China-Experte Michael Pettis: Woran Chinas Wirtschaft krankt

In China stellt die Kommunistische Partei in Peking an ihrem 22. Parteikongress die strategischen Weichen für die Zukunft. Vor allem die wirtschaftliche Entwicklung des Landes hat für die ganze Welt grosse Bedeutung. Kaum jemand kennt die ökonomische Situation und die internationalen Zusammenhänge so gut wie der in Peking lehrende Finanzprofessor Michael Pettis. Der Amerikaner warnt seit Jahren vor den Folgen des chinesischen Wirtschaftswunders, das seiner Meinung nach vorbei ist. China müsse endlich die Wirtschaft besser ausbalancieren und mehr Konsum zulassen. Die «Handelszeitung» hat mit dem Professor ausführlich darüber gesprochen. Über die Null-Covid-Strategie der Regierung sagt er lediglich, dass er auch nicht wisse, wann die Massnahmen gelockert würden, und das Ganze extrem frustrierend sei. Der Internationale Währungsfonds hat die Schätzung für das chinesische BIP-Wachstum 2022 auf 3,2 Prozent gesenkt – das liegt weit unter der von der Regierung angestrebten Rate von 5,5 Prozent. Wie schlecht steht es um die chinesische Konjunktur? Die Wirtschaft wächst so langsam wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Das hat tiefgreifende langfristige Gründe und wird durch die kurzfristigen Probleme wie Covid-19, die steigenden Energiepreise und den starken Dollar verschärft. Was ist denn Chinas tiefgreifendes, langfristiges Problem? Es ist das alte, investitionsgetriebene Wachstumsmodell, das an seine Grenze gestossen ist. Seit Jahren schon sollte China die Investitionen zugunsten des Konsums reduzieren.Handelsexperte mit Herz für Indie-Rock Name: Michael Pettis Alter: 64 Position: Professor für Finanzen an der Guanghua School of Management der Peking University in Peking. Ausbildung: Studium der Internationalen Beziehungen und der Betriebswirtschaftslehre an der Columbia University in New York. Karriere: Pettis begann seine berufliche Laufbahn bei Manufacturers Hanover (heute JPMorgan Chase) als Wertschriftenhändler im Bereich Staatsanleihen. Von 1996 bis 2001 war er bei der Investmentbank Bear Stearns für das Kapitalmarktgeschäft in Lateinamerika verantwortlich. Vor seinem Wechsel an die Guanghua School of Management 2004 war er zwei Jahre lang Finanzprofessor an der Tsinghua-Universität. Er hat mehrere Bücher geschrieben, zuletzt über den Zusammenhang zwischen Kapital- und Handelsströmen und nationalen Verteilungskämpfen («Trade Wars are Class Wars»). Er verfasst zudem als Senior Associate des Washingtoner Think-Tank Carnegie Endowment for International Peace regelmässig Beiträge zu China und internationalen Handelsfragen. Pettis führt ein eigenes Musiklabel namens Maybe Mars und war Mitgründer des unterdessen geschlossenen Pekinger Rockmusikclubs D-22. Könnten Sie das genauer ausführen? Chinas rasante wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen vierzig Jahre basierte auf einem Wachstumsmodell, bei dem die Investitionen im Vordergrund stehen. Finanziert werden sie nicht mit ausländischem Kapital, sondern indem die inländische Sparquote möglichst hoch gehalten wird. Hat China dieses Entwicklungsmodell erfunden? Wir haben es schon zuvor gesehen: Es ist das gleiche Modell, das die Sowjetunion in den 1950er und 1960er Jahren angewandt hat und damit so schnell wuchs, dass viele Ökonomen davon ausgingen, dass die Sowjetunion die USA wirtschaftlich überholen würde. Auch Brasilien galt dank diesem Entwicklungsmodell in den 1960er Jahren als Wirtschaftswunder. Ein weiteres Beispiel war in den 1970er und 1980er Jahren Japan, das auf dem Weg zur führenden Wirtschaftsmacht war. Es scheint also durchaus ein Erfolgsmodell zu sein. Das investitionsgetriebene