Abstimmung zur Elternzeit: «Männer sind ein wichtiger Hebel für Gleichstellung»

Sie setzen sich als Organisationsberater in Unternehmen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für alle Geschlechter ein. Was bedeutet Gleichstellung für Sie? Aus der Sicht der Arbeitgeberin oder des Arbeitgebers, dass es keinen Unterschied mehr ausmacht, ob man einen Mann oder eine Frau einstellt. Für die Elternpaare, dass sie Wahlfreiheit haben und frei von äusseren Erwartungen entscheiden können, wie sie sich Beruf und Familie untereinander aufteilen. Und nicht ungewollt in die Traditionsfalle tappen. Wir schauen beim Thema Gleichstellung viel auf die Frauen in der Erwerbsarbeit, und das unterstütze ich auch. Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass Männer ein wichtiger Hebel sind, um Gleichstellung und Wahlfreiheit für alle wirklich zu erreichen. Inwiefern? Der Wandel im Verständnis des Mann- und Vaterseins ist zentral. Nur wenn Männer ihren Teil der Verantwortung für die Care-Arbeit zum Beispiel in der Familie übernehmen, können Frauen auch in der Erwerbsarbeit gleichberechtigt werden. Wenn Väter mehr Verantwortung in der Familienarbeit einnehmen, wird sich auch der Anteil von Frauen in Führungspositionen noch besser entwickeln. Wir brauchen in den Unternehmen – auch in Führungspositionen – mehr Männer, die wissen, was es bedeutet, im Familienalltag die volle Verantwortung zu haben. Am Sonntag wird im Kanton Zürich über die Einführung einer Elternzeit abgestimmt. Diese gibt es in Deutschland schon seit 15 Jahren. Trotzdem nimmt sich dort nur ein Teil der Männer Elternzeit und dann meist nur das Minimum von zwei Monaten. Auch den Vaterschaftsurlaub von zwei Wochen, der Schweizern seit Anfang Jahr zur Verfügung steht, nimmt sich nur die Hälfte der Väter. Hier spielen viele Faktoren eine Rolle. Wandel braucht Zeit. Wichtig ist: Mindestens ein Teil der Väter nimmt sich den Vaterschaftsurlaub oder die Elternzeit nicht, weil sie negative Konsequenzen im Arbeitsumfeld fürchten. Diese Befürchtungen sind leider oft begründet. Das müssen wir ändern. Dass sich Väter um ihre Familie kümmern, muss etwas völlig Normales werden. Reto Kessler ist Organisationsberater und Leiter des Väternetzwerkes Schweiz, das es hierzulande seit 2021 gibt. Was lässt Sie hoffen, dass sich die Elternzeit im Kanton Zürich anders entwickeln könnte? Es wäre eine gute Sache, wenn die Elternzeit eingeführt würde. Sie bedeutet Unterstützung für Familien in der vulnerablen Phase der Familiengründung. Sie bietet Paaren die Möglichkeit, sich gut auf die neue Situation einzustellen, und dem Vater, seine Position in der Familie zu finden. Untersuchungen zeigen, dass egalitäre Paar Turbulenzen viel besser meistern. Davon profitieren letztlich alle: die Partnerschaft, die Kinder und wir als Gesellschaft. Wenn ich persönlich wählen dürfte, würde ich die Elternzeit für beide Elternteile verpflichtend machen, sodass beide jeweils die Hälfte der Zeit alleine zu Hause die Verantwortung übernehmen. Es geht um eine bessere Verteilung des Mental Loads zwischen Mutter und Vater. Es ist ein Unterschied, ob man die Partnerin im Familienalltag unterstützt oder die volle Verantwortung dafür übernimmt. Mit dem Kind zum Zahnarzt zu gehen, ist eine gute Unterstützung. Daran zu denken, dass es einen Termin beim Zahnarzt braucht, den Termin zu koordinieren, einzutragen, an die Spange und die Zahnbürste zu denken – das heisst, Verantwortung zu übernehmen. Wenn der Vater die Verantwortung im Familienalltag übernimmt, entlastet er seine