Massenflucht der Milliardäre: Mindestens 14 reiche Norweger sind dieses Jahr in die Schweiz gezogen

Francis Stückrath Hay besitzt viel Geld – und offenbar auch viele Umzugskisten. Erst im letzten Jahr war der norwegische Immobilieninvestor, dessen Vermögen sich auf 2,4 Milliarden Norwegische Kronen (rund 233 Millionen CHF) beläuft, nach Bø auf den Vesterålen gezogen, bekannt für schöne Landschaft und – für norwegische Verhältnisse – niedrige Steuern. Trotzdem ging Hays Reise schon wieder weiter. Seit dem 13. September nenne er Hergiswil NW am Vierwaldstättersee sein neues Zuhause, wie die Wirtschaftszeitung «E24» berichtet. Auch schön da – und für den Norweger und viele seiner vermögenden Landsleute offenbar noch mal billiger. Ein Pianist und Investor, ein Reeder, ein ehemaliger Skifahrer, die Besitzer von Norwegens grösster Kindergartenkette und Milliardäre, die ihr Geld mit Technologie, Batterien, Windkraft oder Immobilien gemacht haben: Wie Lachse bewegen sich die reichsten Norweger gerade im Strom in die Schweiz. Auslöser sind offenbar Steuerreformen der neuen Regierung unter dem Sozialdemokraten Jonas Gahr Støre. Die hohe Steuerrechnung nervt die Milliardäre «Zweifellos spielt die norwegische Vermögenssteuer und insbesondere die Erhöhung der Besteuerung des Geschäftsvermögens eine Rolle», sagte der Investor Tord Ueland Kolstad, der seinen Wohnsitz kürzlich nach Luzern verlegt hat, zur Wirtschaftszeitung «E24». «Mein gesamtes Vermögen ist praktisch das Eigentum an meiner Firma. Abgesehen davon ist mein Vermögen relativ gering.» Im letzten Jahr habe sich seine Steuerrechnung praktisch verdoppelt. Nur wenige äussern sich so deutlich wie der Neu-Luzerner aus dem Norden. Das Ehepaar Hans Jacob und Randi Sundby, das es nach Meggen LU zieht, dementiert steuerliche Gründe. «Wir wollen expandieren und unserem Geschäft ins Ausland folgen», teilten die Gründer von Norwegens grösster privater Kindergartenkette mit. In der Schweiz wolle man zwar keine Filialen eröffnen, als «Drehscheibe» in andere europäische Länder sei das Land aber unschlagbar. Doch die Massenflucht reicher Norwegerinnen und Norweger ist auffällig. Schon mindestens 14 norwegische Milliardäre sind laut «Dagens Næringsliv» in diesem Jahr in die Schweiz gezogen. Recherchen von «Handelszeitung», gestützt auf Medienberichte und offizielle Meldedaten, zeigen, dass die tatsächliche Zahl deutlich höher liegen dürfte. Dazu kommen Fälle wie jener des Discounter-Erben Magnus Reitan: Er überschreibt seinen bereits in Genf gemeldeten Kindern Kristoffer (ein Golfer) und Viktoria (einer Künstlerin) Vermögenswerte von 20 Milliarden Norwegischen Kronen – während er selbst aktiver Eigentümer der Reitan-Gruppe bleiben will. Die neue Regierung plant eine umfassende Steuerreform Als eines von nur noch einer Handvoll OECD-Ländern besteuert Norwegen das Nettovermögen von Privatpersonen. Bereits im Wahlkampf vergangenes Jahr hatten die norwegischen Sozialdemokraten angekündigt, den Vermögenssteuersatz auf 1,1 Prozent für Vermögen über 1,7 Millionen Kronen zu erhöhen, verglichen mit 0,85 Prozent bei einer Schwelle von 1,5 Millionen Kronen. Der Spitzensteuersatz soll auf 1,3 Prozent für Vermögen über 20 Millionen Kronen festgesetzt werden. Mit der steigenden Inflation macht die Neuregierung nun besonders Tempo. In zahlreichen Bereichen und Industrien drohen neue Steuern, nicht einmal die weltweit führende Lachsindustrie ist sicher. Auch wenn mancher Vermögende wie der Milliardär und Philanthrop Trond Mohn den Kurs der Regierung unterstützen: Vielen Reichen reichts. Als einer der ersten ging der Unternehmer Bjørn Dæhlie. Der ehemalige Langlaufstar zog gleich Anfang des Jahres mit seiner Frau Vilde Falck-Ytter ins steuergünstige Zug. Auf heftige Kritik im eigenen Land reagierte Dæhlie nicht. «Ich habe wirklich nur einen Kommentar: Ich bin umgezogen und es läuft alles», sagte er im Juni der Zeitung «Aftenposten». «Die Schweiz ist ein schönes Land. Es erinnert mich sehr an Norwegen. Mir geht es gut.» Hunderte Millionen Kronen Verlust – durch einen Umzug Besondere Aufmerksamkeit erregte dann im September der Fall von Kjell Inge Røkke (die «Handelszeitung» berichtete). Der zweitgrösste Steuerzahler Norwegens, der sich vom Fischer zum Milliardär hochgearbeitet hatte und die Investmentgesellschaft Aker kontrolliert, verlegte seinen Wohnsitz ins Tessin. Lugano sei zwar «weder die billigste noch die steuergünstigste Adresse», dafür aber «ein toller Ort mitten in Europa», erklärte Røkke die Adressänderung. Allein mit diesem Umzug dürfte Norwegen Hunderte Millionen Kronen