Wachstumsmodell verhilft in der Anfangsphase der Entwicklung zu enormen Wachstumsraten, wenn der Investitionsbedarf gross ist. China war 1970 nach Dekaden mit Kriegen und Umstürzen heruntergewirtschaftet und hatte dringend Investitionen nötig. Japan musste nach dem Krieg die ganze Infrastruktur, Städte und Fabriken wieder aufbauen. Auch Brasilien hatte in den 1960ern als relativ armes Land einen riesigen Investitionsbedarf. China aber hatte das Problem des Investitionsdefizits extrem schnell gelöst und hat diese hohen Investitionen längst nicht mehr nötig. Wann ist der Punkt erreicht, an dem die Devise «Wachstum durch mehr Investitionen» nicht mehr funktioniert und sogar schädlich ist? Wenn die Kapazität, die Investitionen zu absorbieren, erreicht ist und es zu einer Fehlallokation von Kapital kommt. Dann sind die Investitionen nicht mehr produktiv. Können Sie ein Beispiel für unproduktive Investitionen machen? Eine Brücke über einen Fluss verkürzt Transportwege, eine zweite erhöht die Kapazität und hat noch einen ökonomischen Nutzen. Aber ab einem gewissen Punkt nützt eine zusätzliche Brücke niemandem mehr. Sie führt nicht mehr zu einem Anstieg des BIP, die Investition ist unproduktiv. Diese Entwicklung ist in China nicht nur im Bereich der Transportinfrastruktur zu beobachten, sondern auch in der Industrie und im Logistiksektor. Mit welchen Folgen? Wenn die Investitionen nicht mehr produktiv sind, beginnt die Schuldenquote zu steigen. Schon in den 1990er und 2000er Jahren nahmen die Schulden in China bereits deutlich zu, doch niemand war beunruhigt, weil gleichzeitig das BIP kräftig anstieg. Aber sobald Kapital am falschen Ort eingesetzt und weiter investiert wird, steigt das BIP nicht mehr gleich schnell wie die Schulden. In China war dieser Punkt in den Jahren 2006 bis 2008 erreicht. Seither wachsen die Schulden schneller als das BIP. Je mehr investiert wird, desto mehr Ressourcen werden verschwendet und desto schneller nimmt die Verschuldung noch zu. Kann man das mit Zahlen untermauern? Die Investitionsquote in China ist unglaublich hoch. Gemäss Weltbankdaten liegt der Anteil der Investitionen am BIP im globalen Durchschnitt zwischen 24 und 26 Prozent. In einer hoch entwickelten Volkswirtschaft wie der Schweiz beträgt der Anteil etwas weniger als 20 Prozent, in schnell wachsenden Schwellenländern etwa 30 Prozent. In China aber beträgt die Investitionsquote 42 Prozent, und in den letzten zwei Jahrzehnten war sie noch deutlich darüber. Wie lautet die Lösung? China muss die Wirtschaftsstruktur ausbalancieren. Das heisst: die unproduktiven Investitionen herunterfahren und durch etwas anderes ersetzen. Eine Option wäre ein noch grösserer Handelsbilanzüberschuss, aber China ist zu bedeutend, als dass der Rest der Welt diesen absorbieren könnte. Die bessere Option ist die Stärkung des Binnenkonsums. Und wo steht China in diesem Ausbalancierungsprozess? China spricht schon seit fünfzehn Jahren vom Rebalancing, aber viel ist nicht passiert. Der Konsum nimmt zwar schon seit Jahren zu, aber dessen Anteil am BIP ist immer noch bescheiden, weil die Haushalte so wenig vom Gesamtkuchen erhalten. Für jede 100 Dollar an BIP, die in den USA produziert werden, bekommen die Haushalte dort 80 Dollar. In China landen von 100 nur 55 Dollar bei den Haushalten. Deshalb ist der Konsum so schwach. Und das ist das tiefgreifende Problem der Volksrepublik. Und was sollte Peking zur Stärkung des Konsums tun? Im Grundsatz geht es darum, einen Teil des Vermögens, das die Städte und Gemeinden über die vergangenen Jahren angehäuft haben, an die Haushalte zu verteilen. Bevorzugt an die ärmeren Bevölkerungsschichten, weil diese das zusätzliche Einkommen für den Konsum