Wird hier das bessere Google gebaut? Oder das nächste Zalando gezimmert? Falls es so ist, verläuft der Prozess original helvetisch: ruhig, konzentriert. An aufgeräumten Tischen tippen zwei Dutzend Übermorgenmenschen im Zürcher Kraftwerk auf ihren Laptops. Leise rieseln die Ideen. Das einstige Unterwerk im Zürcher Selnau-Quartier wird jetzt von Menschen bevölkert, die den Werkplatz Schweiz mit ihren Ideen elektrisieren werden. Menschen wie Laurene, 24, wollen nun mal nicht im Einzelbüro sitzen, sondern im Massenlager mäandrieren: «Hier bin ich nicht an einen Tisch gebunden», sagt die Organisationsberaterin, «ich kann flexibel und dynamisch mit Menschen arbeiten. Daraus ergeben sich ungeplante Gespräche und ein informeller Ideenaustausch.» Die Digitalisierung macht es möglich. Wenn sich heute jede und jeder per Laptop in den Werkplatz einwählen kann, dann kann das auch von irgendeinem Ort  aus passieren.

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Zum Beispiel vom voralpinen Hügelland aus. Siebzig Kilometer östlich vom Zürcher Kraftwerk wird leise getippt. Im Macherzentrum Toggenburg, der ehemaligen Post im Städtchen Lichtensteig, arbeitet ein gutes Dutzend Menschen. Jeder macht sein Ding. Etwa Peter, 49, der mit seiner Firma Green Ocean hochtoxische Industrieabwässer reinigen will: Aber nicht als Einzelmaske: «Warum soll ich alleine arbeiten? Im Leben ist es doch so: Du weisst nie, ob der Erfolg nicht schon hinter der nächsten Türe wartet.»

Befeuert von der Digitalisierung 

Das Macherzentrum Toggenburg und das Kraftwerk Zürich: So sehen die neuen Biotope der Arbeitswelt aus. Coworking-Spaces, in denen die Schweiz spintisiert und skaliert, gründet und groundet. Der Arbeitsacker, auf dem der «ideelle» Junggründer dem Corporate-Soldaten begegnet, auf dem sich Aussendienstler und Software-Nerds ein Pult teilen. Coworking-Platz Schweiz: Krawatte trifft Converse-Turnschuh zum Sex der Ideen. In der Stadt und auf dem Land. «Meetings, Workshops, Events», heisst es im Kraftwerk Zürich. In Lichtensteig: «Mer glaubed a üüs Toggäburger.»

Die Geschichte der Coworking-Spaces in der Schweiz ist jung. Vor etwas mehr als zehn Jahren legten die ersten Gemeinschaftsbüros hierzulande los: «Am Anfang standen 2007 die Coworking-Spaces Citizen Space in Zürich und Eclau in Lausanne», sagt Jenny Schäpper-Uster. Heute spricht die Präsidentin des Vereins Coworking Switzerland von rund 170 solcher Räumen, wo sich Hipster, Konzern-Soldaten und Digitalisierungs-Druiden treffen. Der durchschnittliche Schweizer Coworker ist männlich, 39 Jahre alt  und kann Firmengründer sein, aber auch ein Homeoffice-Arbeiter, der zu Hause nicht auf Touren kommt.  Experten schätzen die Zahl der Coworker inzwischen auf mehr als 10'000, die Hälfte von ihnen Freelancer, die Hälfte Angestellte. Die Schweizer Coworking-Spaces funktionieren in verschiedenen Grössen: Kleinere Ausgaben beginnen mit einer Handvoll Arbeitsplätzen auf unter 100 Quadratmetern. Der grösste im Lande, Gotham, in Lausanne, brummt mit 160 Arbeitsplätzen auf weit über 2000 Quadratmetern. 

«Coworking», sagt Schäpper-Uster, «hat sich von einem Trend zu einem Bestandteil der neuen Arbeitswelt entwickelt.» Befeuert werde die Bewegung vom Stau auf den Strassen, von den digitalen Möglichkeiten und dem Wunsch nach mehr Lokal- und Regionalbezug: «Immer mehr Leute wollen nicht mehr sinnlos im Stau stecken oder im überfüllten Zug sitzen; sie sind müde vom vielen Pendeln. Zwei oder drei Tage am Firmenhauptsitz sind genug, sie wollen sonst lieber in heimischer Gegend arbeiten.»

Ähnlich sieht das Hartmut Schulze, Leiter des Instituts für Kooperationsforschung und -entwicklung an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Er glaubt, dass das Coworking in nächster Zeit noch an Attraktivität gewinnen wird. «Wir beobachten in der aktuellen Büroraumentwicklung einen Trend hin zu Angeboten von Coworking-Bereichen in den Firmen selbst für Mitarbeitende, aber auch für Kundschaft und Partner.» Die Arbeitnehmer seien bereit. In einer Umfrage der FHNW aus dem Jahre 2016 gaben nurmehr 46 Prozent der Erwerbstätigen an, dass mobil-flexible Arbeit bei ihnen nicht möglich sei. Alle anderen könnten am sogenannten «dritten Ort», also in einem Büro ausserhalb der Wohnung und der Firma, arbeiten. 

