Für die Versicherungsbranche und die gesamte Wirtschaft steht viel auf dem Spiel. Die Einführung einer 13. AHV-Rente hat am 3. März grosse Chancen, an der Urne angenommen zu werden. Umso grosser ist offenbar der Frust im Nein-Lager über die drohende Niederlage. Die bürgerliche Mitte und Wirtschaftsverbände «unterschätzten die Vorlage – jetzt kritisieren sie einander für eine ‹blutleere› Kampagne», berichtet die «SonntagsZeitung». Stefan Mäder will solche Vorwürfe nicht stehen lassen. Der Präsident des Schweizerischen Versicherungsverbandes und der Mobiliar kündigt im Gespräch mit Blick an, wie die Wirtschaftsverbände nun mobil machen und gegen die Vorlage trommeln.

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Hat die Wirtschaft die Abstimmung zur 13. AHV-Rente unterschätzt?

Stefan Mäder: Nein, man hat sie nicht unterschätzt. Es stellt sich aber immer die Frage, wann man eine Abstimmungskampagne startet, damit sie eine gute Wirkung erzielt und die finanziellen Mittel nicht zu früh ausgehen.

Haben Sie die ersten Umfragen überrascht?

Ich bin schon etwas erschrocken, dass 71 Prozent der Initiative zustimmen wollen. Und das über fast alle Parteien hinweg.

Ein Weckruf für die Wirtschaft?

Ja, das war ein Weckruf! Denn dadurch hat man gesehen, dass die Unterstützung bis weit ins bürgerliche Lager reicht. Vor den ersten Umfragen hat man nur über die Erhöhung der Renten und nicht über deren Finanzierung gesprochen. Nun ändert sich dies.

Kann die Frage der Finanzierung eine Trendwende herbeiführen?

Ja, davon bin ich überzeugt. Das merke ich, wenn ich zum Beispiel mit meinen beiden Söhnen spreche, die um die 30 Jahre alt sind. Die fragen sich schon, warum sie die Rente der Babyboomer zusätzlich finanzieren sollen. Es geht auch um den Generationenvertrag. Die Frage ist doch, wo bleibt die Solidarität in der Gesellschaft, wenn die Generation, die jetzt aufwächst, sich ein Eigenheim oder eine Wohnung im Grossraum Zürich nicht mehr leisten kann. Während viele der Elterngeneration ein Haus oder eine Wohnung besitzen.

Braucht es vielleicht gar einen neuen Gesellschaftsvertrag, der die zunehmende Entfremdung zwischen Wirtschaft und Bevölkerung stoppt?

Es lässt sich tatsächlich eine gewisse Entfremdung beobachten. Aber das bezieht sich vor allem auf die grossen, internationalen Konzerne, weniger auf die KMU. Es ist eine wichtige Aufgabe der Schweizer Wirtschaft, dafür zu sorgen, dass der Generationen- wie auch der Gesellschaftsvertrag eingehalten werden.

Die Boomer mögen ja noch sorgenfrei in Rente gehen, doch nur schon für die nächste Generation sieht es weniger rosig aus. Können Sie diese Sorgen verstehen?

Ich habe Verständnis, wenn sich die Menschen Sorgen machen. Doch zum Glück wurde das BVG-Obligatorium 1985 eingeführt. Die meisten, die nach den Boomern in Rente gehen, haben fast ihr ganzes Erwerbsleben in die 2. Säule eingezahlt – im Gegensatz zu den Vorgängergenerationen.

Obersters Versicherer und Tiefseetaucher

Stefan Mäder (60) ist seit Mitte 2023 Präsident des Schweizerischen Versicherungsverbandes SVV. Zudem ist der Ökonom Verwaltungsratspräsident der Mobiliar und sitzt im Vorstandsausschuss des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse. Mäder greift gerne mal Klavier spielend in die Tasten und liebt das Element Wasser. Sei es als Wellensurfer über der Wasseroberfläche oder als Taucher im unendlichen der Tiefe. Der oberste Versicherer ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne.

Nur sinkt der Umwandlungssatz, der für die Rentenberechnung entscheidend ist, seit Jahren. Das heisst: Aus der 2. Säule gibt es weniger Geld.

Wir leben heute im Durchschnitt länger. Wer heute 65 ist, der lebt im Durchschnitt als Mann noch 20, als Frau 23 Jahre. 1985 – bei Einführung des BVG – lag diese Lebenserwartung bei 15 bzw. 19 Jahren. Das sind 50 bis 60 zusätzliche Monatsrenten mehr: Das muss erst mal finanziert werden.

Das passiert ja in der 2. Säule durch die Anpassung des Umwandlungssatzes.

Das ist richtig. Man bekommt zwar pro Monat weniger Rente, aber dafür über einen längeren Zeitraum.

Vernünftigerweise müsste man also Ja zur Renteninitiative und Nein zur 13. AHV-Rente sagen …

… schön, dass Sie «vernünftigerweise» sagen …

… im Moment tendiert die Bevölkerung aber in die umgekehrte Richtung. Warum?