Partnerin wirklich. So hält er ihr den Rücken frei für ihre Aktivitäten oder Karriereziele. Zudem wird der Vater im Alltag vieles anders machen als die Mutter. Der Vater kann so seinen eigenen Weg finden – und die Kinder erleben so: Es gibt verschiedene gute Herangehensweisen. Das ist für die Väter und die Kinder wertvoll. Die Aufteilung der Kinderbetreuung und der Aufgaben im Haushalt hält sich aber hartnäckig. Selbst wenn beide Eltern Vollzeit arbeiten, übernimmt die Mutter statistisch gesehen mehr Aufgaben zu Hause. Die traditionelle Arbeitsteilung hat sich jetzt 250 Jahre einspielen können. Logisch, braucht die Umverteilung Zeit. Es gibt mehrere Hebel. Meine Idealvorstellung wäre, dass beide Partner 60 Prozent arbeiten, wenn die Kinder klein sind, und die Verantwortung für den Haushalt und die Betreuung von Kindern oder Angehörigen zu gleichen Teilen übernehmen. Aber es geht nicht darum, den Paaren zu sagen, wie sie es machen sollen. Es geht um Wahlfreiheit. Jedes Paar soll für sich entscheiden können, was für beide passend ist – auch langfristig. Wichtig ist, dass der Vater nicht nur für «Quality Time» am Abend oder Wochenende zuständig ist, während er Haupternährer bleibt. Sondern dass er mit den Kindern auch den Alltag bestreitet. Dieses Idealmodell braucht viele Voraussetzungen. Das funktioniert für einen kleinen, privilegierten Teil, aber nicht für die Mehrheit der Eltern. Man schaut beim Vergleich der Familienmodelle immer aus der heutigen Perspektive darauf, was es dafür braucht. Wichtig ist auch, darauf zu schauen, wie man diese Modelle erleichtern kann und was man dabei alles gewinnt. Bei dem Vergleich überwiegen die Vorteile egalitärer Familienmodelle um Längen. Denn auch das traditionelle Familienmodell hat viele Voraussetzungen. Es muss zum Beispiel einer der Partner genug verdienen, damit der andere zu Hause bleiben kann. Familien, die sich das leisten können, sind privilegiert. Alle andere müssen irgendwie die Kinderbetreuung organisieren. Das ist in der Schweiz nicht einfach. Und das traditionelle Familienmodell hat viele Nachteile, von denen man manche erst viel später wahrnimmt. Welche? Die ungleiche Verteilung des Mental Loads und den gegenüber egalitären Paaren schlechteren Umgang mit Turbulenzen haben wir bereits erwähnt. Hinzu kommen schlechtere Karrierechancen, Gender-Pay-Gap und Pension-Gap zum Nachteil der Frauen. Aber das Modell hat auch gewichtige Nachteile für die Männer, die oft übersehen werden: Im Allein- oder Haupternährermodell sind der Leistungs- und Erfolgsdruck auf den Vollzeit arbeitenden Elternteil sehr gross. Und dadurch ist der Handlungsspielraum mitunter eingeschränkt. In Familien, in denen beide zum Erwerbseinkommen beitragen, kann man sich eher mal neu orientieren, überlegen, was man wirklich will, eine Phase mit niedrigerem Einkommen in Kauf nehmen oder Aufgaben angehen, die eine Herzensangelegenheit, aber vielleicht nicht unbedingt gut bezahlt sind. Für die meisten Menschen bedeutet das sehr viel. Und viele Väter wünschen sich, wenn ihre Kinder älter sind, mehr Zeit mit ihnen verbracht zu haben. Die besonders erlebnisreiche Kleinkindphase ist ja relativ schnell vorbei. All diese Möglichkeiten nicht genutzt zu haben, ist für viele Männer in der Rückschau schmerzhaft. Was halten Sie davon, wenn Unternehmen mit den Angeboten für Eltern um Personal werben? Das ist gerade in Zeiten des Fachkräftemangels hilfreich. Und viele Organisationen entwickeln hier tolle Ideen. Allerdings ist wichtig, dass die Unternehmen Angebote machen, die von Müttern