Das taugt die ISO-Norm für gute Führung

Normen sorgen für Sicherheit im Alltag. Wer zum Beispiel eine Warnweste trägt, kann darauf vertrauen, von anderen Verkehrsteilnehmenden gut gesehen zu werden. Denn das Kleidungsstück muss die ISO-Norm mit der Nummer 20471 erfüllen, und die schreibt mindestens 0,1 Quadratmeter reflektierendes Material vor. Auch für gute Unternehmensführung gibt es seit September eine Norm, und dieses Dokument mit der Nummer 37000 hat es in sich. Denn die Internationale Organisation für Normung verlangt darin, dass ein Unternehmen nicht nur Umsatz und Profit macht. Es soll auch die Bedürfnisse der zukünftigen Generationen berücksichtigen und die 17 Entwicklungsziele der UNO verfolgen. Dazu gehören, die Armut und den Hunger zu bekämpfen, das Klima zu schützen und Geschlechtergleichheit herzustellen. Kurz gesagt: Gute Unternehmensführung nach ISO-Norm bedeutet, auch ein bisschen die Welt zu retten. «Das ist ein revolutionäres Dokument», urteilt Daniel Bühr. Der Zürcher Rechtsanwalt gehört dem Komitee 309 der ISO-Vereinigung an, die den neuen Standard in den letzten vier Jahren erarbeitet hat. Angesichts des Aufwands erscheint das Dokument im Umfang fast bescheiden. Die ISO-Norm 37000 ist nur 35 Seiten stark, wovon fünf Seiten allein mit Definitionen gefüllt sind. Auch der Inhalt wirkt auf den Laien eher unscheinbar, zum Teil sogar selbstverständlich. Ein Hinweis wie «Die Führung sollte Daten als wertvolle Entscheidungsgrundlage anerkennen» zum Beispiel tönt wenig revolutionär. Doch ein Dokument wie die ISO-Norm muss Wort für Wort gelesen werden. Jeder Begriff ist hier mit Bedacht gewählt – und für das Auge des Profis sind wichtige Vorgaben sichtbar. Der Standard definiert zum Beispiel das interne Kontrollsystem (IKS), die Assurance-Prozesse und die Risiko-Governance. Hundert Sitzungen für das Ergebnis Es liegt im Wesen von ISO-Normen, dass selbst Nebensätze eine grosse Bedeutung entfalten können. Im Abschnitt zur Besetzung von Führungsgremien etwa wird gefordert, auf «Diversität und Inklusion» zu achten. Wer will, könnte das als Votum für eine Frauenquote im Management deuten. Doch das abzuleiten, ist nicht die Aufgabe der ISO-Norm. «Es handelt sich lediglich um Empfehlungen», betont Anwalt Bühr, «das Dokument schreibt nicht vor, wie die Prinzipien umgesetzt werden.» Das müsse jede Organisation selber festlegen. Die Normungsspezialisten und -spezialistinnnen haben sich ihre Aufgabe nicht einfach gemacht. Über hundert Sitzungen waren nötig, um das neue Pflichtenheft zur Unternehmensführung zusammenzustellen. Das ist allerdings nicht ungewöhnlich, da die Erstellung jeder neuen ISO-Norm einem Marathon gleicht: Zunächst lädt die internationale Dachorganisation mit Sitz in Genf weltweit Expertinnen und Experten ein, sich am Erarbeiten einer neuen Norm zu beteiligen. Das kann pro Land eine Person sein oder eine ganze Delegation. «Es geht darum, das Wissen in der Welt zu einem Thema zu bündeln», erklärt Bühr. In den ISO-Arbeitsgruppen dominieren Wissenschafter, Verbandsvertreterinnen, Wirtschaftsprüfer und Beraterinnen. Anwälte und Managerinnen dagegen sind eher rar. Wurden die passenden Experten und Expertinnen gefunden, geht es an die Arbeit: Vertreter aus über 56 Ländern setzen sich zusammen und feilen so lange an dem Dokument, bis Konsens hergestellt ist. Widerspricht auch nur eine Expertin, ganz gleich, ob aus den USA, Malaysia oder Nigeria, muss weiterverhandelt werden. «Das ist wie bei der UNO», sagt Bühr, der bei der Kanzlei Lalive in Zürich arbeitet und auf Wirtschaftskriminalität sowie Governance spezialisiert ist. Obwohl ihn die Mitwirkung an dem ISO-Standard Hunderte von – unbezahlten – Arbeitsstunden gekostet hat, ist er von der basisdemokratischen Vorgehensweise überzeugt. «Ein solches Dokument könnte kein Grosskonzern oder Staat auf dieser Welt replizieren.» Zurückhaltende Reaktionen Bisher ist das Echo auf das neue Dokument verhalten bis ablehnend. «Eine ISO-Norm kann nicht den inneren Kompass eines Managers ersetzen», wenden viele Praktiker ein. Verbände winken mit dem Verweis auf existierende Governance-Vorgaben ab. «Wir selber stützen uns vornehmlich auf den Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance», sagt zum Beispiel ein Vertreter des Dachverbandes Economiesuisse in Zürich. Experte Bühr hält dieses Argument nicht für stichhaltig: «Der Swiss Code ist zehn Jahre alt und spiegelt die heute relevanten Themen nicht wider.» Ein sinnvoller Unternehmenszweck, nachhaltige Entwicklung und Stakeholder-Interessen kämen darin nicht vor. Tatsächlich haben die meisten Governance-Vorgaben schon über zwei Jahrzehnte auf dem Buckel und stammen noch aus der Zeit der grossen Skandale von Enron bis Swissair. Klimawandel und Me Too waren damals noch keine Themen. Bühr erwartet, dass sich die ISO-Norm auf lange Sicht weltweit durchsetzt, weil Unternehmen so nicht mehr zahllose nationale Vorgaben berücksichtigen müssen. «Die Norm hat das Potenzial, Milliardenkosten zu eliminieren.» Unabhängige Expertinnen und Experten halten den neuen Standard ebenfalls für sinnvoll. «Hier wird zum ersten Mal definiert, was Corporate Governance für eine langfristig orientierte Wertschöpfung bedeutet», sagt Marcel Meyer, Sustainability Services Lead bei der Unternehmensberatung Deloitte in Zürich. Die ISO-Norm sei ein guter Orientierungspunkt für Unternehmen, die sich in das Thema Nachhaltigkeit einarbeiten wollen. Meyer erwartet, dass sich vor allem quotierte Unternehmen an der Leitlinie orientieren werden. Für KMU und Familienunternehmen habe diese wohl zunächst wenig Relevanz. «Sie werden häufig ohnehin implizit nach den Prinzipien gemanagt, die in der ISO-Norm formuliert sind.» Anders als der Qualitätsstandard ISO 9000 ist die neue Vorgabe aus Genf übrigens nicht zertifizierbar. Das bedeutet, kein Unternehmen muss damit rechnen, sofort Geld für zusätzliche Audits ausgeben zu müssen. Dies könne sich jedoch ändern, so Deloitte-Experte Meyer. «Was die Norm in der Anwendung bedeutet, wird sich erst in zwei bis drei Jahren zeigen.» Auf lange Sicht sei es gut möglich, dass die Einhaltung der Norm extern überprüft wird – so wie die Bilanzen heute.