Fall Pierin Vincenz: Ehemaligen Verwaltungsräten von Raiffeisen drohen Regressforderungen

Der Vincenz-Prozess könnte auch für die früheren Verwaltungsräte von Raiffeisen Schweiz, allen voran Ex-Präsident Johannes Rüegg-Stürm, gefährlich werden. Denn in der 1200-Seiten starken Urteilsbegründung spart das Bezirksgericht nicht mit Kritik an der alten Raiffeisen-Führung: Die Kontrollen waren zu lasch. Das könnte Regressforderungen nach sich ziehen. Raiffeisen Schweiz schliesst solche nicht aus. «Raiffeisen Schweiz analysiert die schriftliche Urteilsbegründung und wird das weitere Vorgehen festlegen», teilt die Bank auf Anfrage mit. Die Mitgliedsbanken der genossenschaftlichen Gruppe haben sich diese Option offengehalten und den alten Verwaltungsräten die Décharge verweigert. Ungerechtfertigte Spesen von über 100’000 Franken «Raiffeisen sollte Regressansprüche gegenüber dem alten Verwaltungsrat zumindest prüfen. Anstelle einer Klage wäre ja auch eine freiwillige Zahlung möglich», sagt der Berner Professor für Wirtschaftsrecht Peter V. Kunz. Insgesamt hat Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz laut Urteil 107’249.50 Franken ungerechtfertigt für Spesen verprasst, unter anderem in Cabarets und Stripclubs. «Dabei nutzte er einigermassen bewusst eine Lücke in den Compliance-Strukturen der Bank, welche die Verwendung von Spesengeldern nicht genügend klar regelte und sein Verhalten nicht hinreichend kontrollierte», moniert das Gericht. Über die Kostenstelle 950000 konnte Vincenz Ausgaben bis zu 5 Millionen Franken tätigen. «Dem Verwaltungsratspräsidenten Johannes Rüegg-Stürm war die Kostenstelle 950000 gemäss eigenen Aussagen nicht einmal bekannt», hält das Urteil fest. Raiffeisen setzte Meldepflicht nicht um Auch bei den Firmentransaktionen gab es keine effektive Kontrolle. Zwar wurde bei Raiffeisen im Jahr 2012 eine Meldepflicht eingeführt, «welche seitens der Raiffeisen dann aber nie konkret im Rahmen eines strukturierten Meldeverfahrens umgesetzt wurde», heisst es in dem Urteil. Daher folgert das Gericht, es sei «nicht von der Hand zu weisen, dass es den beiden Hauptbeteiligten aufgrund der damals mangelhaften Compliance-Strukturen der Bank relativ einfach gemacht wurde, einen Teil der durch das Transaktionsgeschäft erwirtschafteten Gelder in ihren Einflussbereich zu lenken». Interessant: Eben just wegen dieser laschen Kontrollen und der Tatsache, dass bei der Investnet-Transaktion der Verwaltungsrat nicht weiter nachgeforscht hat, sieht das Gericht darin, dass Vincenz und Stocker ihre Beteiligung verschwiegen hatten, keine Arglist. Und diese ist Voraussetzung für eine Verurteilung wegen Betrugs. Stattdessen wurden beide im Investnet-Fall wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung verurteilt, was eine weniger schwerwiegende Straftat ist. Auch Jurist Kunz meint: «Der frühere Verwaltungsrat konnte oder wollte offenbar seine Kontrollfunktion von Vincenz nicht wahrnehmen, das war ein ‹Amateurverwaltungsrat› mit wenig Bankexpertise.» Raiffeisen Schweiz droht Ärger mit der Basis Die Frage ist allerdings, ob bei den alten Verwaltungsräten und bei Ex-Präsident Rüegg-Stürm viel zu holen wäre. Die zu zahlenden Summen wären für eine national systemrelevante Bankengruppe wie den Raiffeisen-Verbund vermutlich zu vernachlässigen. Doch so einfach kann Raiffeisen Schweiz die alte Bankenspitze nicht vom Haken lassen, meint ein Kenner der Vorgänge. Denn die möglichen Regresszahlungen stünden anteilsmässig jeder einzelnen Raiffeisen-Bank zu. «Verzichtet Raiffeisen Schweiz auf die Geltendmachung dieser Ansprüche, könnten einzelne Mitgliedsbanken dagegen vorgehen», so der Raiffeisen-Insider. Die Zentrale in St. Gallen dürfte vermutlich diskret bei den Mitgliedsbanken sondieren, wie hoch denn die Motivation ist, gegen die alte Bankenspitze vorzugehen. Als Gegenargument wird genannt, dass Raiffeisen mit rechtlichen Schritten gegen Rüegg-Stürm und Co. selbst dafür sorgen würde, dass das Thema weiter in den Schlagzeilen bleibt und so die Reputation belastet. Nach internen Reformen der Strukturen und der Neubesetzung aller Positionen dürfte es den Wunsch geben, den Vincenz-Fall der Strafjustiz zu überlassen und nach vorne zu schauen – ausgenommen sind davon natürlich die Schadenersatzklagen gegen Vincenz und Stocker, die Raiffeisen mit allem Nachdruck verfolgt. Schnelle Klarheit ist nicht in Sicht Rechtsprofessor Kunz bemerkt daher: «Nach dem Fast-Kollaps der UBS hatte die Bank auch Regressansprüche gegenüber Marcel Ospel und weiteren Managern geprüft, sich dann aber dagegen entschieden, den Fall weiterzuverfolgen.» Für die alte Raiffeisen-Spitze dürfte der Fall noch lange nicht ausgestanden sein. Denn ob Raiffeisen gegen sie in einem Zivilverfahren vorgeht, wird erst dann entschieden werden können, wenn ein rechtskräftiges Urteil im Strafprozess vorliegt. Und das wird noch Jahre dauern. Der Fall Vincenz dürfte vermutlich vor dem Bundesstrafgericht landen.

Fall Pierin Vincenz: Ehemaligen Verwaltungsräten von Raiffeisen drohen Regressforderungen

Der Fall Vincenz könnte für die alte Raiffeisen-Spitze gefährlich werden