Sebastian Lewis, Ihr Arbeitgeber Vanguard wird dieses Jahr fünfzig Jahre alt …
… Und wir sind schon länger in Zürich als in London. Seit 2008 sind wir hier in der Limmatstadt zu Hause. Das war damals ein gutes Timing in der Finanzkrise. Es taten sich Chancen auf.
Heute ist das Umfeld auch unsicher, meinen Sie nicht?
(schmunzelt) Das Umfeld ist immer unsicher, oder? Viele vergessen, dass sich auch die Zeit während der Finanzkrise 2008 oder die Covid-Phase sehr unsicher anfühlten.
Die Leute reagieren auf die Schlagzeilen. Unsere Antwort lautet daher für alle Anlegenden, ob Versicherer oder private Investoren:
Erstens: Konzentrieren Sie sich auf die Dinge, die Sie kontrollieren können.
Zweitens: Führen Sie wettbewerbsfähige Produkte mit niedrigen Kosten in Ihrem Portfolio.
Drittens: Investieren Sie global und diversifizieren Sie Ihre Anlagen.
Sebastian Lewis, ist Global Senior Strategist im Advisory Research Centre von Vanguard. Von 1999 bis 2003 arbeitete er bei Morgan Stanley im Aktienvertrieb und ging dann nach New York zu Sanford Bernstein. Dort arbeitete er 15 Jahre lang als Vermögensverwalter (Hedgefonds und Staatsfonds).
Von 2018 bis 2022 war er Director of European Research bei Sanford Bernstein in London. Im Januar 2024 wechselte Sebastian Lewis zu Vanguard. (pd/ajm)
Haben Sie noch weitere Tipps?
Ja: Die Gewichtung nach Marktkapitalisierung ist sehr wichtig. Und bei den festverzinslichen Wertpapieren gilt ebenfalls: global, kostengünstig, diversifiziert.
Einige dieser grossen Indizes haben 30’000 Emissionen. Da ist alles dabei, Laufzeiten, Länder, Währungen und so weiter. Das ist eine gute Sache. (lacht) Das einzige kostenlose Mittagessen im Finanzwesen ist die Diversifizierung. Alles andere sind individuelle Risikoentscheidungen von Assetmanagern.
Doch Vanguard geht einen möglichst risikofreien Weg, oder?
Weil Vanguard der Meinung ist, dass mit hohem Risiko behaftete Assets keinen Platz in unserer Ausgangsposition haben dürfen. Darum gehen wir von diesem eben skizzierten Ansatz mit einfachen, globalen, kostengünstigen und diversifizierten Produkten aus – und dann können unsere Kunden ihre eigenen Entscheidungen treffen.
«Weil die Renditen konzentriert sind, muss man diversifiziert sein»
Sebastian Lewis
Vanguard will, dass die Menschen zu niedrigeren Kosten investieren, damit alle an den globalen Kapitalmärkten teilnehmen. Sparer zu Investoren zu machen, ist unsere Sache. Die Versicherer und Pensionsfonds sind auch ein Teil dieses Ansinnens. Wir verwalten weltweit mehr als 10 Billionen Dollar. Unterdessen hat Vanguard weltweit 50 Millionen Kundinnen und Kunden. Und alle verlassen sich darauf, dass wir sehr dauerhafte Lösungen anbieten.
Das ist besonders interessant für Pensionskassen und Versicherer mit langem Anlagehorizont: Haben Sie viele Versicherungen und Pensionsfonds als Kunden?
Wir haben Partnerschaften mit ihnen, und sie kaufen unsere ETFs oder Fonds. Wir arbeiten mit Versicherungsgesellschaften zusammen. Wir bieten jedoch keine getrennten Mandate an, wenn Sie das wissen wollen.
Sehen Sie eine Veränderung im Investitionsverhalten?
Nein, das sehen wir nicht.
Was beobachten Sie stattdessen?
Die Zahlen, die wir in den letzten sechs bis acht Wochen gesehen haben, zeigen, dass wir vier unserer fünf höchsten Handelstage überhaupt hatten. Und das meiste davon waren Kundenkäufe.
Unsere Kunden neigen nicht dazu, in Panik zu geraten. Sie neigen dazu, zu kaufen und für ihren Ruhestand zu planen. Sie handeln langfristig.
Der Schwerpunkt hat sich also nicht besonders verändert. Es ist zwar sehr verlockend, zu sagen: Oh, wir sehen grosse Ströme aus den USA nach Europa. An diesem Punkt ist es gut, einen Schritt zurückzutreten, um auf die Situation zu schauen. (zeigt eine Grafik auf dem Laptop)
Enge Spanne: Das Auf und Ab an einzelner Handelstagen liegt innerhalb von wenigen Prozent.
Dazu haben Sie eine Grafik mitgebracht?
Ja, denn hier sehen Sie unsere Untersuchungen bezüglich des S&P 500. Die Daten über die letzten fünf Jahre und die Daten der letzten 45 Jahre sehen nahezu identisch aus. (zeigt auf die Grafik, siehe oben, Red.)