und Vätern gleichermassen angenommen und umgesetzt werden. Dann existiert Familienfreundlichkeit nicht nur auf dem Papier, sondern wird glaubhaft nach aussen vertreten. Davon profitieren die Mitarbeitenden. Und das Unternehmen kann sich damit glaubhaft positionieren. Dabei spielt die Firmenkultur eine grosse Rolle. Eine familienfreundliche Unternehmenskultur erkennen Sie zum Beispiel daran, dass Führungspersonen sagen: ab 17 Uhr gehen bei mir keine Meetings mehr, da hole ich mein Kind in der Kita ab. Oder wenn es üblich ist, dass auch Männer, die Teilzeit arbeiten, Karriere machen. Wenn diese Role Models fehlen und Teilzeitangestellte keine Karriereschritte machen, werden die Väter Angebote zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf aus nachvollziehbaren Gründen nicht nutzen. Wie interessieren Sie Männer für das Thema Vereinbarkeit? Männer interessieren sich sehr wohl für Themen der Vereinbarkeit. Was wir in Unternehmen allerdings häufig sehen, ist etwa ein Elternnetzwerk, an dem 57 Frauen und 3 Männer teilnehmen. Dann heisst es, Männer seien nicht interessiert. Der wahre Grund ist: Meist fühlen sie sich nicht angesprochen. Das hat zum Teil mit den Angeboten der Unternehmen, die eher auf Mütter zugeschnitten sind, zum Teil aber auch einfach mit dem Selbstverständnis der Männer bei der Arbeit zu tun. Sie sprechen in der Arbeit kaum über Familie. Da müssen wir anders herangehen. Wie? Wir erarbeiten mit den Unternehmen, wie sie an die Realität der Väter anknüpfen. Denn Männer wollen gute Väter und gute Arbeitnehmer sein. Es braucht sprachliche Veränderung. Wir betonen zum Beispiel den Leistungsgedanken und sprechen von «Vereinbarkeit von Karriere und Familie» statt von «Beruf und Familie». Angebote müssen gut in den meist sehr dichten Arbeitsalltag integriert werden können und einen Nutzen aufweisen. Und wir vernetzen die Väter im Unternehmen untereinander und mit anderen Communities. Der Austausch untereinander wird von Vätern sehr geschätzt. Dabei sprechen wir Themen an, die für Väter wichtig sind. Während der Pandemie zum Beispiel: Wie organisiere ich als Vater dreier Kinder mein Homeoffice? Wie gehen alleinerziehende Väter mit ihrer Situation um? Die Väter tauschen Erfahrungen und Tipps aus. Oder aktuell: Wie spreche ich mit Kindern über Krieg? Gute Erfahrung haben wir mit praktischen, kurzen Formaten gemacht wie mit unserem Morning Café, das ist ein kurzer Impulsvortrag am Morgen. Oder mit Outdoor-Anlässen gemeinsam mit den Kindern an einem Samstag. Findet denn Wandel statt? Ja, es geht in eine gute Richtung. Wandel ist spürbar und wir sehen die Veränderung in den Zahlen. Allerdings vollzieht er sich bei uns in der Schweiz sehr langsam. Es könnte deutlich schneller gehen (lacht). Und es gibt noch viel zu tun. Dass sich viele Männer heute einen Papitag nehmen, ist eine Veränderung und ein Zeichen dafür, dass sich etwas bewegt. Auch wenn man hier aufpassen muss – wenn der Mann 80 Prozent arbeitet und die Frau noch deutlich weniger, bleiben viele der genannten Nachteile und Risiken bestehen. Das traditionelle Alleinernährermodell bleibt, als Haupternährermodell mit einer leicht anders gelagerten Verteilung. Wenn wir echte Wahlfreiheit und Gleichstellung für beide Elternteile erreichen wollen, führt kein Weg an einer egalitären Aufteilung der Care-Arbeit vorbei. Fünfzig-fünfzig als echte Option für alle ist das Ziel.

Abstimmung zur Elternzeit: «Männer sind ein wichtiger Hebel für Gleichstellung»

«Dass sich Väter um ihre Familie kümmern, muss etwas völlig Normales werden»