BILANZ: Herr Voser, Sie führen mit Shell den grössten Konzern Europas. Was bedeutet es Ihnen, der mächtigste Manager zu sein, den die Schweiz je gehabt hat?
Peter Voser: Für mich steht die Firma im Vordergrund. Shell ist immer das Wichtigste. Ich habe Mühe mit Personenkult. Das liegt mir nicht. Ich versuche, die Firma so gut wie möglich zu führen, und ich versuche, mein Privatleben so gut wie möglich davon abzugrenzen. Das ist mir bis jetzt gut gelungen.

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Shell ist ein Gigant: 93 000 Mitarbeiter, 470 Milliarden Dollar Umsatz, 30 Milliarden Dollar Gewinn, mehr als eine Million Aktionäre. Haben Sie jemals gedacht: Die Firma ist so gross und komplex – das überfordert mich?
Diesen Gedanken hatte ich nicht. Aber ich musste in den Job hineinwachsen. Ich war zuvor Finanzchef von Shell, und die Umstellung auf den CEO-Posten war gross. Der CEO vertritt die Firma in allen Bereichen. Diese Weiterentwicklung habe ich gesucht. Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch immer lernen muss.

Schlaflose Nächte hatten Sie nie?
Nein. Viele Angestellte fragen mich: Was ist so wichtig, dass Sie nicht schlafen können? Ich sage immer: Ich schlafe gut. Denn ich habe das richtige Team, und ich habe Vertrauen in die Leute.

Was war die grösste Umstellung?
Im Geschäft mit den natürlichen Ressourcen haben Sie immer direkt mit den Regierungen zu tun. Ich habe viele Treffen mit Präsidenten. Da habe ich viel dazugelernt. Shell generiert ja auch hohe Steuern für diese Länder.

Wie viel reisen Sie?
Etwa 70 Prozent meiner Zeit. Wir sind in über 90 Ländern vertreten. Im Durchschnitt besuche ich drei Länder pro Woche. Oft bin ich in abgelegenen Gebieten. Öl und Gas gibt es nicht in Singapur, London oder New York. Man ist in Ost-Sibirien, im Nigerdelta, in Queensland in Australien. Ohne Businessjet kann man diesen Job nicht machen. Der Zeitverlust wäre zu gross. Man könnte das Gebiet nicht mehr abdecken.

Wie direkt ist der Kontakt zu den Mitarbeitern?
Der CEO muss draussen bei den Leuten sein. Ein Chef aus dem Elfenbeinturm will ich nicht sein. Ich mache grosse Townhall-Versammlungen mit den Mitarbeitern. Sie können eineinhalb Stunden Fragen stellen. Das kann man nur vor Ort machen.

Sie sind in der niederländisch-britisch geprägten Shell der erste Chef, der weder Holländer noch Engländer ist. Hat Ihnen die Schweizer Neutralität bei der Nominierung geholfen?
Es gab zwei Dinge, die für die Mitarbeiter neu waren: die neue Nationalität und die Ausbildung. Ich bin Ökonom und nicht Ingenieur. Shell ist eine globale Firma, wir haben über 60 Nationen unter unseren Top-200-Mitarbeitern. Keinen Engländer oder Holländer zu haben, ist ein gutes Zeichen dafür, dass jeder bei Shell an die Spitze kommen kann. Das Zweite war fast schwieriger. Leute aus dem Finanzbereich gelten vor allem als Kostenkiller, die kurzfristiges Erfolgsdenken verkörpern. Ich musste beweisen, dass Shell für mich die innovativste Firma ist und ich deshalb auf langfristige Investitionen setze. Wir haben eine neue Innovationsstrategie verabschiedet.

Die Grabenkämpfe zwischen Engländern und Holländern sind legendär.
Die Kulturen sind sehr unterschiedlich. Der Holländer ist nah am Schweizer. Er ist klar strukturiert und sagt seine Meinung. Der Engländer ist mehr der Weltbürger, mehr der Marketingmensch. Das ergänzt sich gut. Rivalitäten hat es in der Vergangenheit sicher gegeben. Seit wir die Firma aber zusammengeführt haben, spüren wir das kaum mehr. Die grossen Pools unter den Mitarbeitern bestehen noch immer aus Holländern, Engländern und Amerikanern.

