Jonathan Normand, CEO von B Lab Schweiz, über Nachhaltigkeit: «Ich bin kein Evangelist in dieser Sache. Es geht um Pragmatismus»

Herr Normand, es herrscht Krieg in Europa. Energiekrise. Inflation. Hat Nachhaltigkeit überhaupt noch Platz? In den letzten fünf Jahren hat sich eine Menge getan. Es fand eine grosse Verschiebung der Interessen statt. Vor fünf bis sechs Jahren, als ich durch die Schweiz reiste, sagten mir die CEO: «Nachhaltigkeit? Das ist ein gutes Projekt.» Aber es ist eben kein Projekt, denn ein Projekt könnte scheitern. Nachhaltigkeit ist etwas, das in die Unternehmensstrategie miteinbezogen werden muss. Also braucht es ein Umdenken in unserer Gesamtwirtschaft? Unbedingt. Das Wettbewerbsmodell, auf dem wir die Wirtschaft in den letzten 400 Jahren aufgebaut haben, zielt auf kurzfristige Gewinnmaximierung auf Kosten von Ressourcen ab und ist von globalen Herausforderungen abgekoppelt. Das System bietet keine Antworten auf drängende soziale und ökologische Fragen wie Vermögensungleichheit, Klimawandel und soziale Unruhen. Vom Shareholder-Value zum Stakeholder-Value, wie bereits der Business Roundtable forderte? Genau. Zuvor ging es immer nur um die Gewinnmaximierung, jetzt steht der Impact im Vordergrund. Und da setzen wir an mit dem B Movement. Wie genau? Wir von B Lab unterstützen Unternehmen unter anderem mit der B-Corp-Zertifizierung. Wir geben ihnen mit dem B Impact Assessment ein Instrument zur Hand, mit dem sie Nachhaltigkeit im Unternehmen messen und verbessern können. Und wie verifiziert B Lab, dass das, was die Leute eintragen, auch effektiv stimmt? Das B Impact Assessment enthält bereits eine Rechenschaftspflicht. Gleichzeitig haben wir über 200 Analystinnen und Analysten, die den Prozess auditieren und überprüfen. Wenn aufgefordert, müssen die Unternehmen Nachweise für bestimmte Kriterien erbringen. Wenn ich mir aber die Liste der in der Schweiz zertifizierten B Corporations anschaue, dann sind das mehrheitlich kleinere Firmen. Ist es für sie einfacher, die Ziele zu erreichen? Im Schnitt braucht ein KMU sechs bis acht Monate für eine Zertifizierung. Zum Vergleich: Nespresso benötigte drei Jahre – aufgrund der Verifizierung von 14’000 Datensätzen. Bei einem durchschnittlichen KMU sind es etwa 150 bis 240. Diese Organisationen unterstützen beim Tracking von Nachhaltigkeit 1. Freiwillige Engagements und Mittel zur Orientierung Unternehmen sollten Nachhaltigkeit nicht umsetzen müssen, sondern umsetzen wollen. Die Thematik ist aber sehr breit und beinhaltet verschiedene Facetten. Zur Orientierung über die Möglichkeiten finden sich verschiedene Hilfsmittel wie etwa die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN, die Sustainable Development Goals (SDG). Unternehmen können sich auf freiwilliger Basis dazu bekennen, zu den einzelnen Zielen beizutragen. Die Ziele sind generisch gehalten, wie etwa weniger Ungleichheiten oder menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum. Es finden sich jedoch detaillierte Informationen sowie mögliche Massnahmen für die einzelnen Ziele. Eine andere Möglichkeit bieten die Swiss Leaders mit der Initiative «Sustainable Leaders». Interessierte können die Charta unterzeichnen und sich durch das Einführungsprogramm sowie die regelmässigen Beiträge über das Thema informieren und inspirieren lassen. Gibt es sonst noch grosse Player, die eine B-Corp-Auszeichnung anstreben? Es gibt viele: Patagonia, Danone, Nespresso. Jüngst äusserte auch Givaudan die Absicht, ein B Corp zu werden. Doch mit 19’000 Mitarbeitenden in 15 Ländern wird diese Zertifizierung markant länger dauern. Gibt es eine Branche, die die meisten B Corps aufweist? Bisher decken wir 158 verschiedene Industriesektoren ab. Vom Fischfang über die Verarbeitung von Holz bis hin zu Finanzunternehmen. Von daher, nein. Es gibt nicht die eine Branche. Unternehmen verändern sich über die Zeit. Wie gehen Sie damit um? Bei uns gibt es keinen Stempel «zertifiziertes B Corp» und fertig. Die Unternehmen sollen sich stets verbessern. Deshalb kennt unser Zertifikat ein Ablaufdatum: Die Unternehmen müssen sich alle drei Jahre dem Rezertifizierungsprozess unterziehen. Diese Organisationen unterstützen beim Tracking von Nachhaltigkeit 2. Ein Zertifikat mit hohen Hürden Ein Zertifikat garantiert einen vertrauenswürdigen Beweis von einer unabhängigen, aussenstehenden Stelle, dass eine Firma ihre Nachhaltigkeitsversprechen einhält. Ein klassisches Zertifizierungssystem ist die Internationale Organisation für Normung, kurz ISO. Das ISO-Standardsystem baut auf verschiedenen Normen auf, die alle klare Zielvorgaben beinhalten. Beispielsweise betrifft ISO 14001 das Umweltmanagement und ISO 26000 betrifft die Nachhaltigkeit. Bei ISO müssen nicht alle, es können auch nur einzelne Normen erfüllt werden. Anders beim