Gas aus Frankreich? Die Suche der Schweiz nach Lieferanten jenseits von Russland

Der Schock des Kollegen auf der «Handelszeitung»-Redaktion war gross. In einem Brief hatte ihm sein Gasversorger den Tarif ab April durchgegeben. Neu bezahlt er für die Kilowattstunde Erdgas 19,4 Rappen. Noch im Dezember kostete sie nur 10,9 Rappen. «Wegen des Russland-Ukraine-Konfliktes explodierten die Energiepreise seit Jahresbeginn regelrecht», schreiben die Werke am Zürichsee, die den Brief verschickt haben. So wie dem Kollegen aus Küsnacht ZH geht es derzeit vielen. 2022 dürfte ein teures Jahr werden, die Wirren am Gasmarkt schlagen brutal durch. Denn die Preise sind nicht erst wegen des Kriegs in der Ukraine und den Diskussionen um russisches Gas angestiegen. Schon zuvor führten Knappheiten am Energiemarkt und eine gestiegene Nachfrage nach Erdgas zu Kosten-Kapriolen. Doch obwohl in der Schweiz fast überall das gleiche Gas aus den Rohren fliesst, sind die Preise höchst unterschiedlich. Der Zürcher Versorger Energie 360° hat den Gaspreis für einen typischen Eigenheimbesitzer auf knapp 19 Rappen angehoben, während in Basel weiterhin der Tarif von gut 11 Rappen gilt (Details siehe Grafik). Und während in Bern, Basel und Zürich die Tarife im vergangenen Jahr bei etwa 9 Rappen lagen, kostete das Gas in St. Gallen zur gleichen Zeit bloss gut 7 Rappen. Riesige Unterschiede zeigt auch die halbwegs aktuelle Statistik des Preisüberwachers vom Februar. Die Stadtwerke Winterthur verkauften das Gas einem typischen Einfamilienhaus-Besitzer für 6,7 Rappen (ohne Mehrwertsteuer), während man in Appenzell schon damals 17,7 Rappen bezahlen musste. Der Markt ist aus den Fugen geraten, und je nach Anbieter kam das etwas früher oder später bei Konsumentinnen und Konsumenten an. Hintergrund der Preiserhöhungen ist der Krieg in der Ukraine. Nicht nur fliesst ein grosser Teil des russischen Gases ausgerechnet durch Pipelines im Kriegsgebiet in der Ukraine nach Westeuropa. Auch stehen Liefer- oder Abnahme-Boykotts zur Diskussion, seit Europa Russland mit scharfen Sanktionen belegt hat. Keiner weiss, wie lange das russische Gas noch fliesst. Und Unsicherheit ist immer teuer. Etwa 80 Prozent des Erdgases importierten die Schweizer Versorger zuletzt aus Deutschland. Im aargauischen Wallbach wird das Gas ins Schweizer Netz eingespeist – und in eine fette Leitung, die quer über die Alpen weiter nach Italien führt. Deutschland bezieht sein Gas zur Hälfte direkt aus Russland. Und so kommt die Schweiz aktuell auf einen Russland-Anteil von rund 40 Prozent (siehe Grafik). Seit dem Krieg wird diese Abhängigkeit von Russland zunehmend kritisch diskutiert. Und so schwenken die Versorger jetzt auf Alternativen um. «Wir sind bestrebt, Alternativen zu finden, beispielsweise über Frankreich», sagt Yves Weisskopf von den Industriellen Werken Basel (IWB). Auch Rainer Schöne von Energie 360° bestätigt ein Umdenken. «Wir haben im April grosse Mengen aus Frankreich bestellt.» Die Gasflüsse werden sich verschieben, sagt Schöne. Zahlen zum Grenzübergang Oltingue im Elsass zeigen: Seit Anfang Jahr floss bereits deutlich mehr Gas aus dem französischen Netz in die Schweiz. Waren es 2021 insgesamt 17,6 Millionen Gigawattstunden, so steht der Zähler allein in den wenigen Monaten seit Jahresbeginn 2022 bereits bei 14,6 Millionen. Der grösste Teil davon dürfte allerdings direkt nach Italien weitergeströmt sein. Denn auch die Nachbarn im Süden sind grosse Importeure, unter anderem dank ihren Gaskraftwerken. Und auch Italien importiert traditionellerweise viel Gas aus Russland. Für die Konsumentinnen und Konsumenten bedeutet der Wechsel auf Alternativen höhere Preise. Bisher habe man Gas aus Deutschland beschafft, weil das der günstigste Handelsplatz war, sagt Energie-360°-Manager Schöne. Auch dank billigem Gas aus Russland. Man verkauft, was man vom Lieferanten günstig geliefert bekommt Über die politische Komponente hat sich bis vor kurzem kaum jemand Gedanken gemacht. Das dürfte auch mit