Steil-Pass am Berg

Achtzig Minuten. So lange musste die kleine Kirsten Lynch jeweils auf der Rückbank zappeln, bis sie im elterlichen Auto in Wilmot Mountain angelangt war. Dort, im Kenosha County, Wisconsin, begann Klein-Kirsten mit Skifahren. Was für das City-Girl aus Chicago mit sechs Jahren am kleinen Skihügel anfing, ist bis heute ihre Passion geblieben. Auch beruflich. Im Job ist Lynch auf dem höchsten Berg angekommen. Seit November ist sie Chefin von Vail Resorts, dem weltweit führenden Skigebietsbetreiber und jenem Unternehmen, das sich seit dieser Woche erstmals auch in Europa zeigt. Der US-Skiriese übernimmt von Alpenpharao Samih Sawiris die Mehrheit an der Andermatt-Sedrun Sport AG. Lynch will das heute noch zweitklassige Skigebiet zur «erstklassigen Destination» machen. Fondsriesen im Aktionariat Ein börsenkotierter US-Konzern (Ticker: MTN) am Skihügel, ein Zweimilliardenkonzern mit dem Vermögensverwalter T. Rowe Price Associates und den Fondsriesen Vanguard und Blackrock im Rücken – das ist neu für die Schweiz. Auch die Weisse Arena Gruppe mit Sitz in Laax war an Andermatt interessiert, wie deren Präsident und VR-Delegierte Reto Gurtner sagt: «Wir haben einen Einstieg in Andermatt intern diskutiert. Aber anders als Vail Resorts fehlte uns die Finanzkraft dazu.» Während Bergbahnsheriffs hierzulande ihren Weg meist durch die touristischen Institutionen zurücklegen, hat sich Vail-Resorts-CEO Lynch ganz anders hochgeschwungen: Über Marketingstationen bei Ford, Kraft Foods, Pepsi und dem Modeversender Stitch Fix kam sie zum Skiriesen. Kaum war Lynch 2011 im Marketing von Vail Resorts angetreten, zollte ihr «Forbes» hohes Lob: Als Chefin von 550 Marketeers beim Master of the Universe der Skiwelt verwandle das einstige City-Girl aus Chicago «Pisten in digitale Marketingmaschinen». Herzstück des Geschäftsmodells von Vail Resorts ist der «Epic Pass», so etwas wie die Mutter aller Skipässe. Er bietet Wintersportenthusiasten praktisch unlimitierten Zugang zu allen Skigebieten der Gruppe. In den USA, in Kanada, in Japan, in Europa – und bald auch in Andermatt und Sedrun. In der All-inclusive-Variante kostet die epische Saisonkarte aktuell im Vorverkauf 841 Dollar, umgerechnet also rund 785 Franken. Ein absolutes Schnäppchen, wenn man bedenkt, was das Angebot alles umfasst: Es ist ein quasi-globalisiertes Skiticket, eine Rabattkarte für Verpflegung auf und neben den Pisten und verschafft den Inhaberinnen und Inhabern vergünstigte Übernachtungen, Transfers sowie Skimieten. Und die Möglichkeit, Freundinnen und Bekannte zum Skifahren einzuladen. Zum Vergleich: Auf dem Flumserberg kostet die Saisonkarte 895 Franken. Vor allem aber ist der Epic Pass ein Schnäppchen, wenn man bedenkt, dass eine simple Tageskarte in Vail – dem beliebtesten Skigebiet in den USA – durchaus 200 Dollar kosten kann, in der Weihnachtssaison gar mehr. Solche Preise für Tagestouristen lassen selbst Schweizer Touristikerinnen in teuren Skigebieten wie St. Moritz oder Zermatt vor Neid erblassen. Das Netflix des Skifahrens In den letzten zehn Jahren ist es Vail Resorts mit dieser Strategie gelungen, den Umsatz mit Epic-Pässen von 135 Millionen Dollar auf 795 Millionen Dollar zu vervielfachen. Das entspricht rund 62 Prozent des Umsatzes. Erklärtes Ziel von Chefin Kirsten Lynch ist es, diesen Anteil weiter zu steigern. Konkret auf 75 Prozent. Im Kern ist der Epic Pass eine kalkulierte Verführung der Kundinnen und Kunden, die dem Unternehmen erstens Zugang zu deren Daten verschafft, die zweitens sicherstellt, dass die Kundschaft dank frühzeitiger Bezahlung mithilft, Investitionen vorzufinanzieren, und die drittens das Geschäft langfristiger kalkulierbar plus unabhängiger macht von den Launen des Wetters. Viertens schliesslich verhindert die Pass-Strategie, dass Kunden und Kundinnen in anderen Skidestinationen fremdgehen. Reto Gurtner von der Weissen Arena in Laax nennt den Epic Pass das «Netflix des Skifahrens». Die «Secret Sauce» des Erfolgs des weltweiten Skipasses der Vail Resorts charakterisiert Gurtner so: «Sie setzen die Preise ihrer Tageskarten mit bis zu 200 Dollar prohibitiv hoch an, sodass es für die Kunden und Kundinnen schnell günstiger wird, einen Jahrespass zu lösen. Was das Unternehmen früh mit Liquidität versorgt.» Vail Resorts hält einmal gewonnene Kundinnen und Kunden per Epic Pass mit immer neuen Angeboten bei der Stange und kommt so leichter zu Abo-Erneuerungen, auch