Reich mit Holz: Das ist der Säger der Nation

Haltikon, Kanton Schwyz: Hier steht die grösste Sägerei der Schweiz. Das Areal ist riesig, das Sägemehl türmt sich meterhoch. Hunderte Baumstämme liegen auf dem Rundholzplatz. Lastwagen, Gabelstapler und Traktore fahren auf dem Gelände, auf der anderen Seite der Strasse ist ein Helikopterlandeplatz – ein Relikt aus vergangenen Tagen und gleichzeitig ein Zeichen der bewegten Geschichte der Firma Schilliger. Das Unternehmen ist ein lupenreiner Familienbetrieb, seit 160 Jahren von Generation zu Generation weitergegeben, geführt von vier Cousins, die gemeinsam auf dem Firmenareal aufgewachsen sind. Sie kennen sich seit frühester Kindheit, leben für das Sägewerk, arbeiten samstags auch am Morgen. Am Samstagnachmittag ist die Firma dann häufig Tischgespräch beim privaten Treffen, am Sonntag sowieso. Belastend ist das nicht. «Ein Privileg ist das», sagt der Geschäftsführer Ernest Schilliger dazu. Der in Biel ausgebildete Holzbauingenieur ist 55 Jahre alt. Mit 4 Jahren spielte er noch auf dem Firmengelände im Sägemehl, mit 35 übernahm er die Führung des Unternehmens. Grössere Entscheide werden seither immer im Vierergremium der Familie gefällt – und zwar einstimmig. «Entweder sind alle Cousins dafür», sagt Schilliger, «oder wir diskutieren, bis sich alle einig sind und den Entscheid vertreten können. Nach aussen agieren wir wie der Bundesrat: Bei uns gilt das Kollegialitätsprinzip.» Der Schilliger-Familie ist so ein Kunststück gelungen: Der Holzbetrieb hat sich in einer harten Phase der Konsolidierung behaupten können. Bei der letzten Vollerhebung des Bundesamtes für Statistik zählte die Schweiz noch 347 Sägereien. In den 1990ern waren es fast 1000. Innert drei Jahrzehnten sind also über 600 Sägereien vom Markt verschwunden. Sie wurden verkauft oder gingen pleite. Schilliger hat diese Entwicklung nicht nur überlebt, sondern davon profitiert. Der Betrieb hat an Grösse und Umsatz zugelegt. Mittlerweile steht die sechste Generation in den Startlöchern. Sie ist grossmehrheitlich weiblich – ein Novum in der Firmenhistorie. Bisher gab es nur Männer an der Spitze. Blasius war der erste, es folgten Xaver, Ernst senior, Ernst junior und Ernest. Der Wandel des Unternehmens steht sinnbildlich für die Umbrüche, die sich in der ganzen Schweiz ereignet haben. Als Blasius Schilliger die Säge vor 160 Jahren samt Wohnhaus, Mosterei, Wald und Land für knapp über 22’400 Franken kaufte, war die Schweiz eine Agrargesellschaft. Holz war das wichtigste Handelsgut, die Nachbarländer die grössten Abnehmer. Der Rest der Welt kam erst langsam auf den Radar der Eidgenossenschaft. In Spanien, Lissabon, Venedig und Brasilien eröffneten 1861 die ersten Handelsvertretungen. In Japan und in der Türkei gab es Verhandlungen über entsprechende Ableger. China war ein Thema, aber noch zu weit weg. Ein Bundesrat verdiente 8500 Franken. Der Chef der Eidgenössischen Münzstätte, «Münzdirektor» genannt, bezog ein Jahressalär von 3500 Franken – nebst freier Wohnung. Die Bundesausgaben summierten sich auf knapp über 20 Millionen. Heute kassiert ein Bundesrat rund 455’000 Franken brutto. Der SNB-Direktor erhält über 1 Million. Und die Staatsausgaben liegen bei über 70 Milliarden. Holz spielt in der Handelsbilanz keine grosse Rolle mehr, die