Die Gründe für den britischen Bond-Crash – und was das für die Finanzmärkte bedeutet

Zahlreiche britische Pensionskassen wären Ende September fast bankrottgegangen und hätten damit wahrscheinlich eine Kernschmelze des britischen Finanzmarktes ausgelöst. Deswegen musste die Bank of England (BoE), die britische Zentralbank, blitzschnell eine Notrettung durchführen. Wie konnte es so weit kommen? Jeder Finanzmarkt ist ein komplexes System, das verschiedene Zustände kennt. Manchmal zeigt er sich überaus robust, selbst grössere Negativfaktoren können ihm nichts anhaben. Aber manchmal neigt er zur Instabilität. Dann entstehen schnell Brüche im Finanzsystem, die auch von relativ unbedeutenden Ereignissen ausgelöst werden können – wer sich an die Chaostheorie erinnert, kennt das Bild des Flügelschlags eines Schmetterlings, der einen Sturm auslösen kann. Leider ist es oft so, dass erst im Nachhinein erkennbar wird, dass ein Finanzmarkt sich in einem labilen Zustand befunden hatte. Das gilt für den britischen Bondmarkt: Er war in einem labileren Zustand, als es die meisten Marktakteure und Marktakteurinnen dachten. Im Prinzip gab es drei Faktoren, die im Zusammenspiel die Notfallsituation heraufbeschworen: Die Finanzstrategien der Pensionskassen Die jahrelange Finanzrepression der Zentralbank (Tiefzinspolitik) Eine unfähige Regierung (selbst Leute aus den eigenen Reihen bezeichnen die Handlungen von Premierministerin Liz Truss und Finanzminister Kwasi Kwarteng mittlerweile offen als «inkompetenten Irrsinn») Derivate und geliehenes Geld Pensionskassen setzen normalerweise vor allem auf besonders sichere Anlagen wie lang laufende Obligationen. Diese Anlagen decken im besten Fall alle zukünftigen Zahlungen an die Versicherten. Wenn aber die Zentralbank die Zinsen drückt, gehen die Einnahmen der Pensionskassen zurück, und es kann zu einer Unterdeckung kommen. Das heisst, die Pensionskassen haben zu wenig Kapital beziehungsweise zu geringe Kapitaleinkünfte, um damit allen zukünftigen Verpflichtungen nachzukommen. Genau das passierte in Grossbritannien: Um die Unterdeckung auszugleichen, nahmen die Pensionskassen vermehrt riskantere Positionen ins Portfolio auf, etwa Unternehmenskredite, Aktien und Immobilien. Dabei versuchten sie, diese zusätzlichen Risiken durch Derivate abzusichern. Zu diesem Zwecke liehen sie sich Geld, wobei sie ihre sichersten Werte, britische Staatsanleihen, als Pfand einsetzten. Die Angebotspolitik der Regierung Truss Nun kommt die neue Regierung ins Spiel, also Premierministerin Liz Truss und Finanzminister Kwasi Kwarteng. Die beiden sind Anhänger der «Angebotspolitik», einer überaus umstrittenen Finanztheorie. Die Angebotspolitik geht davon aus, dass Steuersenkungen die Inflation verringern. Dies steht im krassen Gegensatz zur herrschenden Lehrmeinung, die sich vor allem an der Nachfrage orientiert. Wenn die Steuern gesenkt würden, so die konventionelle Ansicht, hätten die Unternehmen und Haushalte mehr Geld zur Verfügung als vorher, und dies steigere die Nachfrage. Eine grössere Nachfrage heize tendenziell die Preise an und erhöhe die Inflation. Die Angebotspolitik behauptet genau das Gegenteil. Als Anhänger dieser Theorie stellten Truss und Kwarteng der Öffentlichkeit am 23. September ein Budget vor, das die Steuern für Unternehmen und Superreiche um 45 Milliarden Pfund senkte, finanziert durch eine Erhöhung der Staatsverschuldung um 72 Milliarden Pfund. Wegen der höheren Schuldenlast war das Risiko gestiegen, dass Grossbritannien allenfalls irgendwann nicht mehr zahlen könnte. Deswegen stiegen die Risikoprämien, also die Zinsen auf den Anleihen. Das wiederum ist gleichbedeutend damit, dass die Kurse der Staatsanleihen fallen. Genau damit gerieten die Pensionskassen in Bedrängnis. Sie hatten ihre Staatsanleihen als Sicherheit für Kredite eingesetzt, und weil diese Sicherheiten nun weniger wert waren, verlangten die Gläubiger der Pensionskassen ihrerseits mehr