So gehen Schweizer Unternehmen gegen Kinderarbeit vor

Jodelen Mitra kennt die Plantagen und Minen, wo neunjährige Buben und zwölfjährige Mädchen buckeln, malochen, schürfen, pflücken – und sterben. Seit über zehn Jahren kämpft sie von Kuala Lumpur aus gegen Kinderarbeit. Die Expertin der International Labor Organisation (ILO) hat viel zu tun, immer mehr. Weltweit verrichten 150 Millionen Minderjährige Arbeiten, die schädlich sind und sie vom Schulbesuch abhalten. Besonders verbreitet ist Child Labor im südlichen Afrika, dort, wo auch Firmen wie Nestlé, Glencore, Trafigura, Lindt & Sprüngli aktiv sind. Für die Initianten der sogenannten Konzernverantwortungsinitiative ist klar, wer die Schuldigen von Kinderarbeit sind. Schweizer Firmen. Genauer: Konzerne, die zur Gewinnmaximierung angeblich täglich Verbrechen an Mensch und Umwelt verüben. «Die Konzerne setzen auf Kinderarbeit oder zerstören die Umwelt», heisst es in einem Flyer der Initianten. Alles «der mörderischen Profitsucht» geschuldet, donnert Jean Ziegler, ebenfalls ein Promotor. Und ein langjähriger Bewunderer von Muammar al-Gaddafi, Fidel Castro oder Robert Mugabe, die in ihrer Regentschaft Millionen von Kindern ihrer Zukunft beraubten. Die Initianten aber, die sich für «verantwortungsvolles Unternehmertum» einsetzen, zeichnen in ihren Broschüren und Plakaten ein Zerrbild der Realität. Sie ignorieren, was Experten, Audit-Firmen und NGO mit viel Fronterfahrung berichten und welches Bild Reports und Rankings zeigen. Deren Urteile sind einhellig: Kinderarbeit ist ein höchst anspruchsvolles Problem, für das es keine einfache Lösung gibt. «Einen Easy Fix gibt es nicht», sagt Bastien Sachet, Chef von Earthworm; die NGO aus Genf berät und kontrolliert seit Jahren Firmen, die in den Hotspots der Kinderarbeit tätig sind. Auch ILO-Expertin Mitra beklagt, bei der Kinderarbeit werde zu viel simplifiziert, «das Problem ist sehr komplex». Es komme vieles zusammen, Armut, Diskriminierung, mangelnde Sanktionierung, schwache Behörden, fehlende Schulbildung, Kultur, Traditionen. Und rücksichtslose Händler und – ja, auch: Abnehmer im Norden, die lieber im Discounter unkontrollierte Massenware kaufen. Epizentren der Kinderarbeit sind Ghana und die Elfenbeinküste, zwei Länder, in denen Firmen Tonnen von Kakao zur Schokoladenproduktion ordern, und zwar seit über fünfzig Jahren. Die beiden Staaten, aus denen 70 Prozent der weltweiten Kakaoernte stammen, sind gefürchtet. Zwei Millionen Kinder sind in Kleinfarmen eingespannt, schätzt das US-Arbeitsministerium. Viele der Minderjährigen stammen aus Mali oder Burkina Faso, werden von ihren Eltern verstossen oder verkauft und von Schleppern über die Grenze geschmuggelt. Schule besuchen sie nie, vom Monatslohn von 20 Franken geht die Hälfte an den «Grand Patron», den Schlepper. Im besten Fall bleiben ein paar Rappen für die Familie in der Heimat. Startschuss mit Nestlé, Hershey und MarsTriste Zustände, um die sich kaum jemand kümmert, schon gar nicht der Staat. Immerhin: Seit zwanzig Jahren, genauer seit 2001, haben die Schokoverarbeiter Hershey, Mars und Nestlé ein Abkommen zur Eliminierung von Kinderarbeit unterschrieben. Nestlés Maxime lautet damals wie heute: «Kinderarbeit hat keinen Platz in unserer Lieferkette.» Deshalb hat man ein Child Labor Monitoring