Tina Turner in Stäfa: Der Run auf die Villen am Zürichsee

Verschneite Alpengipfel hoch überm Glitzerwasser, Nebelschwaden, von milder Wintersonne durchstochen: Wer einen freien Platz auf der roten Sitzbank auf dem Weinberg in Stäfa-Uerikon ergattert, könnte sich an der Zürichseefernsicht laben. Doch statt in die Ferne starren hier alle auf das, was unten am seeseitigen Ufer steht. Und in allen Zeitungen der Welt. Der Scoop der «Handelszeitung» vom 20. Januar zur spektakulären Immo-Investition von Tina Turner katapultierte CH-8713 Uerikon in die Weltpresse. «Washington Post» und «Fox Business» berichteten ebenso wie «Taiwan News» und «Daily Mail». Den Stäfner Stadtpräsident Christian Haltner, FDP, erreichten «Rückmeldungen aus aller Welt, bis nach Hongkong». Selbst die «Northwest Arkansas Democrat-Gazette» depeschierte, was die Queen of Soul und ihr Gatte on Lake Zurich jüngst eingetütet haben. Ein «Massive Swiss Holiday Home», ein Zehn-Häuser-Anwesen mit Teich, Pool, Schiffsteg – und eindrücklichem Preisschild. 76 Millionen Dollar, that is, 70 Millionen Franken. Rushhour auf dem Tina-Bänkli Seit dem 20. Januar sind die Plätze knapp auf der roten Bank. Wer zwischen Stäfa, Hombrechtikon und Feldbach promeniert, hält in Uerikon-On-the-Hills inne, will seinen Blick schweifen lassen über Tinas Landgut Steinfels. Rushhour auf der Sitzgelegenheit, die von Eingeborenen bereits einen Namen erhalten hat: «Tina-Bänkli». Im Gegensatz zum roten Platz in der ersten Reihe trägt der Zürichseeküstenabschnitt, auf den Tinas Geldstrahl traf, (noch) keinen Namen. Selbst eingefleischte Zürihegel haben Mühe, Uerikon auf einer Karte einzuzeichnen. Ueri what? Bisher lief dieses Gebiet weitgehend unter dem Radar. Mit Ausnahme des viel beachteten Mega-Eigenheims von Roger Federer galt für den Abschnitt zwischen Meilen und Rapperswil: simply the rest. Eine Seltenheit an einem See, der Heimat ist für die Schönen, die Reichen und die reichen Schönen. Ein See mit ständig wachsender Wohnbeliebtheit, hochschiessenden Preisen und einem Immo-Branding der Sonderklasse. Ein See wie ein Wertpapier, ein seltener Valor aus Growth und Value. Am bekanntesten ist die Goldküste mit ihren Hotspots Küsnacht, Erlenbach und Herrliberg. Luxusimmobilien waren hier schon immer sehr teuer – und schossen in den letzten zwei Jahren noch einmal zweistellig in die Höhe. Gegenüber der Goldküste liegt die volkstümlich bekannte «Pfnüselküste», die infolge anziehender Immo-Preise immer mehr zur Silberküste avanciert. Gefolgt von der sogenannten Platinküste im Kanton Schwyz, wo Bauernhäuser und die Villen des Geldadels Hochzeit halten. Übertroffen nur noch vom kleinen Flecken Hurden, ein Miami Beach des Zürisees, vollgestellt mit Gourmetbeizen und Nobelvillen. Einer, der die Anatomie des Zürichsees gut kennt, ist Roger Bataillard, bis 2019 langjähriger Herausgeber des Zürichsee-Magazins «Seesicht», aufgewachsen in Männedorf, keine zehn Kilometer entfernt vom turnerschen Landgut. Seebub Bataillard sieht die Verhältnisse am rechten Ufer des Zürichsees so: «Die Goldküste zieht sich von Zürich-Tiefenbrunnen bis zur Fährstation Meilen – danach kommt es zu einem Kulturschnitt.» Diva-Coast und Roger-Coast Auf der Küstenlinie von Meilen nach Rapperswil, also dort, wo Turner-Bach nun zugeschlagen haben, falle die Ausrichtung nach Zürich weg, «die Leute dort sind bodenständiger und geerdeter, das Vereinsleben ist wichtig, man protzt nicht». Ein zugezogener CEO, sagt Bataillard, werde sich kaum für diesen bisher namenlosen Abschnitt interessieren, sondern «wird immer eher nach