Jetzt aber weg: Nach Corona sind mehr Arbeitnehmer offen für Neues

Eigentlich war Georg von Graefe mit seinem Job zufrieden. Er führte sein eigenes Unternehmen, organisierte Studienreisen nach Osteuropa, um Naturliebhaberinnen und -liebhabern die Wälder in Tschechien, Litauen oder Slowenien zu zeigen. Der studierte Forstingenieur hat sein Diplom an der ETH Zürich gemacht. «Als die Pandemie im vergangenen Jahr ihren Lauf genommen hat, war Reisen nicht mehr möglich», erzählt von Graefe.«Für mich bedeutete das: Ich konnte kein Geld mehr verdienen, mir fehlte die Existenzgrundlage.» Der 54-Jährige suchte sich also einen neuen Job: Er ist jetzt der Stadtoberförster von Baden und leitet das dortige Stadtforstamt. Seiner Leidenschaft für den Wald kann er nun noch intensiver nachgehen, er fühlt sich sehr wohl in seinem neuen Job. Wenn von Graefe heute über seine Entscheidung spricht, wird ihm bewusst: Die Pandemie war damals nur der äussere Einfluss, der ihn zum Jobwechsel bewegt hat. «Langfristig hätte ich wahrscheinlich mein Reiseunternehmen schon erfolgreich weiterführen können», sagt er. «Ich hatte aber bereits in den vergangenen zwei bis drei Jahren das Gefühl, dass ich im letzten Abschnitt meines Berufslebens noch mal etwas ganz anderes machen möchte.» Nach so vielen Jahren im selben Job sei doch irgendwann Routine eingekehrt, auch wenn er seinen Beruf rückblickend durchaus als sehr sinnstiftend bezeichnen würde. «Es hat scheinbar eine Pandemie gebraucht, um mir den letzten Schubser in die richtige Richtung zu geben», sagt von Graefe. In einer denkbar angespannten Situation auf dem Arbeitsmarkt etwas Neues wagen – dazu sind überraschend viele Schweizerinnen und Schweizer bereit, wie eine Umfrage des Marktforschungsinstituts Forsa im Auftrag des Karrierenetzwerks Xing beweist. Demnach würden 54 Prozent aller Berufstätigen in der Deutschschweiz trotz Covid- 19-Pandemie ihren Job wechseln. Das sind nur 2 Prozent weniger als im Jahr zuvor.Selbsttest: Muss ich den Job wechseln? Karriereberater Lucas Zehnder sagt, dass sich Arbeitnehmende vor einem Jobwechsel zwei zentrale Fragen stellen sollten: Ist das, was ich jetzt mache, auf einer Linie mit meinen Werten? Und bringt mich mein Job einem langfristigen Ziel näher? Wer beide Fragen mit Ja beantwortet, sollte besser die Füsse stillhalten. «Dann handelt es sich vielleicht nur um eine Laune», so Zehnder. Wenn die Antwort auf beide Fragen ein Nein ist, dann sei es wirklich an der Zeit, sich neu zu orientieren und auf die Suche zu machen. Gespräch suchen Wenn Berufstätige jedoch auf eine der Fragen mit Nein und auf eine mit Ja antworten, gibt es vielleicht eine andere Möglichkeit, etwas zu ändern. «Wer zum Beispiel eigentlich einen Job macht, der seinen Werten entspricht, aber innerhalb des Unternehmens keine Aufstiegschancen sieht, kann mit dem Chef über eine fachliche Weiterbildung sprechen», so Zehnder. Seiner Meinung nach sollten Arbeitgebende zweifelnden Angestellten ohnehin gerade in der Pandemie ein offenes Ohr schenken, etwa an einem wöchentlichen Jour fixe. 16 Prozent der Befragten haben sogar schon konkrete Pläne für einen Jobwechsel im Jahr 2021. Besonders überraschend: Der Grund für die Wechselbereitschaft scheint nicht zu sein, dass die Berufstätigen ihre aktuelle Aufgabe satthaben. Der Grossteil der Befragten (87 Prozent) gibt an, mit der aktuellen Beschäftigung zufrieden zu sein – so wie Georg von Graefe damals. Erst Panik, dann Sinnfrage Auch der Karriereberater Lucas Zehnder hat im vergangenen Jahr