristin bei der UBS und löst damit nach 13 Jahren Markus Diethelm ab. Levi übernimmt den Staffelstab in der heissen Phase des Berufungsprozesses in Frankreich, wo im Dezember das Urteil erfolgen soll. Nur einen Monat nach ihrem Start wird also entschieden, ob die UBS 4,5 Milliarden Euro Busse und Schadensersatz wegen Beihilfe zur Steuerflucht zahlen muss. Die Grossbank kann den Fall weiter an eine nächste Instanz ziehen, und vorerst wird sich Diethelm, der als bester Kenner der Materie gilt, dem Vernehmen nach weiter darum kümmern. 2022 allerdings wird er die Bank verlassen – und die letzte Verantwortung liegt ab November bei Levi als Chefjuristin. Darüber hinaus ist der Prozess in Frankreich nicht das einzige dicke Brett, dass es zu bohren gilt. Offen ist zum Beispiel auch noch die Anklage durch das US-Justizministerium, das der Grossbank vorwirft, Kunden und Kundinnen vor der Finanzkrise 2008 wissentlich Ramsch-Hypothekenpapiere verkauft zu haben. Die UBS bestreitet das. Ein Bereich mit 715 Stellen Es sind heisse Eisen, die auf Barbara Levi warten – abgesehen davon, dass die erfahrene Managerin künftig einen Bereich mit 715 Vollzeitstellen und zahlreichen weiteren komplexen juristischen und ethischen Themen führt. Ihre Position dürfte eine der umfangreichsten Verantwortlichkeiten eines General Counsel in einem SMI-Konzern beinhalten. Damit ist Levi vielleicht eine der exponiertesten Chefjuristinnen der Schweiz, doch beileibe nicht die einzige. Sechs der zwanzig Posten als General Counsel in SMI-Unternehmen haben Frauen inne, dazu weitere bei grossen Unternehmen, so etwa Petra A. Winkler bei Schindler, Dominique Fehlmann bei der Swiss und Judith Bischof bei der Ruag. Die Zuständigkeitsbereiche der höchsten Juristinnen und Juristen im Unternehmen haben sich stark ausgeweitet. Die Legals sind gefragt, wenn es um Rechtsberatung der Konzernspitze und Riskmanagement geht, fungieren auch als interne Wächter. Genauso entscheiden sie die Strategie im Falle eines Rechtsstreites und kümmern sich um Angelegenheiten, die dem öffentlichen Ansehen des Unternehmens schaden könnten. Sie verhandeln teilweise bei Übernahmen mit, kümmern sich um Compliance, Corporate Governance und das Thema Nachhaltigkeit. Damit prägen sie die Konzernstrategie und die Unternehmenskultur; eine modern positionierte Chefjuristin zählt entsprechend oft zu den bestbezahlten Topmanagern eines Unternehmens. Im Rechtsbereich rücken häufiger Frauen an die Spitze als auf anderen Gebieten. Viele führen das auf einen grösseren Pool an qualifizierten Frauen zurück, da mittlerweile mehr Frauen Juristinnen werden als Männer. Maria Varsellona, Chefjuristin von ABB, bezeichnet diese Entwicklung im Gespräch mit der «Handelszeitung» als erfreulich, betont aber: «Wir dürfen nicht vergessen, dass die Mehrheit der Führungskräfte noch immer Männer sind, auch im Rechtsbereich. Das Tempo des Wandels muss hier anziehen, er ist überfällig.» Karen Hale, Chefjuristin bei Novartis, setzt sich wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen für Diversität und Geschlechterparität ein. Novartis hat sich diese bis 2023 zum konkreten Ziel im Unternehmen gesetzt. Karen Hale sagt gegenüber der «Handelszeitung»: «Ich freue mich, zu sehen, dass wir in meinem Bereich, Legal and Public Affairs, dieses Ziel bereits erreicht haben.» Doch nicht allein der statistische Frauen- und Männeranteil zählt – entscheidend ist, mit wie viel Einfluss eine Position