Das können Anlegerinnen und Anleger von Skandalen wie Wirecard, Theranos und FTX lernen

Männlich, zwischen 36 und 55 Jahre alt, seit mindestens fünf Jahren im Betrieb und in einer Führungsposition tätig: Das ist der typische Wirtschaftskriminelle. Er ist keine dubiose Schattengestalt, kein kriminelles Mastermind, sondern ein banaler Betrüger, der in der Regel ein überhöhtes Selbstwertgefühl mit sich bringt und nach Anerkennung giert. Das zeigt eine Analyse des Wirtschaftsprüfers KPMG. Markus Braun, der gestrauchelte Chef des deutschen Finanzdienstleisters Wirecard, der sich seit einer Woche in einem Mammutprozess verantworten muss, ist ein solcher Typ. Elizabeth Holmes, die mit ihrer Blutanalysefirma Theranos sogar Promis wie den ehemaligen US-Aussenminister Henry Kissinger und Medienmogul Rupert Murdoch für sich einnahm, passt ebenfalls in das Charakterschema. Und der Gründer der Kryptobörse FTX, Sam Bankman-Fried, reihte sich kürzlich ebenfalls ein in die Welt der narzisstischen Unersättlichkeit. Die Folgen für Anlegerinnen und Anleger: massive Verluste. Sie werden einen Grossteil ihrer Investments mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit nie mehr sehen. Jeder und jede Einzelne aus dem Trio hat einen kometenhaften Aufstieg hinter sich. Braun mauserte sich vom introvertierten Pfefferminzteetrinker zur grossen Technologiehoffnung Deutschlands. Holmes, die Studienabbrecherin, war zeitweise die jüngste Selfmade-Milliardärin der Welt. Und der grösste FTX-Investor feierte Bankman-Fried bereits als den ersten Menschen, dessen Vermögen 1000 Milliarden übersteigen werde. Braun und Holmes wurden jeweils mit dem legendären Apple-Gründer Steve Jobs verglichen, Bankman-Fried galt schon als der nächste Warren Buffett. Spektakulärer als der Aufstieg war nur der Fall. Brauns Kartenhaus fiel zusammen, nachdem die «Financial Times» über Jahre und in präziser Feinstarbeit Details zu aufgeblähten Umsätzen publiziert und das Unternehmen in eine Sonderprüfung gezwungen hatte. Die Wirtschaftsprüfer weigerten sich letzten Endes, die Bilanz zu testieren, unter anderem weil mindestens 1,9 Milliarden Euro nicht mehr auffindbar waren. Der Konzern löste sich in Luft auf. Holmes startete ihr Unternehmen, als sie 19 Jahre alt war. Mit 31 Jahren war sie eine gefeierte Gründerin mit einem geschätzten Vermögen von 9 Milliarden Dollar, aber nicht alle schluckten die Erfolgsstory. Ein Reporter des «Wall Street Journal» heftete sich an die Fersen der Unternehmerin und sorgte schliesslich dafür, dass der Betrug aufflog. Holmes kassierte eine Haftstrafe in der Höhe von elf Jahren. Bankman-Frieds Kryptowunderwelt implodierte, nachdem Kunden und Kundinnen im Rekordtempo ihr Geld abgezogen hatten. 100 Millionen Dollar flossen in der Spitze pro Stunde ab. Der Sturm legte die Milliardenlöcher im System offen und führte in die Insolvenz. Plötzlich stand der Kaiser ohne Kleider da, Bankman-Frieds Lügengebäude war enttarnt, das Organisationsversagen Tatsache. Das Problem mit der Due Diligence Grosse Namen, grosse Firmen – aber auch megagrosse Verluste. So sieht leider oft die Realität für Anlegerinnen und Anleger aus. «Man darf sich von grossen Namen nicht blenden lassen», sagt Sven Millischer, einst investigativer Journalist, mittlerweile als Experte für Betrugserkennung unterwegs. Er ist Head of Open Source Intelligence bei der Zuger Firma AC Assets Control und