Sicherheiten, also Geld von den Pensionskassen. Das Geld hatten die Pensionskassen nicht flüssig, weshalb sie verkauften, was sie möglichst leicht verkaufen konnten. Das waren die britischen Staatsobligationen. Das verringerte deren Wert noch weiter. Ein Teufelskreis. Die Bank of England musste Nothilfe leisten. So weit, so gut, aber die Probleme sind nicht gelöst, und Kwarteng und die Regierung Truss sind alles andere als einsichtig oder reuig. Sie behaupten, es wäre die Schuld der BoE, wenn es zu neuen Verwerfungen käme, weil die Zentralbank angekündigt hatte, dass sie die Märkte nur bis zum 14. Oktober unterstützen werde. Bis dahin müssten die Marktakteure ihre Probleme bereinigt haben. Es bleibt also spannend und wild in Grossbritannien. Vorbote weiterer Krisen Eine wichtige Erkenntnis daraus ist wieder einmal, dass die Krise nicht dort entstand, wo Expertinnen und Experten vermuteten, sondern an einem eigentlich unauffälligen Ort. Eben nicht bei stark gehebelten Hedgefonds oder bei zu schwach kapitalisierten Banken, sondern bei den vermeintlich unauffälligen Pensionskassen. Zudem ist die Krise in Grossbritannien auch als Warnung und Vorbote von weiteren Krisen zu interpretieren. Auch wenn andere Länder vielleicht kompetentere Regierungen haben, bleibt das Grundproblem dasselbe: Nach 15 Jahren ultraniedriger Zinsen und einem Boom bei Aktien und Obligationen hat sich der Wind gedreht. Das macht die Finanzmärkte labil und anfällig für Brüche, die auch vom Flügelschlag eines Schmetterlings ausgelöst werden können. Es gibt viele Risiken: Die Zentralbanken auf der ganzen Welt, angeführt von der US-Notenbank, straffen die Geldpolitik, um die höchste Inflation seit vier Jahrzehnten in den Griff zu bekommen. Gleichzeitig hat Europa enorme Probleme, seine für zentrale Industrien wichtige Energieversorgung auch nur einigermassen sicherzustellen. Und das sind nur zwei von zahlreichen Risikoherden. So gesehen ist es kein Wunder, dass sich die europäischen Finanzmärkte in einem labilen Zustand befinden. Kein Lehman-Moment Die beruhigende Nachricht ist, dass die Probleme im englischen Bondmarkt wohl kein Lehman-Moment sind. Es scheint unwahrscheinlich, dass sie entscheidend auf andere Finanzmärkte ausstrahlen. Die weniger beruhigende Nachricht: Die Probleme in Grossbritannien entsprechen wahrscheinlich dem Kanarienvogel, der in der Kohlenmine verendet und anzeigt, dass da etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Wenn ein Zinsanstieg einen Bondmarkt kollabieren lässt, weil vermeintlich langweilige Pensionskassen in Schwierigkeiten geraten – was schlummert denn da noch alles unter der Oberfläche der Finanzmärkte? Die Warnung des ESRB Diese Frage stellt sich auch das European Systemic Risk Board (ESRB). Beim ESRB handelt es sich um ein Beratungsgremium, das nach der globalen Finanzkrise eingerichtet wurde. Es soll die makroprudenziellen Risiken überwachen, die unter der Oberfläche der europäischen Wirtschaft brodeln. Und dieses Gremium hat Ende September eine generelle Warnung veröffentlicht. Es ist das erste Mal seit seiner Gründung im Jahr 2010, dass das ESRB einen so drastischen Schritt unternimmt. Dies ist umso beunruhigender, als dass das ESRB praktisch eine Abteilung der Europäischen Zentralbank EZB ist. Und Zentralbanken sind normalerweise die Letzten, die zugeben, dass eine Krise imminent ist. Trotzdem warnt also das ESRB, und zwar vor Risiken, welche die Finanzmarktstabilität gefährden können. Dabei könnten diese Risiken plötzlich und gleichzeitig auftreten, miteinander wechselwirken und sich gegenseitig verstärken. Angesichts solcher Warnungen und angesichts der Tatsache, dass sich solche Risiken auf einzelnen Märkten bereits manifestieren, sollten Privatanlegende ihre Portfolios weiterhin defensiv ausrichten.

Die Gründe für den britischen Bond-Crash – und was das für die Finanzmärkte bedeutet

Die Gründe für den britischen Bond-Crash und die Folgen für Märkte