tatsächlich verbunden ist. Nora Teuwsen, früher Chefjuristin der SBB, bestätigt, dass das Potenzial in manchen Fällen nicht ausgeschöpft wird. «Der General Counsel sollte mehr sein als der Firmenanwalt, der die juristischen Details im Blick hat. Wenn der General Counsel richtig positioniert ist, wirkt er entscheidend an der Unternehmensstrategie mit.» Maria Varsellona sagt: «Für das Unternehmen ist es ein Wettbewerbsvorteil, wenn sie den Wert eines Generals Counsel versteht, der um die nächste Ecke schauen kann.» Teuwsen ist heute Partnerin bei Bär & Karrer und steht als Beraterin bei der Positionierung von Chefjuristen zur Seite. Ein gutes Zeichen sei es, wenn der Chefjurist oder die Chefjuristin Mitglied der Geschäftsleitung sei und direkt an den CEO berichte. Sie ergänzt: «Eine weitere wichtige Frage besteht darin, ob die Juristinnen und Juristen im Unternehmen direkt an den General Counsel berichten oder ob sie zum Beispiel in den Ländergesellschaften an das örtliche Management berichten.» Wichtig sei, dies früh zu klären. «Ich empfehle allen, die eine Position als General Counsel übernehmen wollen, zu Beginn die Rolle klar zu definieren.» Bei der SBB habe sie damals als Chefjuristin alle Juristen und Juristinnen in den vier Unternehmensbereichen konsolidiert. «Ich war damit verantwortlich für rund achtzig Mitarbeitende. Das Team zusammenzuführen und zu transformieren, war fast die grösste Herausforderung dieser Position, aber es hat Früchte getragen.» Zentral ist auch die Zusammenarbeit über verschiedene Ebenen. Maria Varsellona beschreibt es so: «Ein gut positioniertes Rechtsteam umfasst Generalisten, die in der Lage sind, die strategische Entwicklung des Unternehmens zu unterstützen. Diese Juristinnen sollten Teil des oberen Führungsriege eines Unternehmens sein. Ausserdem ist es wichtig, Spezialisten zu beschäftigen, die sich in den Bereichen auskennen, wo die grössten Risiken für das Unternehmen liegen. Sie können die Generalisten mit ihrer Expertise unterstützen.» Das moderne Rollenverständnis Die gleiche Strategie hat Maria Varsellona auf allen Stationen ihrer Karriere verfolgt. Sie begann ihre Karriere als Inhouse-Anwältin bei General Electric. «Deren Strategie bestand darin, die talentiertesten Anwälte ins Haus zu holen und sich möglichst wenig auf externe Anwälte zu verlassen.» General Electric habe bereits in den achtziger Jahren verstanden, dass Anwältinnen und Anwälte nicht nur helfen, Risiken abzufangen, sondern auch, Strategien zu entwickeln. Dies habe ihr geholfen, ihre eigene Herangehensweise zu entwickeln. «Ich habe diese Strategie auf allen späteren Stationen umgesetzt, wenn sie nicht bereits etabliert war, wie es bei ABB der Fall war.» Tatsächlich ist das moderne Rollenverständnis des Chief Legal Officer mittlerweile bei vielen grossen Unternehmen verankert. Von den 14 von der «Handelszeitung» befragten SMI-Firmen haben 10 den General Counsel so positioniert, dass er oder sie Teil der Geschäftsleitung ist und direkt an den CEO berichtet. In diesen Unternehmen hat der Chefjurist oder die Chefjuristin üblicherweise auch die volle Verantwortung für das unternehmensinterne Rechtsteam, was bei Maria Varsellona eine Personalverantwortung von rund 200 Mitarbeitenden bedeutet. 