Sie haben den Konzern radikal umgebaut.
Wir mussten Fett abbauen. Unser Mittelmanagement war zu aufgebläht. Mir war allerdings klar: Ich musste oben beginnen. Die Komplexität einer Firma von der Grösse einer Shell kommt von oben, von den ersten Management-Ebenen. Wir haben 20 Prozent unseres Führungskaders herausgenommen und im Mittelmanagement rund 7000 Stellen abgebaut, um die Komplexität zu reduzieren und die Verantwortung nach unten zu drücken. 20 000 konnten sich für 13 000 verbleibende Stellen neu bewerben. Jeder konnte sich auch für andere Jobs bewerben. Wir wollten einen fairen Prozess haben bezüglich der Frage, wer bleibt und wer geht.

Hatte man sich vorher zu lieb?
Shell hatte einen Konsens-Stil. Entscheide wurden stets gemeinsam im Gremium gefällt. Das widerspricht meinem Führungsstil. Ich habe gerne ein Augenpaar, in das ich blicken kann, denn dort sitzt die Verantwortung. Das mussten wir umbauen. Wir mussten auch Prozesse vereinfachen. Die waren so aufgebaut, dass jeder etwas zu sagen hatte. So funktioniert ein Geschäft heute nicht mehr.

Was haben Sie konkret gemacht?
Ein Beispiel: Wir hatten unter meinem Vorgänger drei oder vier Konzernleitungs-Sitzungen im Monat, meistens am Dienstag, oft sogar am Montag und Dienstag. Die ganze Organisation hat für diese Sitzungen gearbeitet. Ich habe gesagt: Es gibt jetzt eine Sitzung pro Monat. Die Leute sollen die Zeit nutzen, um zu reisen und bei ihren Kunden und Mitarbeitern zu sein, statt dass sie jede Woche die gesamte Organisation ein dickes Buch präsentieren lassen. Das sind die Kernbotschaften, die ich für eine schlankere Organisation umsetzen musste.

Ihr Salär wurde auch verschlankt – Sie verdienen weniger als Ihr Vorgänger.
Das Basissalär liegt 20 Prozent tiefer als bei meinem Vorgänger. Es gab eine offene Diskussion mit dem Vergütungsausschuss, die genau 15 Sekunden gedauert hat. Wir waren uns sofort einig.

Mit 1,55 Millionen Euro liegt Ihr Basissalär unter jenem eines Chefs von einer mittelgrossen Schweizer Privatbank.
Für mich stimmt das so. Unser Salärsystem ist für alle gleich, es gibt keine speziellen Instrumente für Topmanager. Der CEO soll gesehen werden wie die anderen 93 000 Mitarbeiter.

Wie hoch ist der Bonus?
Ich kann das Eineinhalbfache des Basissalärs als Bonus beziehen, und langfristig kann es noch einmal das Dreifache in Aktien geben, wenn wir im Konkurrenzvergleich unter den Top Drei liegen. Wenn wir ganz schlecht arbeiten, gibt es nur das Basissalär. Wenn wir sehr gut arbeiten, sind auch zweistellige Millionenzahlungen möglich. Ich will, dass Leistung belohnt wird.

Ist der Umbau abgeschlossen?
Der Mitarbeiter- und Kostenteil ist abgeschlossen. Was noch fehlt, ist die Kulturveränderung. Das dauert vier, fünf Jahre. Shell ist ein Riesentanker. Wenn man ihn ein paar Zentimeter dreht, ist schon viel passiert. Ich will klare Verantwortlichkeiten, ich will Geschwindigkeit an der richtigen Stelle, ich will, dass die Firma mehr extern exponiert ist, kommerziell arbeitet und simplere Strukuren umsetzt.

Bei der Profitabilität liegen die amerikanischen Rivalen Exxon und Chevron noch vorne.
Exxon ist klar die Nummer eins, wir liegen mit Chevron auf gleicher Höhe. Wir haben unseren Cashflow von 24 Milliarden Dollar im Jahr 2009 auf geplante 43 Milliarden für 2012 erhöht. Diese Steigerung von 80 Prozent hat niemand geschafft in der Industrie. Unser Aktienkurs ist mit Chevron am stärksten gestiegen. Wir investieren jedes Jahr bis zu 30 Milliarden Dollar, auch in Krisenzeiten reduzieren wir nicht. Unser Geschäft ist ein Cash-Geschäft. Wenn ich am 1. Januar aufwache, weiss ich: Ich muss in diesem Jahr 30 Milliarden investieren, und ich zahle 10 Milliarden Dividende. Ich brauche also jedes Jahr ein Plus von 40 Milliarden.