Küsnacht statt nach Stäfa oder Hombrechtikon streben». In Ermangelung einer besseren Idee sei es okay, den Abschnitt zwischen Meilen und Feldbach «Diva-Coast» zu nennen. Immerhin lebt Opern-Diva Cecilia keine hundert Meter entfernt vom neuen Anwesen der Soul-Diva. Der Abschnitt zwischen Feldbach und Rapperswil SG mit Referenzpunkt Roger Federer geht als «Roger-Coast» durch. Wer diese Küste und die Hänge obendrüber erkundet, wird es schnell merken: An der Diva- und der Roger-Coast herrscht ein anderer Groove als an der Goldküste. Häufen sich in den oberen Lagen von Küsnacht, Erlenbach und Herrliberg die Villen, so dominieren in Männedorf und Stäfa eher Bauernhäuser. Hängematte statt Whirlpool, Mobility statt Maserati, einkaufen im Volg statt in der Globus-Delicatessa – so ist der Lifestyle der Menschen dort getaktet. «Wer zwischen Meilen und Rapperswil ein Haus hat, ist in der Regel kein Expat, sondern hat die Immobilie geerbt, lebt dort, stirbt dort – und vererbt sein Haus weiter», sagt Bataillard. Küsst Tina eine ganze Küste wach? Doch das könnte sich nun ändern. Der spektakuläre Deal in Uerikon könnte Sogwirkung entwickeln; Frau Turners Landgut hat das Zeug, eine Art Immo-Superspreader-Effekt zu entwickeln, wie Zürichsee-Connaisseur Bataillard glaubt: «Eines jedenfalls ist klar: Günstiger wird der Boden dadurch sicher nicht.» Was Bataillard sagt, spiegelt sich in den Zahlen am Zürichsee. Überall ums Gewässer sind die Preise für ein einfaches Einfamilienhaus in den letzten zwei Jahren hochgeschossen. Nicht nur in Topgemeinden wie Küsnacht, Erlenbach und Herrliberg, sondern auch in Kilchberg, Thalwil oder Oberrieden an der Pfnüselküste über 10 Prozent. Das turnersche Weekend-Refugium in Stäfa könnte eine ganze Küste wachküssen, glaubt auch Claude Ginesta von Ginesta Immobilien: «Promis haben eine Sogwirkung. Auch reiche Menschen wollen gerne eine Celebrity als Nachbarn haben.» Seesicht, milde Steuern, Stadtnähe: Diese Ingredienzien ziehen Promis aus Nah und Fern an. Auch die Einführung der Pauschalbesteuerung konnte den Boom nicht stoppen. Und selbst die Corona-Krise brachte keinen Einbruch. Im Gegenteil. Die Preise explodieren, obwohl sie bereits in den vergangenen Jahren stark gestiegen sind. Innert zwei Jahren verteuerten sich Luxusimmobilien im zweistelligen Prozentbereich. Allen voran Küsnacht, mittlerweile das teuerste Pflaster an der Goldküste. Dort muss für eine Luxusvilla mindestens 34 Millionen auf den Tisch geblättert werden. Und wenn, dann meist unter den Hand. Dafür weiss man sich dann in guter Gesellschaft – mit der Industriellenfamilie Jacobs, Philippe Gaydoul oder dem Verleger Michael Ringier, die alle in Küsnacht sesshaft sind. In Erlenbach sind die Preise noch stärker angestiegen. Dort bezahlt man für eine Topresidenz inzwischen 13 Millionen. Dafür lebt man Tür an Tür mit Lindt-&-Sprüngli-Chef Ernst Tanner oder Grossmolkereibesitzer Theo Müller. Kein Platz an der Goldküste? Dann halt weiter oben Die Tragbarkeit für Normalverdienende ist längst nicht mehr gegeben. Selbst ein Bundesrat kann sich nur knapp ein Plätzchen an der Goldküste leisten. Schuld ist das limitierte Angebot. «In der Nähe der Stadt Zürich finden Sie fast keine grossen Grundstücke mehr», sagt Gerhard Walde von Walde Immobilien, «vor allem aus diesem Grund weichen vermögende Leute nach Stäfa oder Meilen aus.»Mehr zum Run auf den Zürichsee Tina Turner kauft sich ein exklusives Landgut «Nichtmal ein Bundesrat kann sich die Goldküste leisten» Die Reichsten der Schweiz 2021 In der Not siedeln sich Seefans auch dort an, wo die