300 Personen berichten, über mehrere Hierarchiestufen, an Matthias Gaertner, der im September beim Baustoffkonzern Holcim übernommen hat, und rund 700 sind es bei der Zurich Insurance, wo Katja Roth Pellanda seit einem Jahr die Verantwortung trägt. Wie Barbara Levi arbeitete auch sie in der Vergangenheit für Novartis. Es gibt allerdings auch Unternehmen im SMI, die anders strukturiert sind. Geberit ist das einzige, welches die Aufgabe des General Counsel auf mehrere Positionen verteilt hat. Bei anderen hat der General Counsel nicht den gleichen Einfluss in der Geschäftsleitung. Nestlé zum Beispiel ist als Unternehmen dezentral organisiert, so auch in der Rechtsabteilung. Rund 130 Mitarbeitende berichten direkt an Chefjuristin Leanne Geale, von den Anwälten und Anwältinnen in den Ländergesellschaften gibt es eine «dotted line» zu ihr. Alle Inhouse-Juristen und -Juristinnen von Nestlé bilden ein Team von rund 680 Personen. Leanne Geale beschreibt gegenüber der «Handelszeitung» eine ihrer Herausforderungen wie folgt: «In einer dezentralisierten Struktur wie bei Nestlé werden Entscheidungen normalerweise lokal getroffen. Darum müssen wir unsere Geschäftsbereiche dazu befähigen, Entscheidungen schnell und mit Selbstvertrauen zu treffen. Dafür müssen wir sicherstellen, dass wir ihnen von der Spitze her klare Regeln und Prioritäten kommunizieren.» Auch Sika-Konzernjurist Stefan Mösli beschreibt sein Verständnis von der komplexen Aufgabe eines General Counsel treffend in einem Fachartikel: «Der Unternehmensjurist muss sein Unternehmen kennen und verstehen.» Das sei keine Aufgabe, die am Schreibtisch erledigt werden könne. «Vielmehr sollte ohne Berührungsängste die ‹Front› besucht werden, beispielsweise eine Produktionsanlage oder ein Labor oder sogar Kunden.» Das Ziel sei, «die Rechtsabteilung als Problemlöser zu akzeptieren und nicht als ‹Geschäftsverhinderer›». An Mösli berichten sechs Juristen und Juristinnen als General Counsel. Weitere Inhouse-Counsel in den Ländergesellschaften berichten an die jeweiligen Geschäftsführer. Mösli ist nicht Mitglied der Geschäftsleitung, auch wenn er an den Sitzungen teilnimmt. Ähnlich handhabt es auch der Chemiekonzern Lonza: Chefjurist Andreas Bohrer nimmt an den Sitzungen der Geschäftsleitung teil, ohne Mitglied zu sein. Auch Katja Roth Pellanda bei der Zurich nimmt, wenn auch umfassend für die Rechtsabteilung im Unternehmen verantwortlich, nicht als Mitglied der Geschäftsleitung an deren Sitzungen teil. Noch etwas anders positioniert ist Patrick Dehmer als Leiter des Konzernrechtsdienstes bei der Swisscom. Er erhält von den GL-Sitzungen die Protokolle und berichtet als Einziger der befragten Chefjuristinnen und -juristen nicht an den CEO, sondern an den Head of Strategy. Er verantwortet rund achtzig Vollzeitstellen. Rechtsfragen, Firmenrisiken, Ethik Viele Konzerne haben ihre internen Rechtsabteilungen ausgebaut. Die regulatorischen Anforderungen sind gestiegen. Leanne Geale von Nestlé beschreibt es so: «Da der Umfang der Gesetze und Regularien wächst, müssen wir in der Lage sein, mehr mit dem gleichen oder sogar einem geringeren Personalumfang zu schaffen – eine der grössten Herausforderungen für jeden General Counsel.» Es sei darum «unbedingt erforderlich», dass Rechts- und Compliance-Teams zusammenarbeiten. Angesichts der Verwobenheit vieler Themen mag es überraschen, dass bei einer Grossbank wie der Credit Suisse Risikochefin Lara Warner und weitere Topmanager nach dem Archegos-Debakel gehen mussten, Chefjurist Romeo Cerutti – immerhin seit 2009 im Amt – bislang jede Verurteilung, jedes Deferred Prosecution Agreement und jede Busse überstanden hat.