Stabsübergabe bei Roche: Wo Thomas Schinecker als neuer CEO ansetzen wird

In Basel geht heute Dienstag eine Ära zu Ende. Severin Schwan, Roche-Konzernchef seit 2008 und damit einer der dienstältesten CEO im Index der Schweizer Börsenschwergewichte, dem SMI, wird Verwaltungsratspräsident. Seine Nachfolge an der Konzernspitze tritt Thomas Schinecker an, ehemals Chef der Diagnostiksparte. Der scheidende Langzeitkonzernchef übergibt ein Unternehmen, das sich in einer entscheidenden Phase befindet: Roche hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten als Pionier auf dem Feld der biologischen Therapien neue Massstäbe bei der Bekämpfung von Krebs gesetzt. Die drei Antikörper Herceptin, Rituxan/Mabthera und Avastin aus der Übernahme von Genentech haben massgeblich dazu beigetragen, dass die Onkologie heute das therapeutische Feld ist, auf dem mit Abstand am meisten geforscht und investiert wird – und das deshalb auch am stärksten umkämpft ist. Kaum ein anderes Unternehmen hat die Pharmaindustrie so nachhaltig geprägt wie Roche, nur wenige Pharmaunternehmen haben in den vergangenen Jahren derart zuverlässig Ergebnisse geliefert wie Roche. Das Unternehmen brummte auch dann noch, als die Patente für die drei Megablockbuster gegen Krebs abliefen. Die Umsatzeinbussen von bis jetzt 14 Milliarden Franken – gemessen an den Pharmaumsätzen von zuletzt gegen 46 Milliarden Franken sind das 30 Prozent – konnten durch neue Produkte wie das MS-Medikament Ocrevus oder die Blutertherapie Hemlibra mehr als kompensiert werden. Roche war das, was die Amerikaner einen «industry leader» nennen, ein Unternehmen, an dem sich eine ganze Industrie orientiert. Ob es Thomas Schinecker gelingen wird, das bisherige Tempo zu halten und wenn möglich zu steigern? Ob die Basler unter seiner Leitung weiterhin in der Lage sein werden, in der Industrie den Takt vorzugeben? Wo Roche heute steht und wo der neue Konzernchef ansetzen könnte – eine Analyse in drei Punkten: 1. Leadership Als Vas Narasimhan vor fünf Jahren bei Novartis übernahm, war klar: Dort bleibt kein Stein auf dem anderen. Ob Kultur, Strategie oder Positionierung, alles stand auf dem Prüfstand. In der grossen Rochade bei Roche dagegen stehen alle Zeichen auf Kontinuität: Ein krisenerprobter, erfolgreicher bisheriger Spartenchef übernimmt, der scheidende Konzernchef wechselt ins Verwaltungsratspräsidium. Doch der Chefwechsel bei Roche könnte mehr Veränderung mit sich bringen, als es nun den Anschein macht – der neue Konzernchef dürfte mehr Hebel in Bewegung setzen, als es die Inhouse-Stabsübergabe von Schwan zu Schinecker vermuten lässt; etwa bei der Führung des Unternehmens. Konzernchef Severin Schwan hat das Unternehmen eher klassisch geführt, mit möglichst viel Gestaltungsspielraum für die Einzelnen. Von Thomas Schinecker heisst es, dass er sehr nah am Geschäft sei, dass er stark mit Vorgaben führe und dass dies mit ein Grund sei, warum die Diagnostik unter seiner Leitung während der Pandemie einen derart guten Job gemacht hat. Dem studierten Molekularbiologen, der bei Ausbruch der Pandemie gerade mal ein halbes Jahr Amt war, gelang es, in Kürze ein milliardenschweres Geschäft mit Covid-Tests aufzuziehen, ohne dass das Basisgeschäft mit Diagnostika dabei in Mitleidenschaft gezogen worden wäre. Mehr noch: Das Basisgeschäft legte während der Pandemie gar kräftig zu. Zudem legte der Spartenchef mit