chemisch-pharmazeutische Industrie dominiert stattdessen das Bild. Bei der Firma Schilliger ist vom relativen Bedeutungsverlust aber wenig spürbar. Beim Familienbetrieb weht ein internationaler Wind. Das Geschäft hat sich vom regionalen Kleinstunternehmen zur internationalen Grosssägerei mit dreistelligem Millionenumsatz und globalem Vertriebsnetz gemausert. Der Kundenstamm reicht bis nach Australien. In Pakistan gibt es ein Verkaufsbüro. «Holz ist der einzige Rohstoff, den die Schweiz hat, der sich auch in Wert setzen lässt», sagt Schilliger. Ein Selbstläufer war die Familiengeschichte aber nie. Es gab Rückschläge, finanzielle Probleme, Grossbrände, Todesfälle. Die Kantonalbank Schwyz, über Jahre die Hausbank der Sägerei, brauchte zuweilen gute Nerven. So etwa Ende der 1960er Jahre, als eine grössere Investition anstand. Beim Werben um die Finanzierung lud die Holzfirma die Verantwortlichen der Bank zu einer Fahrt im Oldtimer-Postauto ein. Das Gefährt streikte an einem Luzerner Rebhügel. Sämtliche Passagiere mussten aussteigen und das Postauto den Hügel hinaufschieben. Ein besonders tragischer Unfall ereignete sich im Dezember 1978. Damals, vier Tage vor Weihnachten, wurde Regula Schilliger, die Schwester von Ernest Schilliger, von einem Lastwagen auf dem Firmengelände überrollt. «Sie stand rechts neben der Beifahrertüre», sagt der heutige Firmenchef über den Unfall. Er war damals zwölf Jahre alt, die Schwester elf. «Das war furchtbar für uns alle.» Zu den glücklicheren Geschichten zählt der Besuch des Papstes in den Jahren 1984 und 1986. Die Firma Schilliger hielt seinerzeit eine Beteiligung an der Helikopterfirma Helog. Diese besass den ersten Super Puma des Landes – ein Helikopter mit zwei Turbinen, besonders gut geeignet für den sicheren Transport des Oberhaupts der katholischen Kirche. Und so kam es, dass der Papst im Helikopter der Innerschweizer Platz nahm, als er die Schweiz und Liechtenstein besuchte. Für diesen Zweck wurde der Super Puma eigens gesegnet und mit einem Extrasitz in Purpur und Gold versehen. Vollautomatisierter Zweischichtbetrieb Die Beteiligung an der Helog hat Schilliger 2005 abgestossen. Holz mit dem Helikopter zu transportieren, war nicht mehr nötig. Seither setzt das Unternehmen fast nur noch auf die Strasse und die Schiene. Der Fuhrpark umfasst 28 Lastwagen. 1000 Kubikmeter Holz verarbeitet Schilliger an einem durchschnittlichen Tag. Gearbeitet wird in einem Zweischichtbetrieb. Alles ist vollautomatisiert. Vom Entrinden übers Zusägen bis zum Leimen berührt keine Hand den Baumstamm. Nach fünf Minuten ist aus einem 5 Meter langen und knapp 400 Kilo schweren Baumstamm ein Balken oder ein passgenaues Brett geworden. Hauptabnehmer sind Zimmereien und Baugeschäfte. Das Gros der verarbeiteten Nadelhölzer findet seinen Platz in irgendeiner Form und Funktion in einem Bauwerk – als Dach, Treppe, Fensterrahmen, Tragwerk oder Fassade. Nur gerade 60 Prozent eines Baumstammes wird Schnittholz. Der Rest ist Abfall, wird aber voll wiederverwertet: Sägemehl wird zu Pellets gepresst, Holzschnitzel werden zu Papier, Restholz und Rinde zu Energie Das ist ökologisch sinnvoll, aber auch ökonomisch zwingend. Wer in der Schweiz produzieren will, muss optimieren. Mit der zunehmenden Globalisierung sowieso. Der Kostendruck nimmt seit den 1980ern