Branchenvergleich: Hier wächst die Zahl der Chefinnen

Was die Zahl der Firmenchefinnen in der Schweiz angeht, ist das Wachstum rasant: eine Steigerung von 60 Prozent zum Vorjahr. Ein Boom bei den Chefinnen! So könnte die Schlagzeile lauten. Denn tatsächlich, sobald Sabrina Soussan Anfang April an die Spitze von Dormakaba rückt, wird sich die Zahl der weiblichen CEO in den grössten Schweizer Firmen zum Vorjahr fast verdoppeln. Doch wer sich mit Statistik auskennt, weiss, dass grosse Effekte schnell auftreten, wenn die Ausgangsbasis niedrig ist. Und sich gerade dann schwer sagen lässt, ob die Veränderung Zufall war oder tatsächlich einen Trend zeigt. 60 Prozent mehr Chefinnen, das bedeutet im konkreten Fall: Acht statt fünf Frauen auf dem höchsten Posten in den 120 grössten Schweizer Firmen. Bezieht man die Geschäftsleitung ein, liegt der Frauenanteil 2021 bei 13 Prozent, wie aus dem jüngsten Schilling-Report der gleichnamigen Executive-Search-Firma hervorgeht. Deutliche SteigerungImmerhin: Offenbar ist etwas in Bewegung. So wurde im Vorjahr jede vierte vakante Stelle in Schweizer Geschäftsleitungen mit einer Frau besetzt. Im Vergleich zur Situation vor einigen Jahren hat sich der Frauenanteil im obersten Firmengremium deutlich gesteigert: 2016 lag er noch bei 8 Prozent. Doch der Blick auf die Firmenspitzen allein greift zu kurz. Der Wandel der Schweizer Arbeitswelt zeigt sich besser, wenn man auf alle Hierarchiestufen schaut. Wie sich der Frauenanteil in den grössten Unternehmen von der Belegschaft über das mittlere Management über die Jahre bis an die Spitze entwickelt hat, belegt eine Sonderauswertung von Guido Schilling für die «Handelszeitung». Dabei fällt auf: Über alle Branchen betrachtet hat der Anteil der Mitarbeiterinnen an der Belegschaft zuletzt sogar leicht abgenommen. 2021 liegt er bei 36 Prozent, pendelt seit Jahren um dieses Niveau. Auf allen Ebenen darüber – mittleres Management, Topmanagement, Geschäftsleitung – gab es im Fünf-Jahre-Vergleich eine Steigerung. Im mittleren Management ist heute jede vierte Führungskraft eine Frau, im Topmanagement sind es noch 18 Prozent. Weibliche Talente werden gefördert«Der weibliche Nachwuchs wird in der Schweiz immer besser gefördert», sagt Guido Schilling. Das heisst, die befragten Unternehmen investieren offensichtlich seit einigen Jahren mehr in die sogenannte Pipeline, die Zahl an weiblichen Talenten. Das ist auch nötig, sagt Leadership-Professorin Heike Bruch von der Universität St. Gallen. «Wir steuern auf eine enorme Verknappung der Fachkräfte zu, wer da 50 Prozent des Talentpools ausschliesst, wird nicht wettbewerbsfähig sein.» Für sie geht es nicht darum, Frauen um der Frauen willen zu fördern. Sondern darum, sich als Unternehmen zeitgemäss aufzustellen. Wer Innovation wolle, brauche diverse Teams – «gemischt zusammengesetzt nach Herkunft, Ausbildung, Alter und Geschlecht». Es sei wichtig, Führungskräfte darin auszubilden, nicht nur das ihnen Vertraute zu fördern. Dazu gehöre auch ein gewisser Mut. «Sich zum Beispiel dafür zu entscheiden, zentrale Führungspositionen gegen vorherrschende Muster im Unternehmen mit Frauen zu besetzen.» Der «Hockey-Stick-Effekt»Das Bestehende fühle sich oft sicherer an, auch wenn es nicht das Beste sei. Der Druck nach oben steigt, je stärker die Talente-Pipelines gefüllt sind. Sprich, je mehr Frauen auf allen Ebenen bereitstehen, desto eher werden sie auch in grösserer Zahl in die Geschäftsleitungen oder auf den Chefposten vorrücken. Guido Schilling nennt das den «Hockey-Stick-Effekt» – eine am Anfang flache Kurve, die bald steil nach oben geht. Steil ist in dem Fall allerdings relativ: Auch Guido Schilling spricht stets von einem Generationenprojekt. Zwar sind börsenkotierte Firmen ab diesem Jahr verpflichtet, 20 Prozent Frauen in die Geschäftsleitung und 30 Prozent Frauen in den Verwaltungsrat zu holen. Sie müssen ihre Zahlen aber erst ab 2026 respektive 2031 transparent machen. Auf ein Verfehlen des vorgeschriebenen Anteils folgen keine Sanktionen. Trotzdem ist zu hoffen, dass auch die weiche Pflicht zur Rechenschaft etwas bewegt. Auch Heike Bruch empfiehlt Unternehmen, über die Transparenz von Daten sozialen Druck aufzubauen. «In welchem Bereich arbeiten wie viele Frauen, werden wie viele Frauen befördert und so weiter. Hinzukommen können freiwillige Ziele oder Selbstverpflichtungen.» Eine Branche verliert Frauen an der SpitzeDass die Zahl von Frauen allein nicht ausschlaggebend ist für ihren Aufstieg über die Hierarchieebenen, zeigt der Branchenvergleich. Zum Beispiel tut sich die