Coworking

Kraftwerk Zürich: Rückzugsräume für Coworker

Quelle: marclatzel.com

Dritte Orte entstehen überall

Diese «dritten Orte», also Coworking-Spaces, sind inzwischen im ganzen Land angekommen. In luftiger Höhe in Laax (The Bridge) ebenso wie im Zigerschlitz (Digital Glarus); in der Altstadt Bern (Urban Fish) wie auch im sankt-gallischen Wil, wo in einer ehemaligen Stickerei das «Büro Lokal» nistet. Diese Form der Dezentralisierung helfe dem ganzen Land, sagt Peter Schiffhauer, Mitgründer vom Luzerner Coworking-Space Hirschengraben: «Nicht alle Innovatione in der Schweiz sollen in Zürich stattfinden.» 

Derzeit ergänzt Schiffhauer den Coworking-Space mit dem ersten Kapselhotel der Schweiz. Neunzehn Röhren, damit den digitalen Nomaden der Röhrenblick abhandenkommt: «Arbeiten und Übernachten im gleichen Haus ist ein Bedürfnis von digitalen Nomadinnen und Nomaden. Das stärkt Austausch, Innovation und Kreativität.» Die Stärke der Coworking-Spaces: Sie passen sich jeweils an die Umgebung an: So etwa im Wunderraum in Pfäffikon SZ. Das Gemeinschaftsbüro ist mit edlen Holz und Designmöbeln ausgestattet. Die Büros haben Seesicht; eine grosse Terasse und Telefonkabinen mit Designerlampen laden zur Arbeit. Die Coworker sind distinguiert. Meist C-Level-Manager, die in den Reichensiedlungen der Umgebung leben und ihren «dritten Ort» neben Familienvilla und Büro in Zürich gefunden haben. 

Sprichst du Cowork?

Barn-Raising Ein Begriff der Amish-People, der bedeutet, dass man sich in der Community gegenseitig hilft, etwa beim Aufbau einer Scheune («barn»). Er wird vor allem verwendet, wenn eine Community gleich mehrere Coworking-Spaces aufbaut oder betreut. Und sich dabei hilft.

Coworkation Ein Kofferwort aus «work» und «vacation» (Ferien). Gedacht für Leute, die im Coworking-Space nicht nur arbeiten, sondern gleich übernachten wollen. Das New Yorker Unternehmen Roam ist spezialisiert auf diese Lifestyle-Kombination, ebenso die mittelamerikanische Hotelgruppe Selina.
 
Coworking-Etikette Die Basisregeln im Gemeinschaftsraum. Nicht laut telefonieren. Keine Essensreste produzieren oder liegenlassen. Diskretion bewahren, falls einem Interna zu Ohren kommen. Gemeinschaftsflächen sauber halten. Gebuchte Termine einhalten.
 
Dedicated Desk Fixer eigener Schreibtisch im Coworking-Space, gegen Aufpreis buchbar.
 
Host Das ist der Betreiber des Coworking-Space und Gastgeber für die Coworker. Hubonauten Das sind – mindestens in der Sprache der Organisation Impact Hub – sozialkompetente Geister, die im Workspace als Host amten und dabei Member bei Laune halten, für geordneten Kaffeestrom sorgen und auch mal Führungen anbieten.
 
Serendipity Zufällige Beobachtung von etwas nicht Gesuchtem. Beschreibt, was Coworking eigentlich bezweckt: eine Inspirations-Tankstelle. Die Vernetzung mit Menschen, die man im konventionellen Arbeitszwinger nie getroffen hätte.
 
Soziokratie Idealistische Sichtweise eines Coworking-Space und seiner Mitglieder. Eine Organisationsform, die Mitverantwortung für das grosse Ganze wie auch für das einzelne Glied einer Community propagiert.

Kommt man in einem genossenschaftlich organisierten Coworking-Space meist ab 300 Franken monatlich unter, liegt der Wunderraum deutlich höher: Wer hier arbeiten will, zahlt bis zu 1000 Franken im Monat. Dafür gibts Empfangsservice, Designerstuhl und ein Top-Netzwerk. Vielerorts werden Coworking-Spaces von ideell geprägten Gründern getragen, die in ihren Räumen nicht nur Excel und Eigennutz spriessen sehen wollen, sondern den Community-Gedanken preisen. Man arbeitet mit im Kollektiv, spendet seine Zeit zum Teil auch fürs grosse Ganze. 

Daneben entdecken auch Firmen die Kraft der Coworking-Spaces. Konzerne wie Swisscom, SBB und Axa bringen sich ein. «Grossfirmen kommen, weil sie  Austausch suchen mit Menschen, die innovieren», sagt Schiffhauer. Besonders engagiert zeigt sich die ZKB, die im «Büro Züri» kostenlose Arbeitsplätze offeriert – an der Bahnhofstrasse. Am gleichen teuren Strang weihte Swiss Life jüngst einen Coworking-Space für Frauen ein. Affiche: «Weibliche Werte und Empfindungen als Gewinn».  

