Börsenexperte Thorsten Hens kritisiert die überraschende Zinserhöhung der SNB

Die Nationalbank hat die Zinsen letzten Donnerstag erhöht. Zu spät, zu wenig? Die SNB findet anscheinend Gefallen daran, die Märkte zu überraschen. Das hat sie schon bei der Aufhebung der Euro-Untergrenze von 1.20 Franken getan. Und jetzt wieder. Eigentlich sind Überraschungen ein Tabu in der Geldpolitik. Ein Zeichen der Unabhängigkeit, würde die SNB sagen. Eine Nationalbank sollte nicht Unsicherheit in die Märkte tragen, indem sie Stinkbomben platzen lässt, sondern sie muss die Märkte vorbereiten: Forward Guidance machen. Sie sollte Zinsschritte ankündigen und dann verlässlich Taten folgen lassen. An einem Donnerstagmorgen anzukünden, jetzt würden die Zinsen um ein halbes Prozent erhöht, ist falsch. Das löste Schockwellen aus, die bis in die USA spürbar waren. Eine schlechte Geldpolitik, die die Märkte verunsichert. Das Temperament von Thomas Jordan: Hier stehe ich und kann nicht anders. Das ist schlecht, die Nationalbank muss schauen, dass die Wirtschaft in ruhigen Bahnen läuft, sie steuern, nicht überraschen. Die breite Markterwartung war ein Viertelprozentaufschlag, jetzt ists das Doppelte. Und dann hat man sich vorgedrängelt. Die übliche Reihenfolge lautet: Zuerst machen die Amerikaner Zinsschritte, dann folgen die Europäer, dann die SNB. Die Europäer werden auf den Entscheid reagieren und schon früher als angekündigt die Zinsen erhöhen? Die Europäer haben ein Problem mit den peripheren Ländern im Süden, etwa Griechenland. Sie müssen schauen, dass ihnen der Euro nicht um die Ohren fliegt. Die Spreads, die Risikoaufschläge für zehnjährige Staatsanleihen, sind in Griechenland oder Italien schon raufgegangen. Die Schweiz ist da weniger wichtig für Europa. Die SNB-Kommunikation war grob, aber der Schritt macht Sinn? Da gibt es viele Trade-offs. Die Schweiz hat deshalb tiefe Zinsen und die Nationalbank eine derart aufgeblasene Bilanz, damit der Franken nicht teurer wird. Dieser Trade-off zwischen Finanz- und Werkplatz muss immer wieder neu adjustiert werden. Weil die Inflation in der Schweiz überraschend hoch ist, liegt nun mehr Gewicht auf höheren Zinsen, und die damit verbundene Stärkung des Frankens wird in Kauf genommen. Das heisst, der Trade-off geht wieder mehr in Richtung Finanzplatz und weniger in Richtung Werkplatz. Ist das Börsengewitter vorbei oder wird die Verunsicherung noch grösser? Die Märkte versuchen, immer alle Faktoren einzupreisen. Ob schon alle eingepreist sind, weiss ich nicht. Die Frage ist, wie ernst es mit der Zinswende ist. Die Inflationsraten sind in die Höhe geschossen, weil der Ukraine-Krieg die Rohstoffpreise in die Höhe trieb. Das heisst, die Energiepreise sinken irgendwann wieder, auch die Inflationserwartungen. Die Erwartungen liegen für nächstes Jahr in den USA und in Europa bei ungefähr 4 Prozent, in der Schweiz bei unter 2 Prozent. Von daher gabs Hoffnung auf eine nicht sehr grosse Zinswende. Das Überraschende ist, dass die SNB letzte Woche sagte: Nein, diese Hoffnung gibt es nicht, deshalb ziehen wir die Zinswende jetzt durch und erhöhen die Zinsen kräftig. Offenbar hat man die Lage als dramatisch angeschaut. Diese Analyse ist ja an sich nicht schlecht. Das Problem sind die Sekundäreffekte, und da hat die SNB ein klares Zeichen gesetzt. Sie will nicht, dass die Gewerkschaften hohe Lohnforderungen stellen und die Lohn-Preis-Spirale in Gang bringen. Da klingt die Erfahrung aus den 70er Jahren mit, als die Gewerkschaften hohe Lohnforderungen stellten und sich dann die Inflation verfestigt hat. Der Entscheid war auch eine gelbe Karte an die Gewerkschaften: Übertreibt nicht. Sie haben die Botschaft verstanden und waren die lautesten Kritiker des Entscheids der SNB. Sie gehen davon aus, dass die Inflation sich nächstes Jahr bei 2 bis 4 Prozent einpendelt? Diese Markterwartung basiert auf der Vorstellung, dass die Gewerkschaften ihre Lohnforderungen nicht durchdrücken können. Ob diese Rechnung aufgeht, weiss ich nicht. Die IG Metall kriegt in Deutschland 6,5 Prozent mehr Lohn, das ist ein Hammer. Wenn die anderen Gewerkschaften das auch kriegen, verfestigt man die Inflation bei über 6 Prozent. Das wären