Trauer im Job: Deshalb sind viele Firmen überfordert mit trauernden Angestellten

Einen nahen Angehörigen zu verlieren, das passiert allen: Sei es das Mami, sei es ein guter Freund, die Ehefrau, der Partner oder das eigene Kind. Plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Die Welt steht kopf. Die Trauer ist allgegenwärtig und beherrscht Gedanken, Emotionen und Gefühle. Gleichzeitig stapeln sich die Aufgaben im Büro, der Posteingang überquillt und die Kolleginnen und Kollegen warten auf eine Antwort. Die Erwartungen vonseiten Arbeit steigen, dass die Normalität trotz schlaflosen Nächten, Gedankenkarussellen und einem schweren Herzen bald zurückkehrt. Trauer braucht Zeit zum Abklingen Das geht aber zumeist nicht so schnell und stellt insbesondere Betroffene, aber auch deren Arbeitskolleginnen und Führungskräfte vor grosse Herausforderungen. Am eigenen Leib erlebte das Nikola Gazzo: Sie verlor ihren Sohn aufgrund der Folgen eines Badeunfalls in der Karibik. «Wie so viele Menschen, die um einen ihnen nahestehenden Menschen trauern, war ich damals Angestellte», erinnert sie sich. «Als ich an meinen Arbeitsplatz zurückkam, haben mich die Reaktionen der meisten meiner Kolleginnen und Kollegen sowie Vorgesetzten enttäuscht.» Rückblickend weiss sie, dass sich Mitarbeitende, aber auch Führungskräfte beim Umgang mit dem Thema Trauer unsicher fühlen. Oft fehle ihnen das Wissen, wie sie Betroffene unterstützen können, oder hätten Hemmungen, dass sie den Trauernden zu nahe treten. «Für viele ist es schwierig zu verstehen, dass Trauern kein wirkliches Ende hat, sondern dass es sich hier um lebenslange Traueraufgaben handelt», erklärt Gazzo. Nach dem Verlust wechselte sie ihren Beruf und berät heute als selbstständige Personalexpertin Firmen und Privatpersonen im Umgang mit Trauer. «Jede und jeder trauert anders. Deshalb kann es auch keine strikt festgelegten Regeln geben, wie Vorgesetzte und Personalerinnen damit am Arbeitsplatz umgehen sollten. Personalverantwortliche sollten jedoch unbedingt etwas Grundwissen darüber haben, was Trauer eigentlich ist, und sie sollten wissen, an welche ausserbetrieblichen Stellen sich Trauernde wenden können.» Das sei das Minimum, so die Expertin. Alle Unternehmen sind mit dem Thema konfrontiert Laut Travail Suisse, dem unabhängigen Schweizer Dachverband der Arbeitnehmenden, haben sich bisher nur wenige Unternehmen darüber Gedanken gemacht, wie sie mit dem Thema Trauer in ihren Betrieben umgehen sollen. Obwohl die Thematik allen Unternehmen bekannt ist – sei es, dass Mitarbeitende sterben, sei es, dass Angestellte ihnen nahestehende Personen verlieren. Der Verband möchte diese Lücke mit einem im Juni 2022 publizierten Leitfaden schliessen. Als Informationsstelle sensibilisiert der Leitfaden Geschäftsleitungen und Vorgesetzte auf das Thema und hilft, Trauernde flexibel und mit kreativen Lösungen zu unterstützen. Memento des Leitfadens «Trauer in der Arbeitswelt» Die individuelle und die soziale Dimension der Trauer einbeziehen Berücksichtigen, dass es keine «normale» oder «Standard»-Trauerzeit gibt Die Trauersituationen unabhängig vom Verwandtschaftsverhältnis betrachten Die Rückkehr an den Arbeitsplatz umsichtig gestalten und die trauernde Person rücksichtsvoll behandeln Sich bei der trauernden Person nach ihren Bedürfnissen und Erwartungen erkundigen Einer trauernden Person sowie Kolleginnen und Kollegen von verstorbenen Mitarbeitenden über einen längeren Zeitraum regelmässig einen Raum für den Austausch bieten Die Bedürfnisse einer trauernden Person immer wieder gemeinsam evaluieren Die Arbeitsbedingungen je nach den geäusserten Bedürfnissen der trauernden Person flexibel gestalten Vorausschauend Richtlinien für das betriebliche Trauermanagement definieren Rechtliche Regelungen in Bezug auf Trauer bestehen hingegen wenige. Ist ein Arbeitnehmer aufgrund von Krankheit oder Unfall für eine bestimmte Zeit arbeitsunfähig, so greift in der Regel die Krankentaggeldversicherung des Arbeitgebers beziehungsweise die Unfallversicherung. Im Trauerfall kommt diese Regelung nicht zum Zuge, auch wenn Trauer mitunter die Arbeitsfähigkeit der Angestellten beeinflusst. Grundsätzlich gilt Trauer nicht als Krankheit und deshalb nicht als Grund für eine Krankschreibung. Als Lösung inkludieren viele Firmen bei einem Todesfall von Familienangehörigen zwischen einem und drei Tagen im