Der Ort, den manche noch immer die Hölle nennen, liegt jenseits des Flusses. Es dauert nur wenige Minuten, bis man die stählerne Brücke überquert hat. Die Strecke ist frei an diesem Morgen – kaum jemand will in das Viertel hinein, fast alle fahren hinaus. Sie pendeln zum Arbeiten in andere Teile der Stadt.

«Bei uns ist ja kein Geld zu holen», sagt der Mann am Steuer des Taxis. Er ist hier, am Ende der Brücke, aufgewachsen. Wer dort aussteigt, betritt eine triste Welt: rechts ein Güterbahnhof, die Gleise halb überwuchert, links eine Kreuzung, an der sich zwei Schnellstrassen treffen, dazwischen Backsteinhäuser, braun, mit rostigen Feuerleitern an den Fassaden. Die Lastwagen der Müllabfuhr dröhnen vorbei, sie bringen ihre stinkende Fracht auf eine nahe gelegene Deponie. Ein Drittel des Abfalls, den die Bewohner New Yorks produzieren, landet in der Gegend jenseits des Harlem River: im Süden der Bronx.

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Noch immer das ärmste Stadtviertel

Die Bronx, in den 70er- und 80er-Jahren wegen ihrer Bandenkriege, den Drogen und den vielen Toten verrufen, ist noch immer das ärmste Viertel New Yorks. Im benachbarten Stadtteil, in Manhattan, sprechen sie vom «dreckigen Hinterhof der Stadt», einer «No-go-Zone» oder gleich der «Hölle», weil sie noch die Bilder vor Augen haben, wie auf den Strassen einst Mülltonnen und Autos brannten.

Es gibt in der Bronx noch immer mehr Räuber und Mörder als überall sonst in der Stadt. Zudem sind viele Menschen krank, Asthma, weil die Fabriken so viele Abgase in die Luft pusten. Das New York aus den Reiseführern erscheint einem hier wie ein ferner Ort. Die glitzernden Wolkenkratzer sind Schemen, die sich blass am Horizont erheben.

Gesicht der «Hölle» im Wandel

Und doch sind die finsteren Zeiten vorbei. Im Süden, zwischen all den Schloten und Schienen, soll etwas Schönes entstehen. Investoren bauen Luxuswohnungen, legen Parks an, eröffnen Gourmet-Restaurants. Das Gesicht der «Hölle» verändert sich gerade rasant.

In die Bronx zogen bisher oft jene, die in anderen Teilen New Yorks keinen Platz mehr fanden. Die Menschen, die in der Innenstadt Hotdogs verkaufen, Busse fahren oder Wohnungen putzen, die also für ihr Funktionieren sorgen. Sie können sich die rasant steigenden Mieten dort oft nicht mehr leisten. Die Bronx war so etwas wie die letzte Zuflucht vor der allgegenwärtigen Gentrifizierung. Bis dorthin hatte es der Wandel nie geschafft.

«Place to go»

Nun aber gibt es am Ufer des Harlem River plötzlich Cafés, die veganen Matcha Latte verkaufen. Yogastudios und Ateliers entstehen, Touristen kommen. Die «New York Times» veröffentlichte kürzlich eine Liste mit 52 Orten auf der Welt, die man gesehen haben muss: Nummer 51 war die Bronx. Das Viertel meiden? Für die Zeitung ist es nun ein «Place to go».

Und bald folgen die Luxusapartments. Zwei New Yorker Immobilientycoone haben im Süden der Bronx Grundstücke für 58 Millionen Dollar gekauft. Sie wollen dort sieben Wohntürme bauen, 25 Stockwerke hoch, mit Schwimmbädern, Weinbars und einem Wellnessbereich für Hunde. Wo früher Frachtschiffe beladen wurden, soll demnächst New Yorks obere Mittelschicht leben. 1400 Wohnungen sind vorgesehen, der Kaufpreis für zwei Zimmer dürfte jenseits von 600’000 Dollar liegen. Die Gentrifizierung, so scheint es, erreicht die letzten Winkel der Metropole.

Ärmere Bewohner werden verdrängt

«Früher war die Bronx eine Bastion der Arbeiter», sagt Pierina Ana Sanchez von der Regional Plan Association, die die Planungsbehörden der Stadt berät. «Jetzt kommen die Besserverdienenden.» Junge Banker, die sich Manhattan oder Brooklyn noch nicht leisten können. Werbeleute, denen die anderen Viertel zu spiessig geworden sind.

