Rekord im Westen, Verluste in Fernost: Die China-Börse im Check

Die chinesische Stadt Baotou liegt rund 700 Kilometer westlich von Peking. Die Landschaft ist karg, die Trockenheit der Wüste Gobi definiert das Bild. Im Norden verläuft die mongolische Grenze. Knapp über zwei Millionen Menschen leben in der Metropolregion. Das ist relativ bescheiden für chinesische Verhältnisse. In Peking sind es deutlich über 20 Millionen. Baotou ist aber das Herz der neuen chinesischen Wirtschaft. Die Stadt mit den rauchenden Cheminées, einst bekannt als Stahlwerk der Region, ist die Hauptstadt der industriellen Förderung der Seltenen Erden. Ohne diesen Rohstoff gibt es kein Smartphone, kein Elektroauto, keine LED-Lampen, Notebooks und andere Hightech-Produkte. China ist der weltgrösste Förderer dieser Mineralien, Baotou das grösste Abbaugebiet. Das gibt der Stadt einen latenten Sulfur-Duft und weltweite Bedeutung. Baotou ist ein Symbol des modernen Goldrausches. Die Stadt ist bezeichnenderweise auch die Heimat der besten Aktie Chinas. Fast 300 Prozent hat das Papier des Rohstoffförderers China Northern Rare Earth seit Jahresbeginn zugelegt. Keine Aktie aus dem wichtigen CSI 300 Index, der die kapitalstärksten Firmen des Landes listet, schlägt diese Performance. Die Firma setzt sich mit Abstand an die Spitze. Auf Platz zwei folgt ein Energie- und Batterieunternehmen. Bronze geht an einen Halbleiter-Produzenten. Gold aber schnappt sich die Abbaufirma, die nicht nur von Chinas Dominanz in diesem Sektor profitiert, sondern auch vom politischen System. Peking unterstützt das Unternehmen. Und das ist der entscheidende Punkt in Fernost: die kommunistische Partei. Sie ist Taktgeber. Marktmacher. Richter. «Die Regierung in Peking kann über Nacht ganze Industrien zu Fall bringen», sagt Wirtschaftsautorin Elisabeth Tester. «Aber sie kann auch den umgekehrten Fall bewirken und für bestimmte Branchen äusserst vorteilhafte Rahmenbedingungen schaffen.» Tester ist eine profunde Kennerin der Region. Sie lebt und schreibt in Schanghai. Sie ist eine genaue Beobachterin des Marktes. Vor wenigen Jahren publizierte sie einen Anlagekompass für China. Tester reiste bereits in den 1980er Jahren durch das Land. China war damals eine Welt für sich, ein anderes Konstrukt. Konstant blieb aber der grosse Einfluss der Politik. «Was die Regierung will, setzt sie durch», sagt Tester. Und die Regierung will eine wachsende Wirtschaft. Ein Plus beim Konsum. Vor allem aber: die Unabhängigkeit von Schlüsseltechnologien aus dem Ausland. Peking will die Kontrolle. In gewissen Bereichen sogar die volle Kontrolle. So etwa bei den Seltenen Erden. Die Politik gibt vor, wer wie viel abbauen darf. Im vergangenen Jahr lag die Quote gesamthaft bei 140’000 Tonnen. In diesem Jahr ist das Ziel auf 168’000 Tonnen angehoben, um der global steigenden Nachfrage im Nachgang zur Pandemie gerecht zu werden. Eine Ausfuhr oder ein Verkauf von entscheidenden Technologien ins Ausland ist verboten. Damit die anderen Staaten weiterhin am Tropf von China hängen – allen voran die USA. Politik erdrückt Kursfantasie Die Folge dieser Politik am Aktienmarkt: Manche gewinnen, so etwa die Aktie des Rohstoffförderers aus Baotou. Andere aber verlieren. Die Macht des Staates erdrückt Kursfantasien. Der Primat der Politik sorgt dafür, dass die Wirtschaft in Ketten bleibt und die Kräfte des freien Schaffens nicht voll ausgespielt werden können. Beispiel Alibaba: Der Staat hat den mächtigen Handelskonzern mir nichts, dir nichts ausgehebelt. Der Börsengang der Finanztochter Ant Financial hätte mit einer Bewertung von 35 Milliarden Dollar einen Weltrekord aufstellen können, löste sich aber in Luft auf. Alibaba-Übervater Jack Ma war monatelang nicht