beobachtet, dass viele Schweizerinnen und Schweizer auf der Suche nach einem neuen Job waren – mal ging es den Berufstätigen nur um eine neue Position im Unternehmen, für das sie ohnehin schon arbeiten, mal gar um den Wechsel in eine ganz andere Branche. «Zu Beginn der Pandemie war es vor allem die Panik, die die Arbeitnehmenden zur Jobsuche motiviert hat», erzählt Zehnder. Ganze Branchen lagen schliesslich wegen der Corona-Massnahmen zeitweise brach, so der Tourismus oder die Gastronomie. Kein Wunder also, dass sich auch Inländer und Inländerinnen, die in diesen Branchen arbeiteten, nach neuen Jobs umsehen mussten. Aber was ist mit den anderen? «Bei vielen Arbeitnehmenden hat Corona dazu geführt, dass sie sich die Sinnfrage stellen – sich also damit beschäftigen, warum sie ihren Job machen und ob er für sie persönlich überhaupt zukunftsträchtig ist», so Zehnder. Warum die Pandemie viele Menschen dazu bringt, sich mehr Gedanken über den Sinn ihrer Arbeit zu machen – darüber lässt sich bisher nur mutmassen, offizielle Studien gibt es nicht. So könnten die grossen Umwälzungen in der Arbeitswelt ein Grund dafür sein oder die lange Zeit ohne Ablenkung durch Veranstaltungen, Hobbys und anderes. Ganz neu ist der Trend, seine Arbeit auf ihren Sinn hin zu überprüfen, jedenfalls nicht. So zeigte schon im Jahr 2019 eine Studie des Karrierenetzwerks Xing, dass zwei Drittel der Schweizerinnen und Schweizer in einen neuen Job mit «mehr Sinnhaftigkeit oder gesellschaftlicher Verantwortung» wechseln würden, auch wenn sie dort weniger Geld verdienten. Unter den Befragten sind die Schweizer damit Spitzenreiter, bei den Deutschen und Österreichern würde jeweils nur etwa die Hälfte die Stelle wegen mehr Sinnstiftung wechseln. Die Sinnfrage ist keine Geldfrage Entscheidend für Karrierecoach Ute Safra ist eine regelmässige Kommunikation zwischen Angestellten und Chefs. «Das Wichtigste ist, dass Arbeitgebende und Arbeitnehmende sich miteinander austauschen und Vorgesetzte es ansprechen, wenn sie merken, dass Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen unzufrieden sind», sagt Safra, die in Zürich arbeitet und Führungskräfte berät: «Die Zeit im Homeoffice hat die Art, wie kommuniziert wird, verändert – da ist es umso wichtiger, einander aufmerksam zuzuhören.» In den Gesprächen sollten die Führungskräfte herausfinden, was genau Mitarbeitende unzufrieden macht und woher die Sinnfrage kommt. Mit den Antworten darauf können sie ihre Angestellten durch gezielte Massnahmen unterstützen und sie letztlich im Unternehmen halten. Eine Gehaltserhöhung wird bei Berufstätigen, die sich die Sinnfrage stellen, allerdings wohl kaum der Schlüssel zum Glück sein. Für Karrierecoach Safra ist stattdessen die Weiterbildung der Mitarbeitenden von zentraler Bedeutung. «Die Pandemie hat für Arbeitnehmende viele Veränderungen mit sich gebracht, die herausfordernd sein können», sagt die Beraterin. «Nicht nur bei den Soft Skills, sondern auch bei fachlichen Themen können Weiterbildungen helfen, damit Arbeitnehmende im digitalen Wandel mithalten und sich wieder wohl in ihrem Job fühlen.» Aus Gesprächen mit Führungskräften und HR-Managern weiss sie: Weiterbildung ist für die Schweizer Unternehmen ein wichtiges Thema, wenn es darum geht, Angestellte zu binden. Vielen Unternehmen fehle es aber momentan an Mitteln, um Mitarbeitende weiterzubilden. Das könnte also auch ein Grund dafür sein, dass sich so manche Arbeitnehmenden die Sinnfrage gestellt haben – sie kamen seit dem ersten Lockdown einfach nicht vorwärts.