schlechte Signale für die Anlegerschaft. Für sie brechen unruhige Zeiten an. Mit der sogenannten Zinswende stellt sich die Frage, wie glatt diese Wende gelingt, ob wir ein Soft Landing schaffen oder in eine Rezession laufen. Ihre Antwort? Es wird schwierig werden. Weil die Folgen des Ukraine-Kriegs noch gar nicht richtig bedacht wurden. Die Russen klemmen die Gaszufuhr nach Europa ab, und das erhöht das Risiko, dass die Industrie zu wenig Strom zum Produzieren hat. Ich bin kein Kriegsexperte, aber ich denke, dieser Krieg wird sich irgendwie verfestigen und jahrelang hinziehen. Und jeden Monat schiesst die Weltbank 100 Milliarden ein, damit die Ukrainer von den Amerikanern und anderen Lieferanten Waffen kaufen können. Da entstehen hohe Kosten. Was raten Sie der Anlegergemeinde: verkaufen, aussitzen? Der grösste Anlagefehler ist, wenn man nicht investiert. Und der zweitgrösste Anlagefehler ist, wenn man kalte Füsse kriegt und verkauft. Wie gesagt, der Markt versucht, die Risiken einzupreisen. Wenn ich jetzt abrupt reagiere und aussteige, etwa aus Frust oder Verunsicherung, würde das heissen: Der Markt ist blöd. Die Kurse, die der Markt stellt, sind völlig falsch. Das ist wohl eher eine Überschätzung der eigenen Marktkenntnisse. Es gibt taktische oder strategische Neuallokationen. Durch taktische Massnahmen kann man mit Glück vielleicht ein halbes Prozent mehr rausholen pro Jahr, man sollte die Massnahmen aber nicht auf Emotionen abstützen, sondern auf sinnvolle Indikatoren, im Aktienbereich etwa mit Blick auf die Cape Ratio, ein Preis-Ertrags-Ratio, oder auf Sentiment-Indikatoren. Ich sitze in ein paar Investment-Committees – und wenn man da die Aktienquote von 30 auf 25 Prozent senkt oder auf 35 Prozent erhöht, ist das schon ein sehr grosser Schritt. Ganz auszusteigen, wäre aber eine völlige Selbstüberschätzung. Wer hat schon die Einsicht, dass der Markt völlig falsch liegt, und kann behaupten, er wisse alles besser? Nachkaufen würden Sie nicht? Das ist eine Mentalitätsfrage. Ich bin jemand, der gerne nachkauft. Das ist zwar ab und zu für meine Finanzen nicht besonders gut, aber zumindest für meine Psyche. Sie lassen sich von Emotionen treiben? Bezüglich Finanzmarkt lebe ich noch im Alten Testament: Wenn mir jemand auf die linke Backe schlägt, schlage ich zurück. Wenn mich Mister Market ärgert, dann kaufe ich nach (lacht) und laufe nicht weg! Ein Contrarian? So ist es. Ich bin seit 1981 im Markt. Mein Benchmark ist der volatile deutsche Markt, der DAX, den schlage ich auf lange Sicht. Aber ich bin schlechter als der S&P 500 – oder in manchen Jahren kann ich beim Nasdaq nicht mithalten. Ihre Lieblingsaktie? VW – aber auch das ist ein psychologischer Bias. Mein erstes Auto war ein VW-Käfer. Value-Ansätze beim Geldanlegen waren viele Jahre out, nur Growth zählte. Tech-Aktien waren die Börsenlieblinge. Das ändert sich wieder? Die vergangenen 10 bis 15 Jahre waren für Value-Ansätze schlecht, alle sagten: «Nie mehr Value.» Stattdessen hatten wir eine riesige Growth-Phase mit den Nasdaq-Firmen, deren IT-Produkte wir täglich nutzen. Mit den Zinserhöhungen gibts jetzt ein Re-Pricing im Nasdaq – und die Value-Titel sind wieder populär. Die Märkte sind grundsätzlich zyklisch und die Anlegenden versuchen, das zu tun, was in der Vergangenheit gut war. Bei zyklischen Märkten aber ist das genau das Falsche. Da spricht der erfahrene Anleger. Ihr Erfahrungsschatz fehlt der jungen Generation. Es wird in der Tat interessant, ob diese Leute, die noch nie Verluste machten, das durchhalten. Da gibts welche in meinem Bekanntenkreis, die cool dabei bleiben, und andere, die kalte Füsse kriegten. Ihr Sohn ist auch im Markt investiert? Ja, ich denke, es gehört zur Persönlichkeitsentwicklung, denn der Markt ist eine gute Persönlichkeitsschule. Er ist heute 23 und hat, so wie ich vor 40 Jahren, mal ein Index-Produkt mit Dollar-Cost-Averaging, also das Investieren eines fixen Dollarbetrags – oder nachkaufen. Setzt er – wie der Vater – auf Langfristigkeit und Aktien? Das hat er begriffen. Aber irgendwann wird er seinen eigenen Weg gehen und vielleicht ein Haus im Metaverse kaufen. (lacht) Das haben Sie ihm nicht ausgeredet? Ist noch schwierig. Bei