aufgebaut, Entlöhnungssysteme verändert, Schulen gebaut, Farmer beraten, Standards bei Qualität, Umweltschutz und Menschenrechten durchgesetzt. Auch für Geburtsurkunden der Kinder macht man sich stark, sagt Nestlé-Chef Mark Schneider, nur das Dokument ermöglicht den Schulbesuch.Gemeinsame Ziele und andere Wege Die Unternehmensinitiative, über die wir am 29. November abstimmen, fordert eine ausgedehnte Haftung und Beweispflicht bei Verletzung von Menschenrechten und Umweltstandards in der Lieferkette. Betroffen wären Grossfirmen ebenso wie KMU. Sie sind gegen die Initiative und setzen auf internationale Bestrebungen. Nestlé hat seine Projektpalette laufend ausgebaut, etwa mit einem Cocoa Action Plan, der Darlehen oder Stromversorgung der Hütten vorsieht, damit die Kinder auch am Abend lesen können. Involviert sind ein Dutzend NGO, darunter Fair Labor Association, Rainforest Alliance oder die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Sie kontrollieren und rapportieren. Die Grosskonzerne, darauf lassen die Nachhaltigkeitsberichte schliessen, investieren in ihre Öko- und Sozialprojekte in den beiden Kakaoländern zwischen 5 bis 10 Millionen Franken. Zielgerichtet geht auch Lindt & Sprüngli mit seinem Farming-Programm vor. Die «Maîtres Chocolatiers» setzen auf «bean to bar» – auf eine umfassende Kontrolle der gesamten Lieferkette. Dazu gehören Nachverfolgbarkeit, Training, Investitionen in die örtlichen Gemeinwesen und Nachkontrollen. Zum Standardrepertoire gehört auch das Fördern von Diversifizierung, damit die Kakaobauern weitere Einkommensquellen aufbauen können. Denn Kakaobohnen werden nur zweimal im Jahr geerntet, zudem schwanken Erntemenge wie Weltmarktpreis. In Ghana werden Kakaobäuerinnen unterrichtet, wie man Schnecken züchtet, um sie auf dem Markt zu verkaufen. Best Practice kann einiges bewirken, zum Beispiel wie Kakaopflanzen zurückgeschnitten werden, damit sie nicht krank werden und mehr abwerfen. Um die Kinder von den Feldern in die Schulzimmer zu locken, werden Uniformen bezahlt. Oft wird den Eltern ein Handgeld zugeschoben, wenn sie ihre Kinder zum Schulunterricht schicken, sagt ein Schweizer Manager. Man will es genau wissen: Im Lindt-&-Sprüngli-Nachhaltigkeitsbericht 2019 wird erwähnt, dass man dank Monitoring zwölf Fällen von Kinderarbeit in den Plantagen auf die Spur kam, drei davon hatten Bezug zu Kleinbauern, die Lindt & Sprüngli beliefern. Im Farming-Programm werden Bauern zu nachhaltiger Produktion ohne Kinderarbeit angehalten. Wer nicht kooperiert oder erwischt wird, fliegt aus dem Programm. Heute bezieht Lindt & Sprüngli Kakao von 80'000 Kleinbauern, 92 Prozent von ihnen sind Teil des Programms, dieses Jahr – so die Vorgabe – sollen es 100 Prozent sein. Wer es sich leisten kann, setzt auf eigene Projekte und Lieferketten. Vom Einkauf von zertifiziertem Kakao, oft mit einem gefälligen Logo wie «Fair» oder «Sustainable» versehen, hält man sich im Zweifelsfall fern. Damit punktet man zwar im Laden, aber Zertifikate sind, wenn sie nicht überprüft werden und ihre Einhaltung nicht sanktioniert ist, oft ein leeres Versprechen. «Zertifizierung ist anfällig für Korruption» sagt Isabelle Schluep vom Zentrum für Unternehmensverantwortung und Nachhaltigkeit CCRS an der Uni Zürich. Dieselbe Erfahrung machen NGO. Ein Manager mit Fronterfahrung