Coworking

Coworking in der alten Post in Toggenburg

Quelle: marclatzel.com

Reicht der Kuchen für alle?

Wenn sich Konzerne einbringen, zeigen sich unterschiedliche Erfolgsquoten: In manchen Coworking-Spaces steht ein grosser verwaister Tisch mit Corporate-Logo-Fähnchen. Oft ändert sich die Ausrichtung der Spaces mit den Mietern. Coworking boomt auch deshalb, weil es flexibel reagieren kann auf die, die drinnen sitzen, und auf die Umgebung. Reicht der Coworking-Kuchen für alle Anbieter? Nicht sicher: «In der Studie der weltweiten Coworking-Plattform Deskmag ist ein hoher Prozentsatz von Neugründungen,  aber auch Schliessungen feststellbar», so Schulze. «2017 gaben 41 Prozent der Coworking-Spaces an, sie seien profitabel, 23 Prozent waren unprofitabel. Internationale Coworking-Anbieter wie Spaces oder Number 18, die verstärkt ins Land drängen, werden die Szene professionalisieren. 

Ein gute Portion Coworking-Gründercharme dürfte aber hierzulande überleben. Weil das wichtig ist für idealistische Gemeinschaftsarbeiter wie Peter Muth in Lichtensteig: «In der alten Post wurde ein neues Licht angeknipst. An jedem Pult eine neue Geschichte.»

Coworking-spaces: Eine helvetische Typologie

Okay, wenn wir dir «du» sagen? Du, das machen hier alle so. Weisst du, wer du bist? Cool, denn so findest du heraus, in welchen Coworking-Space du reinpassen könntest. Vielleicht stiftest du dort ja sogar Mehrwert. 
 
Startup-Fussvolk
Du hast einen Laptop. Du willst nicht lamentieren, sondern skalieren. Du willst das nächste Google bauen. Oder mindestens Leute um dich herum spüren, die das auch versuchen. Geld? Ist zum Verbrennen da. Mate-Tee? Ist dein Betriebsstoff. Hipster? Ja, so nennen dich die Leute manchmal. Oder du bist als digitaler Nomade ständig auf Achse, weil du wichtige Leute treffen musst, die dir helfen sollen, den Planeten mit deinem Projekt aufs nächste Level zu bringen. Was du dazu brauchst: Schnelles WLAN, Fairtrade-Kaffee und ein Mindestmass an Inspiration pro Quadratmeter Coworking-Space.
Spaces für dich: Café Auer Zürich, Gotham Lausanne.

Home-Office-Flüchtlinge
Deine Firma erlaubt dir, pro Woche einen Tag im Homeoffice zu arbeiten. Aber lustig ist das nicht: Denn bei dir zu Hause lärmen Kinder, dort müsste endlich mal geputzt und aufgeräumt werden. Also nistest du dich in einem Coworking-Space ein, der nahe liegt von deinem ländlichen Zuhause. Weil du schon ewig lange im gleichen Grossunternehmen Dienst tust, kannst du dort auch neue Luft schnuppern und andere Leute kennenlernen. Jetzt musst du denen im Headquarter nur noch dieses komplizierte Wort der «Serendipity» (siehe Glossar) erklären. Auf Schweizerdeutsch. 
Spaces für dich: Coworking Wyland, Büro Lokal Wil.
 
Selbstoptimierer
Du bist deine eigene Chefin, dein eigener Chef. Wenn du sprichst während der Arbeit, dann höchstens ins Telefon, das bei dir ein High-End-Headset ist. Mit den Leuten rundherum sprichst du nicht. Ruhe ist die erste Bürobürgerpflicht. Dir ist Effizienz wichtiger als das gemeinsame «Cowork-Cook-out» oder die Yogastunde bei abgeschaltetem WLAN-Netz. Wenn du nicht CEO, COO oder CFO bist, führst du vielleicht ein Leben als Aussendienstler. Früher hast du im Coop-Restaurant deine Listen abgearbeitet. Und jetzt eben im Coworking-Space, weil: praktisch. Und weniger Pensionäre, die laut jassen.
Spaces für dich: Büro Züri (ZKB Bahnhofstrasse Zürich), Wunderraum Pfäffikon. SZ
 
Weltverbesserer
Du verlangst von Coworking-Betreibern ein 50-seitiges Mission-Statement, das die Einbettung des Spaces in das soziokulturelle Umfeld der Stadt analysiert. Du arbeitest nicht nur an deinem Projekt, 15 Prozent deiner Arbeitszeit gibst du der Community zurück, indem du putzt, kochst oder neue Coworker auf ihre Passung überprüft. Bei der nächsten Diskussion im Plenum wird über deine zukünftigen Aufgaben abgestimmt.
Spaces für dich: Effinger Bern, Hyve (Ex-LifeHub) Basel.

Andreas Güntert
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Stefan Mair
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