Was macht Exxon besser?
Ende der neunziger Jahre durchlebte die Ölindustrie eine Konsolidierungsphase. Exxon kaufte Mobil Oil, BP übernahm Amoco, Chevron kaufte Texaco. Shell dagegen setzte auf organisches Wachstum und reduzierte sogar die Investitionen. Das war ein strategischer Fehler. Es braucht in unserem Geschäft sechs bis acht Jahre für eine Korrektur. Die letzte Dekade haben wir damit verbracht, die Strategie wieder zu ändern. Heute sind wir erneut auf Augenhöhe, selbst mit Exxon, auch mit Chevron, ganz sicher mit BP und auch mit Total. Wir sind da, wo wir sein sollten: Wir sind die grösste europäische Firma. Jetzt müssen wir die Strategie weiterentwickeln.

Können Sie Exxon überholen?
Wir wollen die wettbewerbsfähigste und innovativste Firma sein. Bei allem, was ich mache, will ich mehr Gewinn erzielen als die Konkurrenz. Aber wir müssen nicht die Grössten sein.

Leidet darunter nicht die Nachhaltigkeit? Waren vor Ihrem Amtsantritt Umweltthemen für Shell nicht wichtiger?
Wir müssen beides machen. Unsere Strategie muss nachhaltig sein, und sie muss innovativ sein, um den CO2-Ausstoss zu verringern. Wir müssen die Welt mit Energie versorgen. Wir haben noch immer eineinhalb Milliarden Menschen, die keinen Zugang zur Elektrizität haben.

Sie setzen stark auf Gas, doch das ist nicht CO2-neutral.
Der weltweite Energiebedarf wird rasant steigen. Wir werden 2012 erstmals mehr Gas als Öl produzieren, und der Gasanteil wird sich weiter erhöhen. Gas ist der am saubersten brennende fossile Brennstoff der Zukunft. Und unser Ziel als Firma ist es, der Gesellschaft nachhaltige Lösungen anzubieten.

Wie können Sie das erreichen?
Zum Beispiel durch mehr Transparenz. Nehmen Sie Nigeria. Von der Nachhaltigkeit her ist es ein schwieriges Land. Wir stehen dauernd unter dem Druck von Verschmutzungen, die zu siebzig Prozent von Sabotageakten herrühren. Wir stellen jetzt neu jede einzelne Verschmutzung auf dem Web dar und berichten ausführlich über die Ursachen und unsere Massnahmen. Die Diskussion ist dadurch auf ein anderes Niveau gekommen: Wie kann man die Sabotage-Akte stoppen?

Ist die neue Kommunikation auch eine Reaktion auf das Debakel Ihres Rivalen BP mit dessen Ölplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko?
Was wir alle unterschätzt haben, sind die Wucht und Macht der sozialen Medien und die 24-Stunden-Berichterstattung von CNN. Wenn man sich da auf die technische Lösung konzentriert und die Kommunikation nach hinten schiebt, kommt man zwangsläufig unter Druck.

Welche Anpassungen bei der Kommunikation haben Sie bei Shell vorgenommen?
Mein erster Auftrag an die Kommunikation war: Wie können wir die sozialen Medien wie Facebook oder Twitter in unsere Unternehmenskommunikation integrieren? Heute nutzen wir diese Möglichkeiten, und ich habe ein persönliches Interesse daran.

Sind die sozialen Medien wichtiger als die traditionelle Presse?
Nicht wichtiger, aber genauso wichtig. Man muss heute wahnsinnig schnell reagieren können. Doch für uns ist das oft ein rechtliches Problem: Wenn irgendjemand etwas ins Netz stellt, wird angenommen, dass es stimmt. Wenn wir etwas hineinstellen und es stimmt nicht, haben wir ein riesiges Problem. Wir müssen die Prozesse finden, um schnell zu reagieren, aber wir dürfen rechtlich die Firma nicht gefährden.

Wie machen Sie das in Ihren mehr als neunzig Märkten?
Unsere Kommunikation funktioniert heute wesentlich schneller. Wenn Sie irgendwo im tiefsten Delta von Nigeria sind und irgendetwas passiert, so ist das innerhalb von Sekunden verfügbar. Diesen Prozess müssen Sie steuern können. Die erste Antwort des Shell-Verantwortlichen ist entscheidend. Sie gibt den Ton an für alles, was kommt.

Wie lange braucht die Nachricht aus dem Delta in Nigeria bis zu Ihnen?
Das geht sehr schnell. Ich gehöre zur Generation der CEO, die Blackberry, iPad und iPhone immer dabeihaben.

Treffen Sie den Kommunikationsentscheid selbst?
Als CEO muss man sehr vorsichtig sein. Man darf nicht von Anfang an vorne stehen, denn dann verliert man das strategische Denken. Ich will informiert sein, aber ich will nicht selbst auftreten. Wenn das Problem wirklich gross wird und es sich nicht mehr auf lokaler Ebene managen lässt, muss man ein neues Gesicht haben. Bei dem BP-Debakel hat sich der CEO zu früh in die erste Reihe gestellt.