in diesem Sinne die Spürnase der Reichen. Denn wer viel Geld hat und investieren will, nutzt die Dienste des Unternehmens, um das Gegenüber auszuleuchten. «Wir sind von Berufs wegen bösgläubig», sagt Millischer. Anlegerinnen und Anleger warnt er vor zu viel Vertrauensseligkeit, einem blinden Glauben an eine Erfolgsstory und grossen Renditeversprechen. Bei Betrugsfällen gebe es «wiederkehrende Muster», sagt er. «Investoren und Investorinnen, die unbedingt an die Geschichte glauben wollen, aber auch eine grosse Portion Gier.» Eine gründliche Sorgfaltsprüfung sollte im Regelfall Sicherheit geben, ist aber keine Garantie dafür, dass man nicht doch Opfer eines gross angelegten Betrugs wird. Wirecard hat über Jahre Anlegende, Banken, Prüferinnen, Prüfer und Aufsicht getäuscht, zum Teil mit relativ einfachen Tricks, zum Teil mit elaborierten Strategien. Das Management fingierte Umsätze, kreierte Scheingeschäfte und Scheinunternehmen und versteckte das alles in verschachtelten Strukturen in Singapur und auf den Philippinen. «Das Grundproblem ist die inhärente Wissensasymmetrie zwischen dem Management und den Investoren und Investorinnen», sagt Millischer. «Aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg.» Wer sich vor Betrügerinnen und Betrügern schützen wolle, solle nur in Geschäftsmodelle oder Produkte investieren, die verständlich sind. «Genau mit dem haben Theranos oder FTX gespielt», sagt Millischer. «Das waren extrem auf Komplexität getrimmte Geschäftsmodelle, die am Ende des Tages eigentlich niemand verstanden hat. Aber niemand getraute sich, die wirklich einfachen Fragen zu stellen.» Sein Rat: «Finger weg von dem, was man nicht versteht.» Wenn das Management nie wechselt Finanzielle Kennzahlen, sofern vorhanden, sind häufig der Startpunkt für die Analyse eines Unternehmens. «Wie viel Free Cash Flow hat die Firma, wie ist der Verschuldungsgrad, wie sehen die Goodwill-Positionen aus, hat es viele offene Forderungen? Genau bei diesen einfachen Zahlen lohnt es sich, misstrauisch zu werden und zu schauen, ob das im Einzelfall Sinn ergibt, um dann im Gesamtkontext zu analysieren, was das für das Investment bedeutet», sagt Millischer. «Und immer aufpassen, wenn Unternehmen mit adjustierten Kennzahlen operieren – da wird viel getrickst.» Was auch misstrauisch machen muss: Wenn das Management nie wechselt. «Wirecard ist ein gutes Beispiel, da haben die Schlüsselpersonen nie gewechselt. Warum? Sie konnten nicht weg, weil der Betrug sonst sofort aufgeflogen wäre», so Millischer. Tatsächlich versuchte Wirecard in einem letzten Aufbäumen, die Deutsche Bank zu schlucken. Der Deal war eine aggressive Vorwärtsstrategie, um die Tricksereien in der gigantischen Bilanz des Rivalen zu versorgen. Hätte es geklappt, wäre der Betrug möglicherweise nie aufgeflogen. Der Wahnsinnsplan lief unter dem Codenamen «Projekt Panther». Das bei Wirecard fehlende Geld wäre irgendwann und irgendwo als Aufwendung im Fusionsprozess verbucht worden. Kein Hahn hätte danach gekräht, Wirecard wäre heute höchstwahrscheinlich immer noch der Liebling der deutschen Tech-Szene, Braun nicht nur ein gefeierter Manager, sondern wohl auch noch Präsident des fusionierten Kolosses. Braun kam kurz nach dem Platzen der Dotcom-Blase zu Wirecard. Er setzte der Firma, die damals finanziell angeschlagen war, eine Finanzspritze und übernahm die Leitung des unscheinbaren Zahlungsabwicklers am Rand von München. Ein Jahrzehnt lang flog das Unternehmen weitestgehend unter dem Radar, danach begann der Aufstieg bis in den wichtigsten deutschen Aktienindex. 