Life-Sciences-Branche hervor: Im Topmanagement arbeiten mittlerweile 25 Prozent Frauen, und auch im mittleren Management arbeiten hier die meisten Frauen im Vergleich zu allen anderen befragten Branchen. Entsprechend ist auch in der Geschäftsleitung der Frauenanteil recht hoch. Das gleiche Bild im Tourismus: Hier ist der Frauenanteil mittlerweile relativ gleichmässig über alle Hierarchiestufen verteilt, sodass sich eine Säule statt einer Pyramide ergibt. Eine Firmenchefin gibt es in dem Bereich trotzdem nicht. Noch grösser ist der Frauenanteil bei den Dienstleistern wie Unternehmens- oder Personalberatungen: Keine andere Branche hat eine derart breite Pipeline, angefangen bei der Belegschaft. Dies schlägt sich bis in die Geschäftsleitungen nieder – es gibt allerdings in der Branche keinen weiblichen CEO. Keine Chefinnen in der MedienweltNur zwei weitere Branchen haben überhaupt keine weiblichen CEO: Medien/Technologie und Immobilien. Wobei im letzteren Bereich die Zahl der Mitarbeiterinnen vor allem im mittleren und im Topmanagement im Fünf-Jahre-Vergleich deutlich gewachsen ist. Anders in der Medien- und Technologiebranche: Dort fängt es schon bei der Belegschaft an, die noch nicht mal zu einem Drittel aus Frauen besteht – schlechter schneiden nur Industrie und Energiewirtschaft ab. Je höher die Ebene, desto stärker dünnt sich der Frauenanteil aus. Im mittleren Management ist der Frauenanteil zwar leicht gestiegen. Dennoch ist die Medien- und Technologiebranche die einzige, in welcher weniger Frauen im Topmanagement und in den Geschäftsleitungen arbeiten als vor fünf Jahren. Starke TalententwicklungInteressanterweise sind die Karrierechancen für Frauen manchmal dort besonders gut, wo sie weniger vertreten sind. Im produzierenden Gewerbe arbeiten generell weniger Frauen, doch die Aufstiegsmöglichkeiten scheinen nicht schlecht, zumindest bis zum Topmanagement. Die Pipeline ist zwar schmal, dafür ist der Frauenanteil über alle Hierarchieebenen hinweg relativ gleichbleibend. Das heisst, die Firmen betreiben eine starke interne Talententwicklung. Allerdings wird auch hier kein einziges der 32 befragten Unternehmen von einer Frau geführt. In Frankreich ist dieses Bild mittlerweile weit verbreitet, hat Wirtschaftswissenschafterin und Executive Coach Bettina Al-Sadik-Lowinski festgestellt. Frauen sind im mittleren Management präsent, ihr Anteil geht im Topmanagement und an der Konzernspitze aber deutlich zurück. Sie sagt: «Die gläserne Decke hat sich nach oben verschoben, aber sie existiert noch.»Kommentar Teures SchneckentempoNur in der Medien- und der ICT-Branche sinkt der Anteil Frauen im mittleren und im Topmanagement, wie die Analyse von Kadervermittler Guido Schilling ergibt. Als wir diese Zahlen analysierten, kannten wir den Brief der Kolleginnen von Tamedia noch nicht. Von den 78 Journalistinnen, die sich gegen hausinterne strukturelle Benachteiligung von Frauen wandten. Ihre Botschaft ist ernst zu nehmen und gilt bestimmt nicht nur für Tamedia.Wir dürfen nicht vergessen: Der Frauenanteil in Führungspositionen in der gesamten Schweizer Wirtschaft steigt nicht darum so langsam, weil es so wenig gute Frauen gibt. Er steigt so langsam, weil der Bewusstseinswandel so lange dauert. Das bedeutet, dass das Tempo, in dem Frauen in der Wirtschaft nach vorne rücken, eine Geschichte der verpassten Chancen ist. Das bedeutet, dass gute Ideen nicht gehört, Erfolge vergeben, Umsätze verschenkt wurden, weil Frauen ein Job nicht zugetraut wurde. Die Wirtschaft fährt nach wie vor auf einem Auge blind.Die Gründe für das Zögern gegenüber Frauen sind vielfältig und häufig nicht einmal übelmeinend – etwa, wenn ein Vorgesetzter eine Mutter mit einem anspruchsvollen Jobangebot «verschont», weil sie ja andere Pflichten hat. Doch die Summe der vielen kleinen, individuellen Gründe führt zu dem, was die Wirtschaft zeigt: Der Wandel dauert viel zu lange. Es liegt in der Hand aller Schweizer Führungskräfte, vom CEO bis zum Teamleader, mit der Summe ihrer Entscheidungen voranzugehen und dem Wandel ordentlich Beine zu machen.Karen MerkelDer internationale Vergleich «In China gibt es mehr Vorbilder für Frauen im C-Level» Ausserdem zum Thema: Her mit der Frauenquote – damit die Besten an die Spitze kommen Frauen sind die besseren Führungskräfte «Stereotype gegenüber Frauen sorgen für unnötige Hürden» So fördern Männer Frauen Bei Beförderungen von Frauen hakt es Zu wenig Frauen wollen Chefin werden? Das ist zu einfach gedacht

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Boom in Zeitlupe: Der langsame Aufstieg der Chefinnen