dem Verkauf von Hunderten vollautomatischen Diagnostikmaschinen weltweit gleichzeitig, unter den erschwerten Bedingungen der Pandemie, die Basis für einen nachhaltigen Erfolg des Testgeschäfts post Covid. Mit seinem Leistungsausweis in der Pandemie hat sich der langjährige Roche-Manager definitiv für höchste Weihen empfohlen. Und dabei ganz nebenbei auch noch den Beweis erbracht, dass auch grosse Organisationen wie Roche Tempo können. Schinecker übernimmt ein Unternehmen, das viel weniger hierarchisch organisiert ist als noch vor ein paar Jahren. «Unboss» Severin Schwan hat sich anders als sein Kollege Vas Narasimhan von Novartis zwar nie als solchen bezeichnet, aber auch unter ihm wurden ganze Management-Levels aus den Organigrammen gestrichen, kreativer und um innovativer zu werden.Roche ist als wertvollster Pharmakonzern Europas entthront Während Jahren war Roche der unangefochtene Star der europäischen Pharmaindustrie: fokussiert, innovativ, erfolgreich und dynamisch – ein Überflieger; eine sichere Grösse inmitten von Mitbewerbern in Paris (Sanofi), London (GSK) und Leverkusen (Bayer), die mit strategischen Problemen und schwächelnden Aktienkursen kämpften. Zeitweise übertrumpften die Basler bei der Marktkapitalisierung sogar die Konkurrenz aus den USA, dem Pharmaland schlechthin. Noch im April vergangenen Jahres war Roche auf dem Weg, Nestlé als wertvollstes Schweizer Unternehmen abzulösen. Die Valoren des Pharmakonzerns flirteten mit der 400-Franken-Grenze, einige Analystinnen und Analysten trauten den Genussscheinen Werte von gegen 500 Franken zu – sprich eine Bewertung von mehr als 400 Milliarden Franken. Das sind Höhen, in denen sich sonst nur Megakonzerne wie Johnson & Johnson oder das Luxusgüterunternehmen LVMH tummeln, Letzteres der wertvollste europäische Konzern überhaupt. Nun hat sich das Blatt gewendet. Mehr dazu lesen Sie hier. Vom neuen Konzernchef wird erwartet, dass er den Fokus wieder stärker auf klare Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten legen und die Effizienz wieder mehr in den Vordergrund rücken wird. Wie das geht, hat er in der Diagnostiksparte gezeigt, wo er aus 48 verschiedenen Qualitätssicherungssystemen eines machte. Das zeigt: Der neue Konzernchef hat kein Problem damit, auch schwere Entscheidungen zu treffen, wenn er sie für richtig hält. 2. Organisation «Over my dead body» («Nur über meine Leiche»), sagte Severin Schwan einmal, als er gefragt wurde, warum er pRed und gRed, wie die beiden Forschungsorganisationen von Roche und Genentech heissen, nicht zusammenlege. Die vergleichsweise grosse Eigenständigkeit der beiden Forschungsorganisationen in Basel und San Francisco und auch die Selbstständigkeit der japanischen Chugai, von der ebenfalls immer wieder entscheidende Umsatzträger kommen, galt als entscheidender Erfolgsfaktor und war deshalb sakrosankt. Daran dürfte sich auch unter Schinecker nichts ändern. Eine zentral geführte Forschungsorganisation nach dem Vorbild der Novartis Institutes for Biomedical (Nibr) beim Basler Pendent Novartis wird es bei Roche auch unter ihm nicht geben. Aber die Erfahrung mit Schinecker als Diagnostik-Chef lässt vermuten, dass man einige Dinge wie etwa fundamentale Technologien künftig womöglich gemeinsam statt getrennt entwickeln wird. Dezentralisierung ja, aber so, dass die Organisation effizient bleibt: So könnte die Devise des neuen Konzernchefs aussehen. 