Dichte an Porsche Cayennes, Maseratis und Teslas noch schockierend tief ist: «Wenn sie weiter oben am See etwas Passendes finden, kaufen sie lieber dort.» Da es langsam eng wird, weicht die Käuferschaft auf Gegenden aus, die früher nicht so trendig waren, etwa ans ferne See-Ende, das auf St. Galler Kantonsgebiet liegt, wo man noch die Pauschalbesteuerung kennt. Ganz in der Nähe von Tina Turners Grundstück wurde Tennisstar Roger Federer fündig. Er kaufte in Rapperswil-Jona ein 16’000 Quadratmeter grosses Grundstück für geschätzte 50 Millionen Franken. Dort baut er, direkt am See, ein Anwesen mit mehreren Gebäuden, inklusive Schulhaus für die Kinder. Dies nur einen Steinwurf vom brasilianisch-schweizerischen Bierkönig Jorge Lemann entfernt (die «Bilanz» schätzt ihn zwischen 17 bis 18 Milliarden Franken schwer). Praktisch, dass der Multimilliardär ebenfalls passionierter Tennisspieler ist und sich Roger auf dem Rasentennisplatz seines Nachbarn, versteckt hinter breiten Thujahecken und Bäumen, für Wimbledon-Turniere vorbereiteten konnte, während seine eigenen Tennisplätze noch gebaut werden. Dabei gilt die Roger-Coast längst als Geheimtipp in Industriellenfamilien. Am Millionärshügel wohnt die Familie Gebert, die mit dem Sanitärkonzern Geberit reich geworden ist, die Familie Vögele oder die Unternehmerin Franziska Tschudi Sauber, die das Technologieunternehmen Weidmann führt. Ein See hebt ab Der Stäfner Gemeindepräsident Haltner, stolz auf die neue Weekend-Zuzügerin Tina Turner, schildert die geopolitische Preiswelle am Zürichsee so: In den 1970er Jahren habe der Boom an der Goldküste in Küsnacht und Zollikon eingesetzt, im Jahrzehnt darauf seien Erlenbach und Herrliberg erfasst worden, zur Jahrtausendwende sei Meilen dran gewesen. «Und jetzt ist Stäfa en vogue.» Prognose von Haltner, der eine finanziell kerngesunde Gemeinde regiert, die jährlich 16 Millionen Franken in den kantonalen Finanzausgleich steckt: «Bis 2030 wird die ganze Seeseite bis Rapperswil vom Boom erfasst sein.» Manche Leute in Uerikon und anderswo nehmen das Wort «Gentrifizierung» in den Mund. Sprich: Wenn das so weitergeht, können sich normal begüterte Seebuben und Seemädchen ein Leben an der Diva- oder der Roger-Coast nicht mehr leisten. Nicht ganz so bullish zeigt sich Donato Scognamiglio. Der Immobilienspezialist bezweifelt, dass Stäfa nun zum Promimagneten werden könnte. «Stäfa ist simply not the best», sagt der Chef der Firma Iazi, die exklusiv für die «Handelszeitung» die Preisentwicklungen am Zürichsee erhoben hat. «Tina Turner kaufte riesiges Anwesen, ein solches Seegrundstück gab es nun mal nur noch in Stäfa». An der Goldküste, so Scognamiglio, «geht es längst nicht mehr darum, wo man hin möchte, sondern wo man noch etwas bekommt». Dort schlage man selbst bei einem Landgut in der Landwirtschaftszone zu, «bei dem der Grossteil der Gebäude unter Denkmalschutz steht». «Die Ruhe zieht das Leben an» Was Scognamiglio vermutet: «Tina Turners Berater wird vermutlich gesagt haben, dass man am Zürichsee nichts falsch machen könne. Selbst bei 70 Millionen. Das dürfte allein der Boden an dieser exklusiven Lage wert sein.» Solche Überlegungen spielen auf dem Tina-Bänkli keine Rolle. Wer sich hier hinsetzt, labt sich an der Aussicht über das turnersche Anwesen. An diesem Ort haben nicht Makler, Immo-Strateginnen oder reiche Zuzüger das letzte Wort. Sondern Gottfried Keller. Wer sich beim Erheben vom Tina-Bänkli in Uerikon umschaut, entdeckt die Inschrift des Zürcher Dichters, die da auf der Querverstrebung prangt: «Die Ruhe zieht das Leben an.»