An beide Seiten im Bewerbungsprozess: Hört auf zu übertreiben!

Du sollst nicht lügen. Eingetrichtert wird einem der Spruch als Kind. Vergessen, sobald man erwachsen ist. Warum? Weil wir erkennen, dass die Welt nicht nur schwarz und weiss ist, sondern ein ungleich grösseres Spektrum an Grautönen aufweist. Entsprechend verhält es sich auch mit dem Lügen: Komplett schwarze Lügen, die nichts mehr mit der Wahrheit zu tun haben, sind ein No-Go. Eine etwas geschönte Wahrheit dagegen, um sich kurzfristig in einem besseren Licht zu präsentieren? Meinetwegen. Doch solche leicht geschönten Darstellungen sind nicht unbedingt das, was heute Praxis ist. Unter anderem fördern Social Media, allem voran Linkedin, das soziale Netzwerk, das sich auf Beruf und Karriere fokussiert, Beschönigungen. Aus einer Wohltätigkeitsarbeit wird ein weltbewegendes Engagement, aus einem Praktikum eine einmalige, lebensverändernde Erfahrung und aus der Autoprüfung eine der grössten Herausforderungen der jungen Jahre. Auf Linkedin – so scheint es – muss man mit unter dreissig Jahren von «Forbes» als «30under30» ausgezeichnet worden sein, mit über vierzig sollte man dann erfolgreich gegründet haben und Millionen an Investitionen gesammelt haben. Klar, dass sich bei dieser dargestellten Konkurrenz ein Druck aufbaut, um mitzuhalten. Was auf Social Media begann, erreicht auch die Arbeitswelt. Lebensläufe werden geschönt und Engagements übertrieben. Durch den Switch von persönlichen Treffen vor Ort auf maschinelle Sortierung und Online-Bewerbungsverfahren haben sich neue Möglichkeiten zum Flunkern ergeben: Souffleusen, die während des Videocalls aus der Ecke passende Antworten zuflüstern, externe Helfer, die die Online-Tests ausfüllen oder weiss hinterlegte Zusatzdaten im Lebenslauf, die von der Maschine mitgelesen, aber mit blossem Auge nicht erkennbar sind. Mehr zum Bewerbungsprozess So kämpfen Firmen gegen Betrügereien bei Online-Bewerbungen Wenn der Bewerbungsprozess zum Bewerbungsexzess wird Funkstille: Wenn Bewerbende und Unternehmen einander «ghosten» Die Lügerei ist aber nicht nur auf die Arbeitssuchenden zu schieben. Wer Ausschreibungen liest, reibt sich mitunter ungläubig die Augen: Mehrjährige Erfahrung, Abschluss mit Bravour und Weiterbildungen, dazu freiwillige Engagements und einen erfolgreichen Social-Media-Auftritt. Um überhaupt in die engere Auswahl zu kommen und die maschinelle Sortierung zu überlisten, kommt man nicht ums Flunkern herum. Damit im Anschluss aber beide Seiten erkennen, wer auf der anderen Seite sitzt, gibt es nur eines: das persönliche Treffen. Das eliminiert das Lügen und Betrügen und erlaubt einen kompetenten Eindruck. Wer hier nicht die Wahrheit sagt, fliegt auf und verbaut sich gar weitere Karrierechancen. Denn jede Branche ist am Schluss überschaubar; man kennt sich und tauscht sich aus. Der Bewerbungsprozess ist und war schon immer ein Tanz miteinander; ein gegenseitiges Kennenlernen, was auch den Einblick in Stärken und Schwächen einschliesst. Basiert dieser Tanz jedoch auf unerfüllbaren Anforderungen der einen und erlogenen Kompetenzen der anderen Seite, folgt keine Harmonie. Niemand ist perfekt – doch Lügen und Betrügen ist keine Lösung. Bekanntlich währt Ehrlichkeit am längsten. Das heisst also an die Adresse der Arbeitssuchenden: Hört auf, eure Lebensläufe und Social-Media-Profile übertrieben aufzublasen. Und an die Adresse der Recruiter: Beginnt, eure Anforderungen wieder realitätsnäher auszuschreiben.