sagt: «Zertifizierung beruhigt oft das Gewissen der Käufer.» Kinderarbeit aber lässt sich nur ausmerzen, wenn die gesamte Lieferkette aufgedröselt, analysiert, angepasst und überwacht wird. Lob von Helvetas für Lindt & SprüngliDer breite Ansatz beim Reduzieren eines komplexen Themas hat Nestlé, aber auch Lindt & Sprüngli viel Lob eingetragen. Denn sie schieben die Standards nach oben. Der Madagaskar-Chef des Schweizer Hilfswerks Helvetas war vor zwei Jahren voller Lob. «Lindt & Sprüngli setzt nicht nur mit der Qualität der Schokolade, sondern auch in puncto sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit Zeichen.» Das Urteil vom eigenen Experten in Afrika teilt die Helvetas-Zentrale in Zürich offenbar nicht mehr. Helvetas ist einer der Promotoren der Initiative, die Schweizer Unternehmen unethisches Verhalten vorwirft. Schwerer tun sich kleine Schokoladenhersteller. Sie haben nicht die Ressourcen, um selbst vor Ort zu sein, sondern müssen sich auf Labels wie Max Havelaar und Utz verlassen, um Kinderarbeit zu bekämpfen. «Wir haben keine andere Wahl, als uns auf die Labels zu verlassen», sagt Markus Vettiger, Chef der Ostschweizer Traditionsmarke Maestrani. Das Problem: Die Labels haben zwar strenge Standards, Kinderarbeit ist tabu, zumindest auf dem Papier. In der Realität aber kämpfen selbst angesehene Zertifizierungsprogramme wie Max Havelaar damit, dass es Fälle von Kinderarbeit gibt. Max Havelaar verweist auf jahrzehntelange Erfahrung mit Kinderarbeit. Man verfolge einen holistischen Ansatz, um das Problem an den Wurzeln zu bekämpfen. Im Zentrum stünden Entschädigungen, die ein Leben in Würde ermöglichen. Zudem zeige die Erfahrung, dass Policies und Prozesse viel wirksamer seien, wenn sie nicht von aussen implementiert, sondern mit den Bauern, Familien und lokalen Gemeinschaften entwickelt würden. Trotzdem bleibe: Kein Business, keine Regierung, keine Zertifizierung könne 100-prozentig garantieren, dass ein Produkt frei von Kinderarbeit sei. Maestrani-Chef Markus Vettiger hat früh auf Nachhaltigkeit gesetzt. Im Dauerbrenner Minor-Riegel und allen anderen Produkten kommen nur noch nachverfolgbare Rohstoffe vor. Einen anderen Weg wählen die Baristas von Vicafé. Das Kleinunternehmen, eine Tochter der Cola-Alternative Vivi-Kola, geht die «Extrameile bis zum Ursprung». Ziel ist es, die ganze Wertschöpfungskette vom Sourcing über das Rösten bis hin zum Transport und Verkauf im Blick zu haben und zu kontrollieren. «In unserem Verständnis gehört es zu unserer unternehmerischen Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Kaffees in unserem Sortiment sozial- und umweltverträglich hergestellt werden», sagt Geschäftsführer Ramon Schalch. Vicafé setzt auf persönliche und langjährige Kooperationen mit Kaffeebauern aus allen wichtigen Kaffeeregionen. Der Aufwand ist enorm: Zwei- bis dreimal pro Jahr reisen die Experten aus Zürich zu ihren Bauern, dazu kommen regelmässig Videocalls und Chats, um die Verbindung aufrechtzuerhalten. «Kinderarbeit lässt sich nur vermeiden, wenn man die Diskussion mit den Betroffenen vor Ort und auf Augenhöhe führt», sagt Schalch. Der Preis dafür: Vicafé zahlt seinen Bauern ein Vielfaches dessen, was sie auf dem Weltmarkt lösen würden. Das ist viel, auch wenn sich Spezialitäten-Kaffee und Commodity nur beschränkt vergleichen lassen. Dafür ist der Kaffee ohne Kinderarbeit. Mindestens so endemisch wie beim Kakao ist Kinderarbeit beim Kobalt. 