Personalreglement oder direkt im Arbeitsvertrag. Diese Tage dienen jedoch weniger der Trauer an sich, sondern sollen die Organisation aller Aufgaben ermöglichen, die rund um einen Todesfall auftreten: Beerdigung, Nachlass oder familiäre Zusammenkünfte. Arbeit als Belastung oder Entlastung während der Trauer Fakt ist jedoch, dass nach einem bis drei Tagen die Trauer bei den Angehörigen noch längst nicht abgeschlossen ist – sie dann aber wieder an den Arbeitsplatz zurückkehren und arbeiten sollten. Während für einige die Arbeit genau der Ablenkung entspricht, die zur Trauerbewältigung beiträgt und ihrem Alltag eine Struktur gibt, können andere nach einem Todesfall nicht direkt wieder einsteigen. Die Trauer beherrscht noch immer die Gedanken und verhindert professionelles Erledigen der Arbeitsaufgaben. Um in die Arbeitswelt zurückzufinden, schloss sich Nikola Gazzo nach dem Verlust ihres Sohnes einer Trauergruppe für verwaiste Eltern an. «In der Gruppe konnten vor allem diejenigen nicht schnell zurück in den Arbeitsalltag, die am Arbeitsplatz Kontakt mit Kindern oder Jugendlichen im gleichen Alter der Verstorbenen hatten», erzählt Gazzo. Auch Angestellte, die auf ihre Konzentration angewiesen waren, wie beispielsweise im Bankengeschäft, hätten Mühe gehabt. Aber auch diejenigen, die viel Publikumsverkehr um sich hätten: «Diesen fiel es eben auch schwer, trauernd unter Menschen zu sein.» Trauer ist eine wichtige menschliche Reaktion Der Berner Psychologe und Trauerforscher Hansjörg Znoj kennt solche Szenarien. «Wir als Kultur haben verlernt, mit Verlusten umzugehen, und erwarten, dass alles immer besser wird. Diese Erwartungen werden aber häufig enttäuscht und diese Enttäuschung ist die eigentliche Trauerreaktion.» Trauer sollte grundsätzlich als Übergangszustand verstanden werden: Zwischen dem Wissen, dass ein Mensch nicht mehr da ist, und der Akzeptanz dieses Verlustes. Indem Menschen trauern, ordnen sich die Beziehungen zur verstorbenen Person neu. Es folgt eine schrittweise Verabschiedung von dieser Person und dadurch die Rückkehr in den veränderten Alltag. Trauer ist eine normale emotionale Reaktion auf den Verlust eines nahestehenden Menschen, die Dauer der Reaktion hängt von einer Vielzahl individueller Faktoren ab. Bei bis zu 10 Prozent der Trauernden kann sich diese Reaktion in eine anhaltende, komplexe Trauer bis sogar in eine traumatische Trauerreaktion umwandeln – Betroffene erleben den Verlust als ein persönliches Trauma. Hier führt ein Todesfall über lange Zeit zu schweren seelischen Erschütterungen. Langfristig kann sich das Leiden der Betroffenen in einer umfangreichen Symptomatik äussern und die Gesundheit gefährden. Im Gegensatz zum normalen Trauerprozess setzt sich die anhaltende Trauerreaktion in jüngster Zeit auch bei Fachpersonen als eigenständiges Krankheitsbild durch. Mehrfache Verluste, traumatische Todesumstände und psychische Vorerkrankungen sowie eine ambivalente Beziehung zur verstorbenen Person gelten als Risikofaktoren für eine komplexe Trauerreaktion. «Die Verarbeitung eines Verlustes braucht zudem psychische und soziale Ressourcen; fehlen diese, stellt das ein Risiko für einen komplizierten Trauerverlauf dar», ergänzt Hansjörg Znoj. Vorbeugung durch Unterstützung Die Vorbeugung traumatischer Trauerreaktionen bedingt die Unterstützung durch Angehörige und Freunde sowie das gesamte soziale Umfeld – inklusive des Arbeitsumfelds. Die Schwierigkeit stellt sich aber darin, dass eine komplexe Trauer nicht schnell sichtbar wird: «Die Diagnose der anhaltenden, komplexen Trauer wird manchmal erst Jahre nach dem Verlust gestellt und kann in der Regel von Mitarbeitenden oder Vorgesetzten nur schwer erkannt werden», so Znoj. Es gilt also genau wie bei allen anderen chronischen Krankheiten: Die Rückkehr in den Arbeitsalltag erfolgt am besten mit einer stufenweisen Wiedereingliederung. Bei Personen, die die erwähnten Risikofaktoren aufweisen, ist eine komplexe Trauerreaktion früher erkennbar und entsprechend sollten früh mögliche Rückkehrschritte definiert werden. Gleichzeitig sind aber auch Trauernde in der Pflicht: Sie sollen Hilfe einfordern und annehmen. Sprechen nämlich Trauernde offen über ihren Verlust und darüber, was sie brauchen, um ihren Arbeitsalltag zu bewältigen, hilft das den Betroffenen und dem Arbeitsumfeld.

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