Ob das so sein wird, wissen wir erst nach der Abstimmung. Der Trend wird durch die Rentner begünstigt. Wer bereits in Rente ist, hat einen grossen Anreiz, Ja zu einer zusätzlichen Monatsrente zu sagen. Das ist durchaus menschlich.

Aber?

Man muss zwei Dinge auseinanderhalten: die monatlichen Rentenzahlungen und das Vermögen. Jetzt wird immer von den Zahlungen geredet. Aber Rentner sind im Schnitt reicher als die aktive Generation.

Allerdings ist es gerade auch für den Mittelstand immer schwieriger, Vermögen fürs Alter anzusparen …

… und dann sollten sie auch noch den Ausbau der AHV mitfinanzieren!

Aber ab einem gewissen Alter ist die Phase der Finanzierung kürzer als die möglichen Jahre mit der Zusatzrente.

Das ist kurzfristig gedacht. Was mich vielmehr erstaunt: Auf der Seite der Befürworter ist viel von Gerechtigkeit die Rede. Die Einführung einer 13. AHV-Rente kostet an die 5 Milliarden Franken pro Jahr. Eine Finanzierung über die Mehrwertsteuer wäre aber sehr ungerecht. Denn das würde Leute mit tieferen Einkommen härter treffen, da sie einen grösseren Teil ihrer Einkünfte für den Konsum ausgeben als Menschen mit hohen Einkommen.

Das wäre bei einer Finanzierung über Lohnprozente anders.

Das wäre noch schlimmer, denn das verteuert den Produktionsfaktor Arbeit zusätzlich …

… aber dafür bekomme ich nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben mehr.

Das ist doch unschweizerisch. Wir haben uns bislang dadurch ausgezeichnet, dass wir immer erst gefragt haben, können wir uns das leisten, bevor wir neue Ausgaben beschlossen haben.

Warum ändert sich das jetzt?

Wir haben gerade eine Doppelkrise erlebt: Corona und den Überfall Russlands auf die Ukraine, der die Energiepreise hat explodieren lassen. Der Staat hat bei Covid schnell geholfen, plötzlich sind Milliarden geflossen. Das hat in den Köpfen einiges verändert, hat eine Anspruchshaltung geschaffen. Aber Covid war eine Ausnahmesituation – bei der 13. AHV-Rente geht es um jährliche Milliardenkosten. Wenn das der Stimmbevölkerung klar wird, bin ich optimistisch, dass die Initiative abgelehnt wird.

Es gibt aber viele Leute, die auf das Geld angewiesen wären.

Altersarmut existiert. Aber wir müssen das zielgerichtet angehen. Dafür gibt es die Ergänzungsleistungen. Allerdings muss sich der Zugang zu den Ergänzungsleistungen verbessern.

Wie soll das geschehen?

Es braucht eine Enttabuisierung der Ergänzungsleistungen (EL). Das hat nichts mit Sozialhilfe oder Wohltätigkeit zu tun. Wer das ganze Leben gearbeitet und trotzdem nicht genug Geld für einen sorgenfreien Lebensabend hat, der hat Anspruch auf Ergänzungsleistungen. Es gibt noch zu viele Rentner, die einen Anspruch hätten, aber darauf verzichten.

Am Versicherungstag haben Sie gesagt: «Wir benötigen eine Reform, um die Altersvorsorge zu stabilisieren.» Warum gerät das System ins Wanken?

Der zentrale Punkt ist: Die Lebenserwartung steigt und die Geburtenrate sinkt. Das bedeutet, dass in der AHV immer weniger Berufstätige für einen Rentner aufkommen – und im BVG die Renten länger ausbezahlt werden müssen. Dazu kommt, dass die Erwartungen für künftige Renditen gesunken sind – unter anderem wegen der tieferen Zinsen.

Die AHV funktioniert nach dem Giesskannenprinzip. Ein Problem?

Nein. Aber die Giesskanne durch eine 13. AHV-Rente zu vergrössern, das ist ein schlechter Ansatz. Ich verstehe die Position der Initianten nicht. All die Millionäre, von denen nun immer die Rede ist, brauchen keine Zusatzrente.

Sind die Firmen überhaupt bereit, die Menschen länger zu beschäftigen?

Das läuft noch nicht optimal. Auch in der Versicherungsbranche nicht, da bin ich selbstkritisch. Es braucht ein generelles Umdenken. Das gehört für mich auch zum Thema Diversität. Wir müssen dafür sorgen, dass ältere Mitarbeitende länger im Arbeitsprozess verbleiben können.

Sie sind auch Präsident der Mobiliar. Arbeiten da viele Angestellte über 65?

Nein. Das ist nicht der Fall. Wir müssen aber die Möglichkeiten für längeres Arbeiten schaffen. Wichtig ist aber auch, dass wir differenzieren. Auf dem Bau sollte niemand länger als bis 60 diese harte Arbeit machen müssen. Andererseits könnten zum Beispiel Akademiker wie ich, die erst später ins Erwerbsleben eintreten, länger als bis 65 arbeiten. Davon profitieren alle: Die AHV, die eigene Vorsorge, die Arbeitgebenden und die ältere Generation, die geistig länger aktiv bleibt.

Dieser Artikel wurde zuerst im Wirtschaftsressort des «Blick» veröffentlicht.