3. Portfolio und Pipeline Jahrelang hiess es, Roche sei zu onkologielastig, das Portfolio zu wenig diversifiziert. In den vergangen Jahren hat sich das, auch unter dem Eindruck der Patentabläufe der drei grossen Krebsblockbuster, stark geändert. Roche ist heute ein breit aufgestellter Pharmakonzern mit einem bedeutenden Fussabdruck in der Neurologie, in der Hämophilie und in der Augenheilkunde. Dafür steht die bisherige Dominanz in der bisherigen Paradedisziplin, der Onkologie, auf der Kippe. In der Immunonkologie, einer neuen Generation von Therapien, die das körpereigene Immunsystem bei der Abwehr von Krebszellen unterstützen, ist die Leistungsbilanz des vormaligen Onkologiepioniers bis jetzt durchzogen. Mit Tecentriq haben die Basler zwar einen sogenannten Checkpoint-Inhibitor auf dem Markt. Das ganze grosse Geld in dieser Wirkstoffklasse aber machen andere wie etwa die amerikanische Merck (in Europa als MSD bekannt) mit ihrem Kassenschlager Keytruda oder die Bristol-Myers Squibb mit Opdivo. Nun geht es darum, ob das Unternehmen bei der nächsten Runde der Checkpoint-Inhibitoren wieder vorne mit dabei ist. Bis jetzt sieht es nicht gut aus, die ersten Studienresultate zu Tiragolumab waren negativ, die Behandlung mit dem neuen Medikament in Kombination mit Tecentriq und einer Chemotherapie zeigte keine signifikante Verbesserung. Nun richten sich alle Augen auf die Veröffentlichung weiterer Daten im ersten Halbjahr. Klar ist: Ein weiteres Scheitern wäre bitter und würde die Stellung von Roche in der Onkologie weiter schwächen. Roche hat kein gutes Jahr hinter sich, was die Pipeline angeht. Nicht nur bei Krebs, auch in der Neurologie gab es Rückschläge. Die erste Runde von Alzheimermedikamenten ging nicht an Roche, sondern an Eli Lilly und Biogen, der Wirkstoff von Roche floppte in einer der grössten Alzheimerstudien überhaupt. Doch die Chancen sind intakt, dass es sich dabei um eine nur vorübergehende Formschwäche handelt. Kein anderes Pharmaunternehmen lässt sich seine Forschung und Entwicklung (F&E) so viel kosten wie Roche. Das Unternehmen gibt fast einen Viertel seines Umsatzes für F&E aus. Zudem deutet einiges darauf hin, dass Roche bei der Suche nach neuen, vielversprechenden Startups einiges richtig macht. Das Roche-Partnering von James Sabry geniesst in Biotech-Kreisen einen hervorragenden Ruf. Von Biotech-Unternehmern ist immer wieder zu hören, sie hätten auf der Pharmaseite nie mit so kompetenten Ansprechpersonen zu tun gehabt wie bei Roche. Konkrete Erfolge gibt es allerdings auch. So ist etwa Vabysmo auf gutem Weg, ein neues Medikament zur Behandlung der altersbedingten Makuladegeneration (AMD), einer chronischen Augenerkrankung und eine der häufigsten Ursachen für den Verlust der Sehkraft im Alter. Zudem hat das Unternehmen zusammen mit dem amerikanischen Biotech-Unternehmen Sarepta eine Gentherapie gegen Duchenne Muskeldystrophie (DMA) am Start. DMA ist eine genetisch bedingte, seltene Muskelerkrankung, die vor allem Jungen betrifft und bis jetzt nicht geheilt werden kann. Gut möglich also, dass das negative Sentiment, das derzeit auf dem Kurs der Roche-Valoren lastet, ebenso wenig gerechtfertigt ist wie die Euphorie, welche die Aktien noch vor einem Jahr in die Höhe trieb.

Stabsübergabe bei Roche: Wo Thomas Schinecker als neuer CEO ansetzen wird

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