pro Jahr verlieren. «Røkke vermeidet dadurch die Zahlung der Vermögenssteuer in Norwegen, die eine der höchsten Vermögenssteuern der Welt ist. Zudem muss er, wenn er länger als fünf Jahre in der Schweiz lebt, die Gewinne aus Aktienverkäufen nicht mehr in Norwegen versteuern», sagte der Steuerexperte Eivind Furuseth, Professor an der privaten Wirtschaftsuniversität Handelshøyskolen BI in Oslo, dem öffentlich-rechtlichen Sender «NRK». Røkke hatte seit 2012 insgesamt 1,2 Milliarden Kronen Steuern gezahlt, allein 2020 waren es 175 Millionen. Schon in den Vorjahren hatte es wegen der hohen Steuern Abwanderungen vermögender Norweger in die Schweiz gegeben. Einer Berechnung von «E24» zufolge wanderten nur schon in den vergangenen fünf Jahren 31 Milliarden Nettovermögen in die Schweiz. Es könnten noch mehr Zuzügler aus Norwegen werden Die aktuelle «Umzugskarawane» der Reichen, wie es norwegische Medien schon nennen, sorgt im hohen Norden für Zündstoff. «Grob gesagt gab es in den letzten Jahren vielleicht alle zwei Wochen einen Steuerflüchtling – und jetzt ist es jede Woche einer», schreibt der Journalist Trygve Hegnar, Chefredaktor der norwegischen «Finansavisen», in einem Kommentar. Hegnar versteht, dass die Reichen ihre Koffer packen. Es drohe nicht nur die «Monstersteuer» für Vermögende, sondern eine ganze «Summe der Steuererhöhungen». Es sei «haarsträubend», dass der individuelle steuerpflichtige Vorteil aus der Nutzung des Vermögens einer GmbH zwischen 26 Prozent (für Wohnungen) und 104 Prozent (für Flugzeuge) des Marktwerts festgesetzt würden, während die Unternehmen gleichzeitig für die Entnahme zahlten. Zwar könne es sein, dass die Regierung bei den steuerlichen Belastungen nachbessere, doch: «Wird der Vermögenssteuersatz nochmals erhöht, gleichzeitig der Abschlag bei der Aktienbewertung reduziert oder gestrichen und die Dividende, die der Gesellschaft zur Abführung der Vermögenssteuer entzogen werden muss, mit 37,84 Prozent besteuert, kommen wir auf rund 100 Prozent Steuer auf die zu erwartende reale Rendite an den Finanzmärkten.» Er rechnet damit, dass «gute Investoren» im grossen Stil ihr Kapital, ihre Ideen und Pläne für die nächsten Jahre ausser Landes bringen werden. Die Schweiz kann sich also möglicherweise auf noch mehr Zuzüge aus dem hohen Norden freuen. Zwar werden auch hier Vermögen von Privatpersonen besteuert, aber ausländische Personen können von der Pauschalbesteuerung profitieren, die sich nach den Lebenshaltungskosten richten. Die USA und EU kritisieren die Schweizer Steuergesetze Der Steuerkritiker Hegnar ist eine Ausnahme. Für ihre laxe Steuerregulierung wird die Schweiz international kritisiert. Gleich in seiner ersten Rede im Kongress prangerte US-Präsident Joe Biden Anfang 2021 die Schweiz in einem Atemzug mit den Bermudas und den Cayman Islands als «Steueroase» für Unternehmen an. Auch Brüssel ist unzufrieden. Die Fortschritte der Schweiz seien zu langsam, kritisierte eine Delegation des EU-Parlaments bei einem Besuch vergangene Woche. Die Schweiz mache bei der Besteuerung von multinationalen Konzernen zwar vorwärts, biete aber immer noch zu viele Schlupflöcher, sagte der niederländische Abgeordnete Paul Tang, Vorsitzender des Unterausschusses für Steuerangelegenheiten, gegenüber der «Le Temps». Es gebe immer noch internationale Gewinnverschiebungen, die durch die Schweiz liefen, und in der Vermögensverwaltung gebe es immer noch eine Steuervermeidungsindustrie. Zudem sei es nach wie vor einfach, die Identität der Nutzniessenden bestimmter Finanzvehikel zu verschleiern. Tang kritisiert auch, dass Anwälte und Anwältinnen nicht den Regeln der Sorgfaltspflicht unterliegen und so die Identität ihrer Auftraggeber verschleiern können. Anders sehen das René Zulauf und Manuel Angehrn von Deloitte. Ein gesunder Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen, die ihre Steuersätze frei festlegen können, sorgten für wettbewerbsfähige Steuersätze und einen «freundlichen Umgang» mit Steuerpflichtigen, argumentieren die beiden Steuerexperten in einem Beitrag auf der juristischen Fachplattform ITR: «In der Schweiz werden Steuerpflichtige im Allgemeinen als Geschäftspartner und nicht als blosse Steuersubjekte angesehen.» Die Schweiz brauche wettbewerbsfähige Steuersätze, um das ansonsten vergleichsweise hohe Kostenniveau für Unternehmen wie Privatpersonen zu kompensieren. Ganz umsonst ist eben auch das Paradies nicht.

Massenflucht der Milliardäre: Mindestens 14 reiche Norweger sind dieses Jahr in die Schweiz gezogen

Norwegische Milliardäre strömen als Steuerflüchtlinge in die Schweiz