wenn die Preise Jahr für Jahr sanft ansteigen. Solange der Deal – bei Vail Resorts ist es fast unlimitiertes Skifahren, bei Netflix fast unlimitiertes Filmentertainment – so episch gut ist, zahlt die Kundschaft einfach weiter und weiter. Den Epic Pass gibt es – noch eine Parallele zu Netflix – notabene auch im Monats-Abo. Will heissen: Er lässt sich in wenig schmerzhaften Monatsraten bezahlen. Alles aus einer Hand am Berg Anders als die meisten Skigebiete in der Schweiz ist Vail Resorts auch darum bemüht, wenn immer möglich gleich alle Dienstleistungen am Berg selber zu steuern und so aus einer Hand anzubieten. Ein Modell, wie man es hierzulande einzig von der Weissen Arena Gruppe (WAG) kennt: «Gleich wie diese grossen Resorts decken wir alle Dienstleistungen aus einer Hand ab. Wir backen einfach kleinere Brötchen als die US-Amerikaner», sagt Reto Gurtner. Die Vorteile des integrierten Modells liegen für ihn auf der Hand: «Der Berg lebt vor allem von urbanen Gästen. Diesen muss man den Reservationsprozess so einfach wie möglich machen. Das gelingt am besten, wenn man alles aus einer Hand anbieten kann.» Gurtner begrüsst den Schweizer Einstieg der US-Amerikaner, auch wenn er wegen zu geringer finanzieller Feuerkraft in Andermatt selber nicht anbügeln konnte: «Ich finde das ein positives Zeichen, wenn ein solches Unternehmen in der Schweiz investiert. Vail Resorts wird klug genug sein, um zu verstehen, dass sich der lokale Spirit in Andermatt nur erhalten lässt, wenn der Ort von der Bevölkerung mitgetragen wird.» Zermatt arbeitet mit einem anderen US-Pass Mit dem Einstieg der US-Amerikaner in Andermatt ist auch das Ansinnen verbunden, in die Sphären von ikonischen Schweizer Destinationen wie St. Moritz und Zermatt aufzusteigen. Orte, die nicht amerikanisch organisiert sind, sondern im typisch kleinzelligen Schweizer Modus arbeiten. Hier die Skischule, dort die Bergbahn und der Gastronom – zwar alle in der gleichen Destination tätig, aber in erster Linie auf den eigenen Geschäftserfolg bedacht. Ein Auslaufmodell, das nun von den Gordon Gekkos der Skiwelt zum Schnee von gestern gemacht werden könnte? Nein, sagt Franz Julen, Präsident der Zermatt Bergbahnen, die mit 280 Mitarbeitenden, 36 Transportanlagen und 200 Pistenkilometern im ganzen Alpenraum als eine Leuchtturmunternehmung gilt: «Wenn Gastronominnen, Hoteliers und Dienstleisterinnen jeden Tag für ihre eigene Bilanz kämpfen, stärkt dies Unternehmertum und Innovation am Berg und im Tal. Wir rücken nicht ab von dieser Strategie.» Das original schweizerische Vorgehen des internen Wettbewerbs, sagt Julen, «mag manchmal etwas teurer und weniger effizient sein, doch die positiven Resultate wiegen das mehr als auf». Man habe in Zermatt zwar viel Respekt vor Vail Resorts, aber abbringen von der eigenen Piste lasse man sich deswegen nicht: «Unabhängig davon werden wir unsere Investitions- und Qualitätsstrategie konsequent weiterführen, investierten wir doch in den letzten zwanzig Jahren mehr als 600 Millionen Schweizer Franken.» Und in bester Unternehmerart fügt Julen an: «Der Respekt, den wir vor Vail Resorts haben, spornt uns an, noch besser zu werden.» Auch in Zermatt spürt man die Wirkung der weltweit gültigen Skipässe. Man ist dort dem «Ikon Pass» der Alterra Mountain Company angeschlossen, was sehr erfolgreich laufe, sagt Julen: «Unsere Erwartungen wurden bei weitem übertroffen. Es sind vorwiegend Mehrtagespässe und wir erhalten einen fairen Preis für jeden US-Touristen, jede US-Touristin, die unsere Bahnen mit dem Ikon Pass nutzt.» Was für den stolzen Zermatter aber auch klar ist: «Eine Unternehmensbeteiligung kommt für uns nicht infrage, wir wollen unsere Unabhängigkeit behalten.» Kirsten Lynch wird derweil weiter ihre Marketinglawinen lostreten. Auch wenn die Wall-Street-Schneestrategen von Vail Resorts vor allem für ihre grossen Skigebiete wie Beaver Creek, Breckenridge oder Whistler bekannt sind, haben sie auch ein Auge auf kleinere Resorts. «Das Wachstum wird aus Schneesportgebieten kommen, die nahe bei Städten liegen. Dort lernen Eltern und ihre Kinder das Skifahren zuerst», sagte Lynch kurz nach CEO-Stellenantritt gegenüber Bloomberg. Und meinte damit wohl auch Wilmot bei Chicago, wo sie als City-Kid zu den Brettern fand, die für sie die Welt bedeuten. Wem das Wilmot-Resort gehört? Seit 2016 einem wichtigen Player, von dem man in der Schweiz wohl noch mehr hören und spüren wird: Vail Resorts.