70 Prozent des weltweiten Abbaus stammt aus dem Krisenland Kongo, 20 Prozent davon aus Kleinstminen, in denen Kinderarbeit gang und gäbe ist. Eine Million Minderjährige, schätzen Experten, arbeiten unter haarsträubenden Bedingungen. Das Schwermetall aus den Minen Kongos taucht bei uns in den Batterien von Elektroautos oder Smartphones auf. Rund acht Kilogramm Kobalt werden in einem durchschnittlichen E-Fahrzeug verbaut. Diverse Konzerne aus dem Westen, darunter Glencore, bauen Kobalt wegen der Risiken nur noch industriell ab, ohne Kinderarbeit. Ein gutes Verkaufsargument: Tesla hat kürzlich mit dem Zuger Rohstoffhändler einen Liefervertrag über 6000 Tonnen Kobalt pro Jahr abgeschlossen. Um Kinderarbeit zu vermeiden, werden die Industrieminen mit Gitter und durch Sicherheitsdienste abgegrenzt. Zudem werden landwirtschaftliche Kooperationen finanziell unterstützt, damit Familien Selbstversorger werden und nicht auf Zusatzeinkommen ihrer Kinder angewiesen sind. Damit diese nicht in den Sommerferien in den Minen abtauchen, organisiert Glencore jährlich Sommerlager mit 15'000 Kindern. Die Firma trat 2019 der Fair Cobalt Alliance bei, die Kinderarbeit verbietet. Schliesslicht machen die Zuger bei der Responsable Minerals Initiative mit, zusammen mit ABB, Logitech, Mettler Toledo. Auch bei der Global Battery Alliance ist man dabei, mit Weltbank, NGO, Google, Volvo und der Genfer Trafigura. Deren Nachhaltigkeitsgrundsätze («Wir tolerieren keine Zwangs- oder Kinderarbeit in unserer Lieferkette») werden durch das Geneva Centre for Human Rights Advancement and Global Dialogue und die britische Auditfirma RCS Global überwacht. Im Report 2018 schreibt RCS Global, man habe drei Fälle von Kinderarbeit entdeckt, 2019 sank die Zahl auf null. Doch die Risiken bleiben. Dafür sorgen Chinas Kobalteinkäufer Moly und Huayou Cobalt. Sie sammeln im grossen Stil billige Tonnagen aus den Kleinstminen ein, in denen Tausende Kinder schuften. Die Waren gehen an Batteriebauer in China und Südkorea, um schliesslich in Elektronikware bei uns zu landen. Rückverfolgung oder Überwachung der Lieferkette: eine Illusion. Einen neuen Ansatz, um Kinder aus Kongos Minen zu drängen, wählte Trafigura. Sie setzte 2018 das Mutoshi-Kobalt-Projekt auf und schloss mit einer Kooperative einen Deal: Ihr dürft auf dem Trafigura-Konzessionsgebiet nach Kobalt graben und dieses uns verkaufen, aber nur mit Sicherheitsstandards und ohne Kinderarbeit. Experten wie Dorothée Baumann-Pauly, Direktorin am Center for Business and Human Rights der Uni Genf, begrüsst solche kreativen Ansätze. Weil Kleinstminen im Kongo eine Realität seien, müsse man Grundsätze wie Zutrittskontrollen, keine Kinderarbeit, Sicherheitsstandards und Zusatzjobs für Frauen durchsetzen. Das viel beachtete Experiment funktionierte: Die Zahl der Unfälle sank, die Kaufkraft der Familien stieg und die Kinderarbeit ging – auf null. Es sind also viele kleinere, unspektakuläre Schritte, welche Schweizer Firmen fernab in Afrika oder Asien tun, um Armut und Kinderarbeit auszumerzen. Nur berichtet wird darüber kaum.

So gehen Schweizer Unternehmen gegen Kinderarbeit vor

Das tun Schweizer Unternehmen gegen Kinderarbeit