mehr auffindbar. Auf Insistieren der Politik musste Alibaba sich auch für den Konkurrenten Tencent, bekannt für die Kommunikationsplattform Wechat, öffnen. Exklusive Partnerschaften: gestrichen. Beispiel Bildungssektor: Von einem Tag auf den anderen kündigt der Staat neue Regularien für die Nachhilfebranche an. Ausserschulische Angebote während und an den Wochenenden sind verboten, Konzerngründungen untersagt, bestehende Firmen müssen sich als «gemeinnützig» registrieren lassen. Das bedeutet, dass die Gewinne nicht mehr an die Eigentümer fliessen dürfen. Es ist eine Hinrichtung einer ganzen Branche, ein Ausmerzen eines Booms. Die Folge: ein Massenexodus beim Kapital. Die Börse in Schanghai, Shenzhen und Hongkong, dem Einflussbereich der kommunistischen Partei, hat sich vom weltweiten Trend entkoppelt. Milliarden sind abgezogen, zahlreiche Aktien tiefrot. Während andernorts Rekordbewertungen erzielt werden, verlieren Anleger in China Geld. Die Zahlen sprechen Bände: Der MSCI World Index, der die Kursentwicklung von rund 1600 Aktien aus 23 Industrieländern abbildet, hat seit Januar über 20 Prozent zugelegt (siehe Grafik). In die gleiche Richtung zielt der Swiss Performance Index (SPI), dessen Universum 213 Aktien umfasst – von ABB über Leonteq, Kudelski, Mobilezone bis zu Zurich Insurance. Und der Swiss Market Index (SMI) erzielt eine Performance von über 15 Prozent. China aber ist rot. Tiefrot. Mit den wiederholten extremen Eingriffen des Staates begann die grosse Entkoppelung vom weltweiten Aufwärtstrend. Seit Juni bewegen sich die Kurse nicht mehr im Gleichtakt mit dem Rest der Welt. Das Minus beim Hang Seng in Hongkong, wo die für internationale Investoren interessanten H-Shares gelistet sind, liegt bei 7 Prozent. Der CSI 300 Index, wo die A-Shares gehandelt werden, hat seit Januar sogar fast 10 Prozent verloren. Die grosse Entkoppelung Es ist nicht das erste Mal, dass der chinesische Markt mit einer schwachen Performance auffällt. Die chinesischen Börsenplätze verlieren auch im Fünfjahresvergleich. Auf dieser Basis schaffen der SPI und der MSCI fast eine Verdoppelung. Beim Hang Seng Index resultiert aber nur ein mageres Plus von 8 Prozent. Und beim CSI 300 Index sind es nur knappe 43 Prozent. Auffällig ist der Niedergang der chinesischen Börse in der Pandemie. Nach dem Crash vom März 2020 erlebten die in Shenzhen und Schanghai gehandelten A-Shares einen Boom. Die Kurse schnupperten Höhenluft, bevor sie, abgeschreckt von der harten Hand der Politik, wieder tauchten. Als Folge dieser Kapriolen sind die Aktien in China immer noch relativ günstig bewertet, wie auch Matthias Geissbühler sagt. Er ist Investmentchef der Raiffeisen-Gruppe und hebt zwei Kennzahlen hervor: das Kurs-Gewinn- und das Kurs-Buchwert-Verhältnis. Ersteres ist gemeinhin der Goldstandard der Aktienanalyse. Es teilt den Börsenkurs durch den Gewinn – je tiefer der Wert, desto günstiger die Aktie. Zweiteres ist ein Mass dafür, wie viel Luft im Preis ist. Es stellt den Börsenwert in Relation zum tatsächlich in der Bilanz ausgewiesenen Vermögen. Beide Kennzahlen sind im weltweiten Vergleich tief (siehe Tabelle oben). Sowohl beim Hang Seng als auch beim CSI 300. Beim Hang Seng fällt insbesondere der tiefe Wert beim Verhältnis des Börsenkurses zum Buchwert auf. Beim SMI und beim MSCI liegt diese Bewertung beim Dreifachen dessen, was in den Büchern ausgewiesen ist. In Hongkong ist das Verhältnis dagegen fast eins zu eins. Das kann auf eine Chance hindeuten, ist in diesem Fall aber eher ein Zeichen der vorsichtigen Zurückhaltung bei den Anlegern. In Hongkong noch mehr als in Schanghai oder in Shenzhen, weil die Zahl der internationalen Investoren in der einstigen britischen Kronkolonie höher