ausgeben. Welche konkreten Massnahmen sind sinnvoll, um den Konsumanteil zu erhöhen? Man sollte zum Beispiel das restriktive Hukou-Wohnsitz-System abschaffen, was die Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter sofort besser stellen würde. Ebenso sollten mehr günstige Wohnungen für die Ärmeren gebaut werden – statt Luxusapartments, die nur als Anlage genutzt werden, aber leer stehen. Man könnte auch die Löhne erhöhen oder dafür sorgen, dass die Banken mehr Zinsen auf die Bankeinlagen zahlen. Welche Rolle spielt dabei auch die Verbesserung der sozialen Sicherung? Das ist eine Möglichkeit – schliesslich werden damit Einkommen von der Regierung an die Bürger und Bürgerinnen transferiert, denn wer keine Angst mehr vor Altersarmut oder Einkommensausfall bei Invalidität hat, muss weniger sparen, und es bleibt mehr für den Konsum übrig. Aber in China gibt es eben bessere Wege, um den Konsumanteil zu erhöhen. Warum wurde bislang nichts umgesetzt? Woran scheitert das notwendige Rebalancing? So eine Umstellung ist nicht einfach, weil die ganze Wirtschaft und die politischen Institutionen um dieses Modell herum gebaut sind und viele Gruppen davon profitieren und kein Interesse an einer Veränderung haben. Sie sind an hohe Wachstumsraten gewöhnt und wollen diese weiterhin erreichen. Was würde ein Rebalancing der chinesischen Wirtschaft für den Rest der Welt bedeuten? China steuert auf langfristig niedrigeres Wachstum zu, das haben mittlerweile alle begriffen. Aber für den Rest der Welt ist nicht relevant, wie schnell China wächst, sondern wie sich seine Handelsbilanz ändert. Bei einem Rebalancing wird der Handelsüberschuss wahrscheinlich schrumpfen, so wie damals in Japan. Aber das war damals kein Problem für die Weltwirtschaft, nur für einzelne Industrien. Wenn China mehr konsumiert statt investiert, hat das für die anderen Volkswirtschaften unterschiedliche Folgen. Deutschland, das Kapitalgüter verkauft, wird darunter leiden. Aber Länder, die Käse und Wein exportieren, werden besser dastehen. Die Zahlungsausfälle mehrerer grösserer Immobilienkonzerne wie etwa Evergrande nähren die Angst vor einer Krise. Wie ordnen Sie die Verwerfungen im Immobiliensektor ein? Von den 42 Prozent des BIP, die Chinas Volkswirtschaft investiert, fällt gut ein Drittel auf den Immobiliensektor. Ähnlich wie bei den Infrastrukturprojekten sind diese Investitionen immer mehr eine reine Geldverschwendung. Es wird geschätzt, dass jede vierte Wohnung leer steht und nur als Geldanlage genutzt wird. Aber eine leere Wohnung hat für eine Volkswirtschaft null Nutzen. Die unproduktiven Investitionen in Infrastruktur und Immobilien sind das grosse Problem Chinas. Das haben mittlerweile die wirtschaftlichen Beraterinnen und Berater der Entscheidungsträger erkannt. Deshalb haben sie letztes Jahr den Immobiliensektor ins Visier genommen, um den Investitions- und Schuldenboom zu bremsen. Das wäre ganz im Sinn des von Ihnen geforderten Ausbalancierungsprozesses? Ja, aber dann war die Regierung geschockt über die volkswirtschaftlichen Auswirkungen, die die Massnahmen hatten. Als Reaktion wurden dafür die Infrastrukturinvestitionen hochgefahren. Wegen Covid konnten die Projekte aber nicht umgesetzt werden. Deshalb ist das chinesische Wirtschaftswachstum so stark eingebrochen, doch nächstes Jahr dürfte das Tempo wieder etwas zulegen, wenn mit der wahrscheinlichen Lockerung der Covid-Massnahmen Infrastrukturprojekte realisiert werden können. Der Kern des Problems ist damit jedoch nicht gelöst. Unter dem Strich fliesst gleich viel in unproduktive Investitionen wie zuvor. Weltweit leiden die Länder unter hoher Inflation, in China liegt sie unter 3 Prozent. Warum ist die Teuerung