Was wir hier sehen, ist: Wenn es an den Märkten an einem volatilen Tag um 3 Prozent nach unten geht, besteht im nächsten Monat eine 80-prozentige Wahrscheinlichkeit für einen weiteren solchen Tag. Die besten und die schlechtesten Tage neigen ausserdem dazu, sich innerhalb einer relativ engen Zeitspanne abzuwechseln.
Was folgern Sie daraus?
Wenn Investoren nicht aufpassen, können sie einen der schlimmsten Fehler machen: auf einen Rückgang an drei, vier oder vielleicht fünf Tagen zu reagieren und zu verkaufen. Es folgt nämlich ein Anstieg um drei Punkte. Und dann kaufen diese Investoren teurer zu, als sie vorher verkauft haben. Oder noch schlimmer: Sie bleiben in Cash und verpassen den Zinseszinseffekt!
Wir bei Vanguard sagen den Kundinnen und Kunden deshalb: Starrt nicht auf euer Telefon, geratet nicht in Panik wegen dem, was an den Märkten passiert ist. Bleibt stattdessen langfristig auf eure Ziele fokussiert.
«Ich bin der Meinung, die Konzentration in einem Aktienindex ist ein Merkmal, kein Fehler.»
Sebastian Lewis
Das ist leicht gesagt, oder?
Ja, denn Menschen können ihre Ängste nur schwer überwinden. Aber erfolgreiche Berater tun das oft – und die erfolgreichen Assetmanager, etwa von Pensionskassen und Versicherern, tun dies generell.
Bleiben wir beim Risiko: Kann man durch «Equal Weight», also der Gleichgewichtung, sein Risiko wirklich verringern?
Sobald man von der Marktkapitalisierung abweicht, trifft man eine aktive Risikoentscheidung. Das kann letztlich teuer werden. Unser Leiter von Index Equity Products sagt: «Die Gleichgewichtung verändert die Risiken.» Es gibt gleich mehrere Probleme, wenn man sich für eine Gleichgewichtung entscheidet.
Warum?
Nehmen wir den S&P 500 als wahrscheinlich bekanntestes Produkt mit seinen 503 Aktien als Beispiel: Nach Marktkapitalisierung gewichtet, machen die Top Ten des S&P 500 etwa 30 Prozent des Indexwertes aus. Alle restlichen 490 Aktien kommen auf einen Anteil von 70 Prozent.
Der letzte Wert im Index ist für die Bewegungen im gesamten Portfolio am wenigsten relevant. Und die grossen Indextitel wie etwa Nvidia oder Apple bewegen den S&P 500 am meisten.
«Gleichgewichtung ist, als würde ich in ein Restaurant gehen und für Salz und Pfeffer genauso viel bezahlen wie für das Steak.»
Sebastian Lewis
Stellen die grossen Player denn kein Klumpenrisiko dar?
Man könnte dies als Risiko darstellen und deshalb gleichgewichten. Doch ich bin der Meinung, die Konzentration in einem Aktienindex ist ein Merkmal, kein Fehler. Es hat sie immer gegeben. In den 1970er-Jahren waren es die Ölgesellschaften, dann kamen die Telekommunikationsfirmen, danach die japanischen Banken.
Es dominiert immer etwas. Und diese Indexstars treiben den Index nach oben. Wenn ich also gleichgewichte, nehme ich freiwillig etwas Potenzial aus meinen Investitionen.
Sie raten also von einer Gleichgewichtung ab?
Es ist, als würde ich in ein Restaurant gehen und für Salz und Pfeffer genauso viel bezahlen wie für das Steak.
Ein lustiges Bild …
Die grössten Aktien sind per Definition liquider und haben ein höheres Handelsvolumen, sodass sie leichter zu handeln sind. Ausserdem ist der Umsatz höher.
Also sollte man keine Angst vor der Wertekonzentration in einem Index haben?
Gemäss unserer Meinung bei Vanguard ist die Konzentration ein Merkmal von Aktien. Sie spiegeln das Urteil des Marktes über den Wert verschiedener Unternehmen und Millionen von Teilnehmern wider. Das ist die Weisheit dieser Märkte. Und wir halten das für klüger als eine Gleichgewichtung.
Welche Herausforderungen und Chancen sehen Sie für Vermögensverwalter, insbesondere für Pensionsfonds und Versicherer? Das ist ja immer eine langfristige Angelegenheit.
Versicherungsgesellschaften und besonders Lebensversicherungen neigen dazu, sehr langfristige Verbindlichkeiten zu haben. Denn sie wollen diese Verbindlichkeiten mit ihren Vermögenswerten in Einklang bringen. Das ist grossartig, weil sie langfristig denken.
Assetmanager von Versicherern und Pensionskassen neigen dazu, die Volatilität von Aktien zu durchschauen. Sie versuchen, ihre Modellierung so gut wie möglich zu gestalten. Das gelingt ihnen sehr gut.