diesen Diskussionen merkt man, dass man alt wird. Man sagt zwar, das sei Quatsch, aber vermutlich werden im Metarverse bereits die nächsten Millionäre und Milliardäre geboren. Dann sind Kryptowährungen auch nichts für Sie? Doch, damit kann man viele sinnvolle Dinge tun, aber das Spekulieren in Kryptos ist wohl die sinnloseste Anwendung davon; sie steht oder stand leider im Vordergrund. Aber in der Schweiz oder Deutschland braucht man keine Kryptos. Die braucht man in Diktaturen, in Ländern, in denen das Geldsystem nicht funktioniert, und in Afrika, wo es keine Pensionskassen gibt. Oder in Lateinamerika, wo die Inflation hoch ist. Oder für den internationalen Zahlungsverkehr, wenn der nicht funktioniert. Ich habe einen Co-Autor, der ist Professor in England, er ist Russe und kann der Familie in Moskau kein Geld mehr überweisen, weil der Zahlungsverkehr über Swift nicht mehr funktioniert. Er fragte mich, wie man eine Wallet eröffnet und so Geld nach Russland transferiert. Das sind nützliche Anwendungen. Mein Tipp ist: Die Bevölkerung von El Salvador sollte in den Krypto-Schweizer-Franken anlegen und nicht in irgendwelche Kryptowährungen. Es geht um Wertstabilität, nicht um Spekulation. Lange war unter den Investoren Nachhaltigkeit das grosse Thema. Mit dem Krieg in der Ukraine und den Energiepreisen hat das Thema an Caché verloren. Nun gelten auch Waffen als nachhaltig. Nachhaltig investieren sollte man nicht aus Renditegründen, sonst läuft man in Phasen wie die jetzige. Die Öl- und die Waffenindustrie machen Gewinne und selber hinkt man hinterher. Wenn man nachhaltig investieren will, muss man das aus moralischen Gründen und Überzeugung tun. Es kann ja durchaus sein, dass sich jemand nicht an Martin Marietta, Rio Tinto oder BP beteiligen will, auch wenn es Rendite kostet. Allerdings vermarkten Banken Nachhaltigkeit auch mit Renditeversprechen. Die Banken versuchen in der Tat, zu erklären, dass es keinen Widerspruch gibt zwischen Geld und Moral. Sie sagen: «Damit kannst Du sogar reicher werden.» Falsch? Ja. Das ist aufgrund der ökonomischen Theorie nicht richtig, denn man wird entschädigt für die schlechten Dinge, nicht für die guten. Das ist die Grundaussage des Capital-Asset-Pricing-Modells. Gut, es gibt viele Studien, die zeigen, dass man mit ESG-Ansätzen mehr verdient hat, doch das ist dem Geldzufluss in diesen Bereich geschuldet. Der Push in die ESG–konformen Anlagen hat die Preise nach oben getrieben. Irgendwann kommt die Ernüchterung. Also kein langfristiger Trend? Die Nachhaltigkeit kriegen wir nicht mehr weg. Nochmals: Man sollte es aus moralischen Gründen tun, nicht aus finanziellen. Und es gibt bessere Methoden, um die Umweltbelastung zu bekämpfen, als durch nachhaltiges Investieren. Das Problem ist doch der Konsum. Man kann zwar British American Tobacco das Geld entziehen, aber dann werden andere Firmen den Tabak produzieren. Solange die Nachfrage da ist, wird sich ein Anbieter finden. Die Schraube über Investitionen ist notwendig, aber sie löst das Problem nicht. Dieses kriegt man nur durch vernünftigen Konsum in den Griff. Es ist doch absurd, wenn man ESG-konform investiert und gleichzeitig mit dem Diesel in der Stadt rumfährt. Sie sind seit langem am Investieren. Noch immer Spass am Markt? Mark Twain sagte: History doesn’t repeat itself but it rhymes. Es gibt immer wieder eine neue Story, weshalb ein Markt einbricht, und es gibt eine neue Panik, aber es sind oft die gleichen Muster. Das ist spannend. Sie haben schon ein paar Krisen erlebt – das Platzen der Dotcom-Blase. Ich war schon beim grössten Tagesverlust 1987 dabei. Und 1998, als Russland auf den Staatsanleihen nichts mehr zahlte und pleite war. Ich war dabei, als die Dotcom-Blase 2000 platzte. Auch als das globale Finanzsystem 2008 kollabierte. Ich habe die Euro-Krise 2010 und die Corona-Krise 2020 erlebt und jetzt die Zinswende. Was kommt als Nächstes? Vielleicht 2023 der globale Blackout, wenn wir nicht mehr genug Strom haben. Sie sehen: Das Thema ist immer wieder neu, aber die Mechanismen sind dieselben.

Börsenexperte Thorsten Hens kritisiert die überraschende Zinserhöhung der SNB

«Eine Nationalbank sollte keine Stinkbomben platzen lassen»