«Sie können im Süden der Bronx ein gutes Leben führen und sind zugleich nah am Herzen der Metropole», sagt Sanchez. «Das ist die Erfolgsformel des Stadtteils.» Ärmere Bewohner hingegen würden verdrängt, müssten die Gegend am Harlem River verlassen und weiter hinausziehen. Die Bronx, einst das Land der Gangs, wird zum Kiez der Millennials.

Die sieben Türme, die die Immobilienfirmen Somerset Partners und Chetrit Group geplant haben, sind das grösste Wohnungsbauprojekt der Bronx seit 30 Jahren. Wie es aussieht, ist das erst der Anfang. Das Unternehmen L+M Development Partners will bis 2022 den «Bronx Point» hochziehen, einen Giganten mit 1055 Apartments, einem Food-Court und einem Hip-Hop-Museum.

Mieten um 15 Prozent gestiegen

Das Unternehmen Tahoe Development plant auf dem Grund einer alten Fabrik «The Joinery», ein sechsstöckiges Luxusgebäude, in dem die Wohnungen durchschnittlich eine halbe Million Dollar kosten sollen.

Will man die Gentrifizierung der Bronx mit einer Zahl beschreiben, dann ist es die 15. Um 15 Prozent sind die Mieten im Süden des Viertels vergangenes Jahr gestiegen – nirgendwo sonst in der Stadt war es auch nur annähernd so viel. Das ergab kürzlich eine Untersuchung der «New York Times» und des Wohnungsportals Zumper. In den angesagtesten Gegenden Brooklyns legten die Mieten 2016 um zehn Prozent zu, in boomenden Gebieten Manhattans um acht Prozent.

Ob der Wandel der Bronx eine gute Sache ist oder eine schlechte, hängt davon ab, wen man fragt. Viele Bewohner fürchten, dass sie bald auf der Strasse leben. Wohin, fragen sie, solle es sonst gehen, wenn selbst der letzte Zufluchtsort zu teuer wird?

Investoren sehen Aufwertung

Die Investoren hingegen sprechen von einer Aufwertung des Quartiers. «Gentrifizierung bringt den Menschen auch viel Positives», sagt der Immobilienmanager Robert Nelson. «Es gibt plötzlich neue Geschäfte, neue Bars, neue Parks, die Bürger bekommen mehr Auswahl.»

Tatsächlich soll um die sieben Wohntürme herum eine Gartenlandschaft entstehen, 2500 Quadratmeter gross, die für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Die Stadtverwaltung lässt in der Gegend neue Schulen und Krankenhäuser bauen. Strassen und Fussgängerwege sollen erneuert werden.

Die bisherigen Bewohner der Bronx glauben den Versprechungen nicht, dass am Ende alle etwas davon haben. Sie wollen wollen keine Yogastudios, kein Hundewellness und keinen Matcha Latte. Sie wollen, dass in der Bronx alles bleibt, wie es ist. Und sie sind offenbar bereit, dafür zu kämpfen.

«Take Back the Bronx»

In einer Sommernacht vor zwei Jahren begannen sie, aufzubegehren. Da hatte Keith Rubenstein, Gründer von Somerset Partners, zu einer Party eingeladen, um Werbung für seine Türme zu machen. Sie fand unter einer Brücke statt, eine Band spielte Hip-Hop, vor der Bühne brannte Müll. Es war der Versuch, mit dem alten Image der Bronx zu spielen. Rubenstein wollte die dunkle Vergangenheit romantisieren. Die Bewohner waren ausser sich.

Sie sind es bis heute. Erst kürzlich zogen wieder Hunderte protestierend durch die Strassen. Inzwischen haben sich ganze Gruppen gebildet, um den Wandel aufzuhalten. Ihre Namen klingen nach Klassenkampf, eine heisst «Take Back the Bronx». Das Ziel der Menschen hier am Harlem River, am anderen Ende der Brücke, scheint klar: Sie wollen die Bronx verteidigen, mit allem, was sie haben. Ihre Bronx.

Dieser Artikel erschien zuerst in der «Welt» unter dem Titel: «Das Land der Gangs wird zum Kiez der Millennials».