Strategisches Denken vermissen Sie auch in der Schweizer Energiepolitik: Den Ausstieg aus der Atomenergie betrachten Sie skeptisch.
Ich habe nicht den Entscheid kritisiert, das überlasse ich der Regierung und dem Stimmvolk. Was ich kritisiert habe, sind die Schnelligkeit und die emotionale Reaktion. Eines habe ich gelernt: Wenn es zu emotional wird, nehme ich mir lieber eine Auszeit und laufe einmal um den Block. Im Fall des Atomausstiegs heisst das: Haben sich die Schweizer wirklich genau überlegt, was er kostet und wie sich die Lücke füllen lässt? Meines Erachtens war die ganze Aktion zu emotional und wurde zu politisch angegangen.

Warum hat gerade die Schweiz so emotional reagiert?
Ich weiss es nicht. Eigentlich sind wir ja nicht so emotional. Man hat wahrscheinlich schnell einen breiten Konsens gefunden, und niemand wollte so kurz vor den Wahlen dagegen aufbegehren. Dass der Entscheid in einem normalen Jahr ohne Wahlen so ausgegangen wäre, bezweifle ich.

Ist der Zeitplan für den Ausstieg realistisch?
Ja, wenn man gewillt ist, die Investitionen zu tätigen und den Energiekonsumenten höhere Preise zahlen zu lassen.

Stimmt die Grössenordnung einer Strompreiserhöhung von 30 bis 40 Prozent?
Ich bin zu weit weg von der Schweiz, aber diese Grössenordnung sehen wir in anderen Märkten. Der Ölpreis hat sich im Vergleich in den letzten drei Jahren von 65 auf 110 Dollar erhöht.

Als Argument für den Ausstieg wird der angeblich zwangsläufig folgende Innovationsschub genannt. Ist das überzeugend?
Die Schweiz ist zu klein, um bei der Innovation an der Spitze zu sein. Neben den erneuerbaren Energien Wind und Sonne wird es mehr Gas brauchen, um die Schwankungen aufzufangen. Gas hat im Vergleich zu Kohle oder Atomkraft den Vorteil, dass man es abstellen kann. Die Schweiz hat dazu noch die Wasserenergie, das ist ein grosser Vorteil. Aber die Umweltdiskussion hat gerade erst begonnen. Sicher ist für mich: Ohne ein Mehr an Gas wird es nicht gehen.

Sind Sie persönlich für den Atomausstieg?
Ich bin fest überzeugt, dass Technologien verbessert werden können. Die Innovationskraft der Menschen ist gross genug, um auch Nuklearenergie sicher zu machen. Wir sollten ihr aber mehr Zeit geben. Die Welt wird weiter Atomenergie verwenden, aber der Ausbau wird langsamer vorangehen und höherer Investitionen bedürfen. Atomstrom gehört für mich beim Energiemix dazu – wir werden alle Energieformen benötigen, um die wachsende Nachfrage zu decken.

Die Krisenstimmung beherrscht die öffentliche Diskussion. Was erwarten Sie für 2012?
Mir ist die Stimmung zu pessimistisch. Ich sehe natürlich die Verlangsamung, wenn ich reise, besonders in Europa. Aber in Asien könnten wir riesige Mengen von Gas verkaufen, der Mittlere Osten wächst, und wir erleben die US-Wirtschaft als stärker, als man sie wahrnimmt.

Letztes Jahr waren fast alle Ökonomen zu Jahresbeginn optimistisch, dann brach die Eurokrise wieder los. Dieses Mal sind alle pessimistisch. Ein gutes Zeichen?
Ich habe diesen Ablauf schon öfter erlebt: Wenn alle glauben, die absolute Krise stehe bevor, liegt der Höhepunkt der Krise bereits hinter uns.

 

Pendler zwischen Widen und Den Haag
Der Aargauer Peter Voser ist seit Juli 2009 CEO von Royal Dutch Shell, dem grössten Konzern Europas. Der heute 53-Jährige stieg 1982 nach dem HWV-Studium in Zürich bei Shell ein und unterbrach seine Karriere 2002 dort für ein Intermezzo als Finanzchef von ABB. Zwei Jahre später kehrte er als Finanzchef zu Shell zurück. Er war von 2005 bis 2010 VR-Mitglied der UBS und wurde 2011 in den Roche-Verwaltungsrat gewählt. Voser wohnt in Widen bei Baden und fliegt montags von Zürich nach Den Haag – immer in der Economy-Klasse.