so gering? Viele Beobachter und Beobachterinnen sehen darin etwas Positives und schreiben es der Geldpolitik zu. Aber nein, die niedrige Inflation ist ein Teil der Schwäche. Inflation entsteht, wenn die Gesamtnachfrage das Angebot übersteigt. Aber China hat es nicht geschafft, die Nachfrage gleichermassen zu stützen wie das Angebot. Die Konsumsausgaben sind in den ersten acht Monaten des Jahres nur gerade 0,5 Prozent gewachsen, während die Industrieproduktion immerhin 3,6 Prozent zugenommen hat. Seit Anfang Jahr hat sich die chinesische Währung Renminbi zum Dollar 10 Prozent abgewertet. Ist diese Schwäche ebenfalls Ausdruck des wirtschaftlichen Kriechgangs? Der Renminbi ist nicht schwach. Es handelt sich mehr um eine Dollar-Stärke. Wenn man den Dollar aus dem handelsgewichteten CFETS-RMB-Index herausrechnet, der für die Zentralbank massgeblich ist, hat sich die chinesische Währung dieses Jahr sogar leicht aufgewertet. Wann wird der Renminbi zu einer Konkurrenz zum Dollar als Weltwährung? Das wird nie passieren. Fünfzehn Jahre nach der Ankündigung der chinesischen Führung, den Renminbi zu einer international wichtigen Währung machen zu wollen, macht er immer noch weniger als 3 Prozent der Transaktionen aus. Das steht in keinem Verhältnis zur Grösse der chinesischen Wirtschaft und zur Rolle als wichtigster Handelspartner. Der Franken wird etwa gleich stark genutzt wie der Renminbi, obwohl die Schweizer Wirtschaft einem Bruchteil der chinesischen entspricht. Warum kommt die Internationalisierung des Renminbi nicht voran? Damit die chinesische Währung international an Bedeutung gewinnt, müssen die Leute den Renminbi halten wollen. Das geschieht, wenn sie jederzeit Geld ins Land bringen und auch wieder abziehen können. So wie es heute in den USA der Fall ist: Jeder und jede kann in New York eine Wohnung kaufen. Sie können Dollars und US-Wertpapiere jederzeit beliebig kaufen und verkaufen. Das geht in China nicht. Weshalb nicht? China will die Kontrolle über die Währung nicht aufgeben. Es will nur die Vorteile einer Internationalisierung, nicht aber die Nachteile. Wenn der Renminbi tatsächlich eine internationale Rolle spielen soll, dann müsste China die Kapitalverkehrskontrollen aufheben, die Interventionen am Devisenmarkt beenden, das Bankensystem liberalisieren und ein Aussenhandelsdefizit zulassen. Aber nichts von dem geschieht, obwohl wir diese Diskussion schon fünfzehn Jahre lang führen. Was hat die globale Akzeptanz einer Währung mit der Notwendigkeit einer negativen Handelsbilanz zu tun? Wenn alle die Währung nutzen und in den Markt investieren wollen, wird das Land automatisch zu einem Netto-Kapital-Importeur. Auf der Kehrseite der Zahlungsbilanz muss die Leistungsbilanz, die zu einem wesentlichen Teil aus der Handelsbilanz besteht, im Minus sein. Typischerweise weisen alle Länder, deren Währungen relativ intensiv genutzt werden, ein Leistungsbilanzdefizit aus, allen voran die USA und Grossbritannien. Und wenn sich China doch für eine richtige Öffnung und eine Internationalisierung des Renminbi entscheidet? Selbst wenn China tatsächlich Schritte in Richtung Liberalisierung der Währung unternehmen würde, würde es noch lange dauern, bis der Renminbi breite Akzeptanz fände. Reiche, die ihre Vermögen schützen wollen, Zentralbanken, die liquide Devisenreserven halten, und Investorinnen und Investoren, die Sicherheit brauchen – sie bevorzugen die offensten Märkte, also die USA, Westeuropa, Australien und Kanada. Diese sich über Jahrzehnte herausgebildete Präferenz und Gewohnheit lassen sich nicht so schnell ändern.

China-Experte Michael Pettis: Woran Chinas Wirtschaft krankt

«Niedrige Inflation in China ist ein Teil der Schwäche»