Die meisten Versicherungsgesellschaften haben eine schwere Last zu tragen, um sicherzustellen, dass sie alle ihre Solvabilitäts- und sonstigen Grenzwerte einhalten.
In kürzer laufenden Sparten, zum Beispiel in der Schaden- und Unfallversicherung, müssen sie zudem verschiedene Fragen zu Verbindlichkeiten und Vermögenswerten beantworten. Es ist sehr spezifisch, wie viele erfolgreiche Versicherungsunternehmen ihr Portfolio managen müssen.
Die Daten von Hendrik Bessembinder für strategisches Investieren besagen, dass nur ein Bruchteil des Eigenkapitals langfristigen Wert schafft. Wie lässt sich dies in Ratschläge umsetzen?
Gute Frage. Die Arbeit von US-Finanzmarktprofessor Hendrik Bessembinder ist bemerkenswert und wirklich interessant.
Die US-Studie umfasst nahezu hundert Jahre an Daten. Die Schlussfolgerung nennen wir auf Deutsch «Die Macht der Wenigen». Weltweit gilt, dass die meisten Aktien keine Anleihen schlagen. Doch das ist nicht ganz richtig.
Können Sie das an einem Beispiel herleiten?
Der S&P 500 stieg im Jahr 2024 in Dollar um 25 Prozent. Die durchschnittliche Einzelaktie stieg jedoch nur um 14,7 Prozent. Mehr als zwei Drittel, nämlich 71 Prozent aller Titel im S&P 500, entwickelten sich schlechter als der Index. Vier Aktien fielen sogar um mehr als 50 Prozent.
Wenn Sie 50 Prozent Ihres Geldes bei einer Aktie verloren haben, wird dies durch die Tatsache wettgemacht, dass Sie das Zehn-, Zwanzig-, Dreissig- oder Fünfzigfache Ihres Geldes mit einer anderen Aktie des Index verdient haben.
Bei Aktien gibt es diese enormen Gewinne. Und sie lassen viele Aktien, die nicht viel bringen, verblassen. Die Lehre daraus: Weil die Renditen konzentriert sind, muss man diversifiziert sein.
Und was sagt Hendrik Bessembinder?
In seiner globalen Studie mit Laufzeit von 1990 bis 2020 lautet Bessembinders Befund: Nur 2,4 Prozent der 64’000 Aktien sind für die Mehrrendite von Aktien gegenüber Anleihen verantwortlich!
Genau diese Nadel im Heuhaufen zu finden, ist unglaublich schwierig. Und wenn man sie nicht erwischt, schneidet man schlechter ab.
Denn welche Aktien abheben, kann man nicht im Voraus wissen. Aber wenn man alle Aktien eines Index besitzt, wird einem die Gesamtrendite, die von sehr wenigen Wertpapieren bestimmt wird, nicht entgehen.
Der US-Finanzmarktprofessor Hendrik Bessembinder hat nach den Daten des CRSP-Datenbestands der University of Chicago – dieser umfasst fast 30’000 US-Aktien, die ab 1925 an einer US-Börse gelistet waren – die Performance über hundert Jahre berechnet.
Henrik Bessembinder, Jennifer Conrad, Jarrad Harford und Paul Malatesta leiteten als Chefredaktoren das legendäre «Journal of Financial and Quantitative Analysis» (JFQA), das 1966 zum ersten Mal erschienen ist. Der Schwerpunkt dieser wissenschaftlichen Fachzeitschrift liegt bei volkswirtschaftlichen Themen, wie Finanzwirtschaft, Investitionen, Kapital- und Wertpapiermärkte, sowie bei quantitativen Methoden, die für Finanzökonomen relevant sind.
Die Konsequenzen der Bessembinder-Studien haben bis heute Bedeutung: Wer auf Einzelaktien setzt, geht ein riskantes Spiel ein, ausser er ist einer der seltenen begnadeten Stockpicker. Statt auf Glück oder vermeintliches Geschick zu vertrauen, ist es für die meisten Anleger sinnvoller, den gesamten Markt zu kaufen – in Form eines kostengünstigen ETF oder Indexfonds. Dank dieser breiten Diversifizierung landen die entscheidenden Gewinneraktien automatisch im Portfolio – unspektakulär, aber sehr effektiv für den langfristigen Anlageerfolg. (pd/ajm)
Was passiert mit dem Dollar? Er ist in diesem Jahr besonders schwach. Wird er noch schwächer werden?
Wir bei Vanguard halten den Dollar für etwa 11 Prozent überbewertet gegenüber einem Korb von Währungen mit Euro, Franken, Yen, Pfund et cetera.
Doch wenn Sie denken, dass aktives Portfoliomanagement schon schwierig ist, dann sind Währungsprognosen noch schwieriger.
Ich erinnere mich, dass es in den 1990er-Jahren eine Studie der Fed darüber gab, wie man am erfolgreichsten vorgeht. Und ich glaube, es war der damalige Chef der Federal Reserve, Alan Greenspan, der sagte, das Einzige, was funktioniere, seien kurzfristige Impulse. Das stimmt meiner Meinung nach noch heute.