Zertifikat B Corp – kurz für Benefit Corporate. Das Zertifikat ist in einzelne Bereiche aufgeteilt, in denen eine Mindestpunktzahl bei allen Zielen erreicht werden muss. Die Zertifizierung als B Corp gilt als eine der schwierigsten – aber auch als die überzeugendste. Bisher weisen global etwas über 5000 Unternehmen die Zertifizierung auf. So können auch Unternehmen immer wieder kommunizieren, dass sie nachhaltig unterwegs sind. Wir wollen, dass Unternehmen einander inspirieren. Da gehört die Kommunikation dazu. Inwiefern ist diese Kommunikation auch politisch motiviert? Nachhaltigkeit ist heute nicht nur in der Kommunikation verankert, sondern in der Strategie integriert. Dazu gehört auch die politische Meinung. Letztlich sollten auch C-Level-Mitglieder Aktivisten und Aktivistinnen sein – so wie das US-Unternehmen Patagonia: Der Eigentümer Yvon Chouinard lobbyierte stets für seine Themen und beeinflusste die Politik. Das heisst, C-Levels müssen sich heute politisch äussern, die schweizerische Diskretion gehört der Vergangenheit an? Die Welt der Wirtschaft hat sich verändert. CEO müssen heute öffentlich sein. Wenn sie das nicht sind, wissen sie nicht, was vor sich geht. Das ist die neue Normalität. Unternehmen spielen heute eine wichtige Rolle bei der Behebung von sozialen und ökologischen Problemen. Diese Organisationen unterstützen beim Tracking von Nachhaltigkeit 3. Unabhängige Bewertung von aussen ESG steht im Englischen für Environmental, Social und Governance – zu Deutsch: Umwelt, Soziales und Unternehmensführung. Verschiedene Firmen bewerten Unternehmen hinsichtlich dieser drei Dimensionen. Bekannte Anbieter solcher ESG-Ratings sind die niederländische Firma Sustainalytics oder das amerikanische Unternehmen MSCI. Die Ratings basieren auf Fragebogen, die die Firmen ausfüllen, auf Börsendaten und auf weiteren zugänglichen Informationen. Ein börsennotiertes Unternehmen kann sich heute einem ESG-Rating nicht mehr entziehen – und sollte auch darauf abzielen, ein hohes Rating zu erhalten. Denn ESG-Ratings geben interessierten Investorinnen und Investoren einen Überblick, wie nachhaltig die Firmen sind, in die sie investieren. Darüber hinaus erhalten Firmen durch das ESG-Rating einen Hinweis darauf, wie sie im internationalen Vergleich im Bereich der Nachhaltigkeit abschneiden Und gewinnen zusätzlich Renommee und Prestige? Auch. Gleichzeitig gewinnen sie aber auch einen besseren Marktzugang. Bessere Geschäfte und bessere Chancen. Also steht doch letzten Endes die Gewinnmaximierung im Haus? Ich bin kein Evangelist in dieser Sache. Es geht um Pragmatismus. Es geht darum, die Art und Weise, wie Unternehmen arbeiten, zu ändern; das Verhalten, die Struktur und die Kultur des Kapitalismus zu wandeln. Wenn dabei ein Gewinn erzielt wird, dann umso besser – denn Nachhaltigkeit ist auch eine Geschäftschance. Und gesunde, nachhaltige Unternehmen haben einen positiven Einfluss auf unsere Welt. Und das braucht die Welt auch. Ja, unbedingt. Als ehemaliger Mathematiker bin ich beim Lesen der Zahlen und Fakten zum Klima schockiert. Es ist an der Zeit, dass wir den Wissenschafterinnen und Wissenschaftern Gehör verschaffen. In der Anfangszeit haben wir nicht sehr gut auf sie gehört. Aber jetzt, mit all diesen Hitzeperioden, Überschwemmungen und Waldbränden, wachen die Leute auf. Und trotzdem: Es passiert noch immer nichts! Warum? Aufgrund der wirtschaftlichen Interessen. Diese Organisationen unterstützen beim Tracking von Nachhaltigkeit 4. Reportingstandards für mehr Transparenz Die Königsklasse der Reports stellt die Global Reporting Initiative (GRI) dar. Der Berichtstandard kann von Unternehmen übernommen werden. Gerade Nachhaltigkeitsberichte auf Basis der GRI garantieren transparente und tiefe Einblicke in die Nachhaltigkeitsstrategie von Unternehmen. Heute präsentieren die meisten Corporates, etwa Nestlé oder die Retailer Migros und Coop, einen Nachhaltigkeitsbericht basierend auf GRI. Auch publizieren die meisten börsennotierten Unternehmen einen solchen Report – denn dieser garantiert ein besseres ESG-Ranking. Doch die umfassenden, detaillierten und hohen Anforderungen der GRI benötigen die entsprechenden Ressourcen im Unternehmen. Gerade kleine und mittlere Unternehmen können diesen Extraaufwand nicht stemmen. Für sie empfiehlt sich der Katalog des Deutschen Nachhaltigkeitskodex (DNK) als Alternative für die Berichterstattung. Und was kann da die verhältnismässig kleine Schweiz tun? In der Schweiz finden sich viele grosse Rohstoffhändler und sie ist ein grosser Finanzplatz. Wenn also die Schweiz die Spielregeln ändert und Nachhaltigkeit einbringt, hat sie einen weltweiten Einfluss auf deren Entwicklung. Die Schweiz soll nicht nur reden, sie soll Aktionen ergreifen. Das ist der einzige Weg in eine nachhaltige Zukunft.