2018 verdrängte Wirecard die alteingesessene Commerzbank. 90 Prozent des Umsatzes seien nicht vorhanden gewesen, wirft die Staatsanwaltschaft dem Wirecard-Management vor. Die Betrügereien hätten spätestens 2015 angefangen. Die Kurzfassung der Anklageschrift ist 89 Seiten lang, bis zu 16 Polizeibeamte waren in der Spitze mit dem Fall beschäftigt. Dazu kamen spezialisierte Ermittlerinnen und Ermittler mit Fachexpertise, die unter anderem nach dem getürmten Jan Marsalek suchen, einst die rechte Hand von Braun, heute sein Sündenbock. Der gefallene Manager beteuert seine Unschuld, er sieht sich als Opfer eines gigantischen Schwindels, der 20 Milliarden Euro bei den Aktionären und Aktionärinnen und 3 Milliarden Euro bei den kreditgebenden Banken vernichtet hat. Realitätsleugnung, fehlende Einsicht und eine Art Hyperoptimismus seien ganz typische Reaktionen, wie ein führender forensischer Psychiater zur deutschen «Welt» sagt. Er attestiert Managern wie Braun eine «machiavellistische Intelligenz», die sie dazu befähige, andere für ihre Zwecke zu benutzen. Braun hat sich immer wieder als vermeintlichen Heilsbringer verkauft. Er, der Sohn einer Lehrerin und eines Volkshochschulleiters, der behütet im bürgerlichen Wien aufgewachsen ist und fleissig Geige spielte, sonnte sich im Ruhm, genoss die Aufmerksamkeit und das Geld. Plötzlich häufte er Immobilien in Wien, München, Kitzbühel und an der Côte d’Azur an. Einen kritischen Investor lud er zur Privataudienz, zum Gespräch von «Milliardär zu Milliardär», um ihm zu erklären, was er, Braun, Grossartiges mache. «Das Heilsbringerschema ist ein Alarmsignal», sagt Millischer. Braun sei der Prototyp: Smarter Fintech-Guy im Rollkragen und mit Steve-Jobs-Aura, der immer wieder betont habe, dass er die Branche in die Zukunft führen werde. «Die Leute wollen Heldinnen und Helden, bei Elizabeth Holmes war es auch so; sie wollte das Gesundheitswesen revolutionieren.» Und Millischer fügt an: «Wer zu Überhöhung neigt, kann sehr tief fallen.»Wirtschaftskriminalität in der Schweiz Der Wirtschaftsprüfer KPMG publiziert jedes Jahr den «KPMG Forensic Fraud Barometer», basierend auf den öffentlich verhandelten und medial publizierten Gerichtsfällen. Berücksichtigt werden ausschliesslich Verurteilungen bei einer Deliktsumme von 50’000 Franken und mehr. Demnach haben Schweizer Gerichte 2021 68 Fälle von Wirtschaftskriminalität beurteilt, darunter sieben Fälle im Zusammenhang mit Covid-19-Krediten. Der Gesamtschaden belief sich auf 567 Millionen Franken, wobei ein einziger Betrugsfall mit 300 Millionen Franken zu Buche schlug. Öffentliche Institutionen waren am häufigsten von Wirtschaftskriminalität betroffen (25 von 68 Fällen). Privatpersonen bilden die grösste Tätergruppe, gefolgt vom Management und von gewerbsmässigen Betrügerinnen und Betrügern. Bei Managern und Managerinnen lag die durchschnittliche Deliktsumme bei knapp 7 Millionen Franken. Zürich war 2021 am stärksten von Wirtschaftskriminalität betroffen: Mit 22 von 68 Fällen entfiel knapp ein Drittel der verhandelten Straftaten auf diese Region – im Vorjahr waren es noch 8. In der Genferseeregion, die im Vorjahr mit 19 am meisten Wirtschaftsdelikte verzeichnete, wurden 2021 nur 6 Fälle verhandelt.