Noch ältere weisse Männer: Neben Joe Biden gibt es viele

So viel Alterswürde war noch nie im Weissen Haus. Wenn Joseph Robinette «Joe» Biden, Jr. heute am 20. Januar ins Oval Office tritt, wird er dies als 46. Präsident der USA tun. Mit 78. So alt wie noch keiner der 45 Präsidenten vor ihm. Auf Biden wartet jede Menge Arbeit. Volk einen. Corona bekämpfen. Anständige Rückkehr auf die Weltbühne. Wirtschaft hochfahren. Die Potus-Aufgabenliste ist endlos und würde jeden physisch und psychisch topfitten Fünfzigjährigen heillos überfordern. Biden ist mehr als ein Vierteljahrhundert älter. Erstaunlich eigentlich, dass in einer Welt, die in aller Regel dem Jugendwahn frönt, ein Kandidat nahe der Achtzig überhaupt als Kandidat ins Rennen für den Topjob gelassen wurde. Lenker und Denker über 65Immerhin ist das Wort des «alten weissen Mannes» im gesellschaftlichen Diskurs vielerorts übel beleumdet und hat es mit AWM zu einem eigenen Kürzel gebracht. Es steht für die Inkarnation des Ewiggestrigen, für Männer, die an überholten Rollenbildern festhalten. Jetzt öffnen die ewig jungen USA just dem ältesten Präsidenten aller Zeiten die Tür ins Oval Office. In der Mitte seiner ersten Amtszeit wird Biden schon achtzig sein. Kann das gut gehen? So könnte man fragen und denken. Man kann sich aber auch umschauen in der Welt von Wirtschaft, Politik und Popkultur. Und erkennen: Ältere weisse Männer entwickeln Power wie noch nie. In der Welt und auch in der Schweiz wimmelt es von Lenkern und Denkern, die es auch weit jenseits des Pensionsalters von 65 immer noch können. Ein gut gelaunter Menschenschlag, für den «Pensionierung» ein Fremdwort ist. Der ältere weisse Mann – ein Longseller, der an die VW-Werbung erinnert: Er läuft und läuft und läuft. Ein Netzwerk von FamilienfirmenLeute wie Peter Lorange. Der norwegische Ökonom, der in Küssnacht an der Rigi lebt, war bis 2008 Präsident der Schweizer Kaderschmiede IMD, übernahm 2009 die Zürcher Managementschule GSBA, die er in Lorange Institute umbenannte und sechs Jahre später den Chinesen verkaufte. Heute führt Lorange, Jahrgang 1943, weiterhin sein eigenes Familienunternehmen, S. Ugelstad Invest, das in fünf Geschäftsbereichen und rund dreissig Geschäftsaktivitäten tätig ist. Und er hat das Lorange Network gegründet. Kein Linkedin für alte weisse Männer, sagt der Unternehmer, «sondern ein Netzwerk, das sich um die Belange von Familienfirmen kümmert und Investments vermittelt. Wir haben jetzt über 3100 Mitglieder, Frauen und Männer, die zwischen vierzig und achtzig Jahre jung sind.» Mögen andere Senioren auf dem Golfplatz oder auf Kreuzfahrt Zerstreuung suchen – Lorange mag da nicht mitmachen: «Golfen habe ich gesehen. Kürzlich habe ich die Mitgliedschaft im Golfclub Küssnacht abgegeben. Und auf Cruise muss ich auch nicht – das habe ich zu meiner Zeit als VR-Mitglied der Royal Caribbean Cruise Line schon genügend gemacht.» «Ich habe einen eingebauten Alarm»Was ihn interessiere, sagt der Supersenior, «ist, auch heute noch immer etwas Neues zu lernen». Nur in einer Sache hält Lorange am Althergebrachten fest: Er steht jeden Tag um fünf Uhr auf, sieben Tage die Woche. «Ohne Wecker, ich habe einen eingebauten Alarm.» Nur unwesentlich später geht der Tag bei Michael Pieper, der im Mai 75 wird, los. Der CEO und Eigentümer der Artemis Group, zu der neben Küchenbauer Franke auch Beteiligungen an Firmen wie Forbo, Feintool, Arbonia, Autoneum und Rieter gehören, fuhr früher um vier Uhr morgens von daheim los und war dann vor fünf Uhr im Büro. Heute ist Pieper etwas später dran, in der Regel ist Büroankunft um 5.30 Uhr. Was gleich geblieben und ihm wichtig ist: «Immer um 6.30 Uhr ist Konzernleitungssitzung, jeden Tag.» Solide Tagesstruktur – darauf schwören viele der Generation Über-Siebzig. Auch Henri B. Meier. Der legendäre Roche-Kassenwart, der von 1986 bis ins Jahr 2000 die Finanzen des Basler Pharmagiganten dirigierte, steht auch heute noch jeden Tag um 6.45 Uhr auf und schaltet dann eine Stunde Morgenturnen ein. Darauf folgt: Frühstück, Massage und eine Duscheinheit der Sorte kalt-warm. «Für mein