zu. «Auf dem Weltmarkt ist Holz letztlich eine Commodity», sagt Schilliger. «Der Preis entscheidet.» Das Problem: Die Konkurrenz aus Skandinavien, Kanada oder den USA wirtschaftet mit einer anderen Kostenbasis. «Bei uns in der Schweiz kostet auch ein Quadratmeter Industrieland um die 700 Franken», sagt Schilliger. «Im Ausland gibt es Land für 20 bis 30 Euro pro Quadratmeter und dazu Subventionen.» Er weiss es genau. Denn Schilliger besitzt seit 2009 ein Werk in Frankreich. Haltikon produziert primär für die Schweizer Bauindustrie. Der französische Ableger dagegen ist stärker auf den internationalen Markt ausgerichtet. Die Ware aus Frankreich geht vom Werk direkt auf den Rhein und via Rotterdam im Container in die ganze Welt. Montags und dienstags ist Schilliger jeweils selbst vor Ort, den Rest der Woche verbringt er im heimischen Haltikon. Der Kauf des französischen Werks hat den Jahresumsatz der Firma von einem Tag auf den anderen verdoppelt. «Vier Bieter waren im Rennen», sagt der Patron. Zwei Franzosen, ein Deutscher und die Schweizer. Haltikon erhielt den Zuschlag. Der Entscheid für den Kauf war einstimmig. Ganz nach dem Familiencredo. Peter Spuhler als Vorbild Die vier Schilliger-Cousins, die an der operativen Spitze des Unternehmens stehen, vereinen über 95 Prozent der Aktien auf sich. Sie bilden auch den Verwaltungsrat. Stimmen zählen: Gibt es nicht, gab es nie. «Ich habe noch nie den Stichentscheid gebraucht», sagt Schilliger. Für den Patron ist dieses familiäre Miteinander ein wichtiger Teil der Unternehmenskultur, ein wichtiger Pfeiler des Erfolgs – und das Erbe, das er der nächsten Generation mitgeben möchte. Der Unternehmer ist beides: ein Erneuerer und Bewahrer. Er konserviert die Familientradition und baut sie gleichzeitig aus. Den Umsatz hat er innert zwanzig Jahren verfünffacht. Die mit Schilliger-Holz produzierten Bauten erstrecken sich nunmehr vom Mittelmeer bis über den Atlantik und den Pazifik. Eines der jüngeren Referenzprojekte ist ein zehngeschossiges Geschäftsgebäude in Nizza. Die Region hat keine grosse Holzbautradition. Schilliger durfte trotzdem 1300 Kubikmeter Grossformatplatten liefern. Die Immobilie gilt als das höchste Holzgebäude in ganz Frankreich und hat Vorbildcharakter für nachhaltiges Bauen an der Côte d’Azur. Vorbilder hat auch der Unternehmer: «Mich persönlich beeindrucken Peter Spuhler und seine Stadler Rail. Ems macht das auch hervorragend. Hayek und Swatch sowieso.» Passenderweise sind im neuen Swatch-Hauptsitz ebenfalls Produkte aus Schilliger-Fabrikation verbaut. Es ist ein weiteres Referenzprojekt, ein weiteres Zeichen für Modernität und Aufbruch. Es ist aber auch klassisches Handwerk und gute Familientradition. Stillstand gibt es nicht. Schilliger plant bereits den nächsten Schritt. Auf dem Areal der Papierfabrik Perlen soll ein Faserplattenwerk entstehen, das einzige der Schweiz, ein 70-Millionen-Investment, die Hausbank braucht wieder Nerven. Die Fabrik will Holzschnitzel zu Dämmmaterial machen. «Das ist das einzige nachhaltige Material», sagt Schilliger. In der Baubranche werde vor allem Glas- und Steinwolle oder Kunststoff verwendet. Seine Holzfaserplatten aber bestünden aus nachwachsenden Rohstoffen. «2024 wollen wir mit dem Produzieren beginnen», so der Unternehmer in fünfter Generation.