Bilanzsaison: Börsenjubel und Rezessionsängste – darum ist das Gemisch gefährlich

Die Welt der Anleger und Anlegerinnen ist rosa gefärbt, denn das neue Börsenjahr ist mit einem Tusch und steigenden Kursen gestartet. Selbst eine US-Rezession, die allgemein in diesem Jahr erwartet wird, scheint die Stimmung nicht zu trüben. Denn, so die rosa gefärbte Einschätzung, diese Rezession werde eine der flachsten und kürzesten überhaupt. Im Gesamtjahr aber, glauben die Marktakteure, würden die Gewinne der Unternehmen trotz der Minirezession steigen. Eine Rezession und trotzdem steigende Gewinne? Dieses Szenario ist unwahrscheinlich. Denn: Wenn die US-Wirtschaft hustet, bekommt die westliche Börsenwelt Fieber. In der Rezession nach der Dotcom-Euphorie der Jahrtausendwende brachen die Gewinne der internationalen Unternehmen um über 50 Prozent ein (gemessen am realisierten Gewinn pro Aktie). Die Rezession der globalen Finanzkrise brachte einen Gewinnrückgang von fast 70 Prozent; in der kurzen Corona-Rezession war es ein Minus von 30 Prozent. Selbst in der nicht als Rezession gewerteten, schwierigen Börsenphase der Jahre 2015/2016 kam es zu einem Gewinnrückgang von 20 Prozent. Trotz dieser Historie glauben die Börsianer an Gewinnsteigerungen in diesem Jahr. Die euphorische Stimmung zeigt sich auch an den Gewinnerwartungen für dieses Quartal. Die Gefahr: Sollten diese Erwartungen enttäuscht werden, dürfte eine Kurskorrektur die Folge sein. Die Gewinnschätzungen der Analysten sind so optimistisch, dass sie selbst dann ambitioniert sind, wenn es dieses Jahr keine Rezession gäbe. Für US-Firmen gehen sie von einer Gewinnsteigerung um 9 Prozent für das Gesamtjahr aus, bei internationalen Unternehmen sind es sogar 10 Prozent. Euphorie wie zu den besten Zeiten Noch vor zwei Monaten schätzten sie das Gewinnwachstum der Firmen im Weltaktienindex MSCI World auf lediglich die Hälfte, also 5 Prozent. Die jetzt höheren Erwartungen wurden davon getrieben, dass die Inflation nun vielerorts zurückgeht. Das hat zu einem massiven Stimmungsumschwung geführt, von Besorgnis nahtlos zu Euphorie. Letztere ist so aktuell so stark, dass die Gewinnschätzungen für internationale Unternehmen derzeit 20 Prozent über dem langfristigen Trend liegen. Für US-Unternehmen liegen die Schätzungen sogar 35 Prozent über dem Trend. Aber Gewinne haben die hartnäckige Eigenschaft, zu ihren langfristigen Mittelwerten zurückzukehren. Wenn das passiert, braucht es nicht einmal eine Rezession, um deutliche Kursverluste auszulösen. Wie gross die Risiken sind, zeigen nicht zuletzt die Zahlen von Goldman Sachs. Der Gewinn der US-Investmentbank war im letzten Quartal 2022 ganz ohne Rezession um zwei Drittel eingebrochen. Auf diese Meldung sackte der Aktienkurs der Prestige-Bank innerhalb eines Tages um 6,5 Prozent ab. Falls sich derartige Negativüberraschungen häufen, könnte es eng werden für ein positives Börsenjahr. Für langfristig orientierte Privatanleger scheint es weiterhin opportun, sich defensiv aufzustellen, trotz der aktuell um sich greifenden Hurrastimmung.