Alter bin ich noch sehr fit», konstatiert Meier. Förderung von JungunternehmenBis Mitte Jahr will Meier, der im Mai 85 wird, drei seiner noch fünf VR-Mandate abgeben. Aber bei der Förderung von Jungunternehmen ist weiterhin viel Esprit zu verspüren. Bei der Basler Bacoba etwa, bei welcher Meier einziger Verwaltungsrat ist. Das Startup arbeitet an einem Medikament gegen Leishmaniasis, eine vernachlässigte Tropenkrankheit, die das Gesicht entstellt: «Als ich diese Leute sah, wusste ich, da muss ich helfen.» Und als Initiant der Stiftung Pro Zukunftsfonds Schweiz will Meier erreichen, dass Pensionskassen aktiver in Jungunternehmen investieren. Mit steigender Lebenserwartung verschieben sich einst fest in der Gesellschaft verankerte Grenzen. Menschen können bis ins hohe Alter produktiv und fit bleiben. Da sei es gut möglich, sagt Lorange, dass es Joe in Washington, D.C., packen könne: «Mit 78 bringt Biden viel Erfahrung ein und führt weniger mit einer persönlichen politischen Agenda, sondern will das Beste für sein Land. Nicht das Beste für sich selber.» Back-up-Leute für den Nachfolgeprozess bereithaltenMit letzterem Satz wird oft eine AWM-Negativseite verbunden: dass er nicht loslassen kann. Lorange weiss das: «Du musst aufpassen, dass du die nächste Generation nicht blockierst. Deshalb ist es wichtig, die richtigen Back-up-Leute um sich herum zu haben.» Diese Leute sollten auch als Frühwarnsystem funktionieren: «Die müssen es merken, wenn der alte Mann langsam gaga wird – und dann den Nachfolgeprozess einleiten, der zuvor schon zusammen mit dem Senior definiert wurde.» Seine Anleitung zur Vitalität definiert Lorange so: «Ich wandere und spaziere viel, jeden Tag eineinhalb bis drei Stunden. Und dann bin ich in vielen geschäftlichen Projekten aktiv, das hält mich jung.» Auch Michael Pieper schwört auf Fitness: «Schwimmen, Power-Plate-Training, Velofahren auf dem Hometrainer – etwas Sport muss sein, jeden Tag dreissig bis sechzig Minuten.» Und vor dem Schlafen ein gutes Glas Rotwein.» Faber lebt nach amerikanischen BörsenzeitenEtwas anders sieht Marc Fabers Fitnessprogramm aus: «Schwere und schnelle Motorräder, Zigaretten, Bier – und viel lachen.» Letzteres wohl vor allem nachts, denn einen grossen Teil des Tages verschläft der Schweizer Investmentberater, der Ende Februar 75 wird und in Hongkong lebt. «Normalerweise stehe ich zwischen vier und sechs Uhr am späten Nachmittag auf und arbeite von sechs Uhr am Abend bis etwa um sechs Uhr morgens.» Faber lebt nach amerikanischen Börsenzeiten und publiziert immer noch monatliche zwei Berichte, hat «gewisse Beratungsaufträge von Kunden» und verwaltet Geld. Warum mit 65 nicht Schluss war, erklärt Faber so: «Als Calvinist ist es meine Pflicht, solange Gott es mir gesundheitlich erlaubt, weiterhin mit Fleiss, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, relativer Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft und ständig weiterem zusätzlichem Lernen zu arbeiten.» «Ich fühle eine persönliche Verantwortung»Ähnlich klingt es bei Pieper: «Das ist mein Leben. Ich habe wenig andere Hobbys. Mich hat es schon immer mehr interessiert, Unternehmen weiterzubringen, insbesondere solche, zu denen ich eine Beziehung habe.» Er fühle, sagt Pieper, «eine persönliche Verantwortung gegenüber diesen Firmen. Solange ich das kann und gesund bleibe, mache ich die nächsten fünf Jahre ganz bestimmt weiter.» Ob auch der neue und älteste US-Präsident so lange im Amt bleibt? Pieper attestiert Biden einen «grossen Erfahrungshorizont». Er scheine mit 78 gesundheitlich und geistig noch sehr fit zu sein, «daher kann es für den Moment funktionieren. Aber langfristig ist das sicher keine Lösung.» Denn eines findet auch ein älterer weisser Mann wie Pieper etwas speziell: «Mich erstaunt, dass es in Amerika – im Land der besten Universitäten und vielen erfolgreichen Firmen – nicht mehr jüngere Leute gibt, die sich politisch engagieren oder Chancen für eine politische Karriere sehen.»

Noch ältere weisse Männer: Neben Joe Biden gibt es viele

Mit Joe Biden beginnt die Zeit der noch älteren weissen Männer