ist, wohingegen auf dem Festland bis heute eine gewisse Zocker-Mentalität herrscht. «Bei Renditen von einigen wenigen Prozent lachen chinesische Investoren», so Elisabeth Tester. Geissbühler hält die Situation für «extrem unberechenbar». «Die Regulierung hat seit Beginn des Jahres massiv zugenommen», sagt er. «Es kam doch eher überraschend, wie hart die kommunistische Partei gegen grosse Tech-Firmen vorging, wie sie auch im Bildungssektor die Schraube angezogen hat. Es ist davon auszugehen, dass der Druck anhalten wird. Regulierung wird weiterhin ein grosses Thema sein, auch in den nächsten Jahren.» Dem Pessimismus steht aber auch ein gewisser Optimismus gegenüber. China ist und bleibt ein Gigant. Die zweitgrösste Volkswirtschaft, bald wahrscheinlich die grösste. Die Bevölkerungszahl liegt jenseits der Milliardengrenze und wird offiziell mit 1,4 Milliarden angegeben. Das Einkommen in den städtischen Gebieten explodiert, die Mittelschicht wächst, der Konsum blüht, das Wachstum liegt immer noch bei Werten, die in der westlichen Welt oder in Japan höchstens eine Wunschvorstellung sind. Aktives Management zahlt sich aus Um die Chancen zu nutzen, die das Land diskussionslos bietet, und gleichzeitig die Risiken im Griff zu haben, empfiehlt Geissbühler ein Investment via aktiver Fonds. «Aktives Management zahlt sich aus», ist der Raiffeisen-Mann überzeugt. Die Fondsmanager vor Ort könnten einschätzen, welche Titel von der Politik erdrückt und welche staatlich gefördert sind. Sie können in der Regel auch abschätzen, inwiefern die Richtlinien guter Unternehmensführung eingehalten werden, wo die Bilanz aufgebläht ist und wo die Alarmglocken läuten müssten. Tatsächlich schlagen Fondsmanager im aktuellen Umfeld die allgemeine Börsenentwicklung in China, wie eine Auswertung von Martin Bürki zeigt. Er ist ein Veteran der Industrie und hat einst für die UBS das europaweit grösste Fondsanalyse-Team aufgebaut. Seine Auswertung zeigt, dass die Fonds der Allianz und JP Morgan klar obenauf sind. Beide setzen auf A-Shares. Beide haben auf Dreijahressicht in der Spitze über 200 Prozent zugelegt, dann leicht verloren, erzielen unterm Strich aber immer noch eine Rendite von 150 Prozent und mehr. Bürki stützt die Aussagen von Geissbühler. Erfolgreiche China-Fonds können nicht von London, New York oder Zürich aus verwaltet werden. «Man muss lokale Ressourcen haben, Firmen besuchen, Chinesisch reden. Man muss schauen, ob es die Firmen überhaupt gibt, ob Fabriken stehen und wie es um die Corporate Governance steht.» Grössere Gesellschaften wie die Allianz, JP Morgan oder Goldman Sachs hätten da Vorteile, sagt Bürki. Sie hätten gute Beziehungen zu den entscheidenden Regierungsstellen. So resultiert ein privilegierter Zugang zu Informationen, der sich am Markt in bare Münze umsetzen lässt. In diese Richtung zielt auch Caroline Hilb, die Anlagechefin der St. Galler Kantonalbank. Sie rät vom Zocken mit Einzeltiteln ab und empfiehlt stattdessen ein breiteres Engagement. Ein Index-Produkt oder einen aktiv gemanagten Fonds. Hilb gibt aber zu bedenken, dass sie seit Anfang Jahr untergewichtet ist in Schwellenländern. «Auch weil die Entwicklung der Schwellenländer stark von den Kapitalflüssen abhängt», sagt sie. «Und steigende US-Zinsen sorgen tendenziell dafür, dass Kapital wieder zurück in die US-Heimat fliesst.» Unterm Strich bleibt das Gebot der Vorsicht. Und eine Erkenntnis: In China muss eine alte Börsenweisheit leicht angepasst werden muss. Statt «Don’t Fight the Fed», dem Leitsatz aus den USA, müsste es in Fernost heissen: «Don’t Fight Beijing.» Stelle dich nicht gegen die Regierung in Peking.

Anlegen in China: «Don’t Fight Beijing»

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