den Beschaffungsstrukturen zu tun haben. In weiten Teilen gilt das Team-Prinzip: Toll, ein anderer machts. Der Markt für Gas ist kaum geöffnet, für die meisten Kunden gelten Monopolstrukturen. Zudem gibt es noch immer Gasversorger, die sich ganz oder teilweise auf Vorlieferanten verlassen, die für sie das Gas besorgen. Deren Quellen haben sie kaum hinterfragt. Diese Strukturen spiegeln sich auch in den Preisen: Anders als beim Strom müssen die Gastarife nicht im Voraus bewilligt werden. Ein Bundesgesetz, das eine Unterstellung wie bei der Elektrizitätskommission Elcom vorsieht, wird seit Jahren aufgeschoben. «Es gibt kein Gasversorgungsgesetz, und damit auch keine ‹Encom›», sagt IWB-Manager Weisskopf. Und so pflegen die Regionalmonopolisten höchst unterschiedliche Preisregimes. Die Basler IWB geben an, den Preis langfristig zu glätten, um grosse Ausschläge zu vermeiden. Mal sind die Preise etwas über den Beschaffungskosten, mal darunter. Die Zürcher Energie 360° hingegen bewegt sich «marktnah». Weil zudem auch die Beschaffung in Zürich eher kurzfristig geschieht, führte das zur «Preisexplosion» in Küsnacht. «Dafür sinken die Preise bei uns auch schneller wieder», so Manager Schöne. Einzige Kontrollinstanz ist der Preisüberwacher, der eingreifen kann, wenn die Preise über längere Zeit zu hoch sind. Das ist vor kurzem in Bern geschehen. Hinzu kommen politische Bremsen. In Basel muss jede Tarifänderung durch die Kantonsregierung bewilligt werden. Was die seltenen Anpassungen wohl auch erklärt. Keiner weiss, woher das Gas kommt Der Gasmarkt hinkt dem Strommarkt aber auch in einem wichtigen Punkt hinterher: Es gibt kein System mit Herkunftsnachweisen. Während beim Strom jede Kilowattstunde zumindest buchhalterisch einem Kraftwerk zugewiesen werden muss, kann beim Gas bloss im Nachhinein geschätzt werden, woher es kam. Wurde es aus Deutschland eingespeist, war es wohl zur Hälfte aus Russland. Genauer wissen es die Gasversorger bis heute nicht. Wer Putin boykottieren will, kann nichts anderes tun, als aus einem Land zu importieren, das Putin ebenfalls boykottiert. Langfristige Bezugsverträge direkt beim Lieferanten unterhalten die Schweizer Gasversorger schon lange nicht mehr. Das erschwert die Diskussion um Russland-Sanktionen. Faktisch fährt die Schweiz im Seitenwagen Deutschlands mit. Also einfach voll auf Frankreich umstellen? Theoretisch könnte man einen grossen Anteil des Schweizer Bedarfs schon aus Frankreich decken, sagt Energie-360°-Manager Schöne. Das Problem sei aber der Export aus Frankreich in die Schweiz. Es liegt nicht an der Physik. Die Grenzleitung im beschaulichen Oltinge führt direkt zur Transitleitung nach Italien und ist für grosse Mengen ausgerichtet. Bei Vollast transportiert sie doppelt so viel Gas, wie die ganze Schweiz im Schnitt verbraucht. Das Problem sei, an die entsprechenden Transportrechte zu kommen, sagt Schöne. Vergeben werden diese auf der französischen Seite. Wer Gas importieren will, muss sich Grenzübergangskapazitäten ersteigern, und das gehe – anders als in Deutschland – nur kurzfristig. «Wir würden gerne schon Gas für 2023 beschaffen, aber dafür gibt es noch ungenügende Kapazitäten», sagt Schöne. Der Markt müsse noch liquider werden. Schöne appelliert an Bern: «Es würde sich lohnen, wenn der Bund das auf den Radar nehmen würde.» Man müsse eine Situation wie damals bei den Covid-19-Schutzmasken verhindern, als Deutschland Lieferungen in die Schweiz blockierte. «Gas beschaffen können wir, und wir sind zuversichtlich, dass wir das auch können, falls Russland nicht mehr liefert», sagt Schöne. «Aber wir brauchen auch die Transportmöglichkeiten.» Das Bundesamt für Energie scheint derzeit aber andere Baustellen zu haben. Grenzkapazitäten seien kein Thema, sagt Pressesprecherin Marianne Zünd. Was sie nicht sagt: Ohne ein zeitgemässes Gasmarkt-Gesetz dürfte in Bern kaum einer Lust haben, mit Frankreich über faire Marktzugänge zu verhandeln.

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